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Zur Rolle des Deutschen im Zionismus bis zur Balfour-Deklaration

 

Fragen, die das Dilemma der vielen Sprachen der jüdischen Diaspora betrafen, spielten eine zentrale Rolle im Zionismus – jener Bewegung, welche die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina anstrebte. Seit der Entstehung zionistischer Gruppierungen in den 1870ern und 1880ern rangen deren Mitglieder ständig mit praktischen und ideologischen Fragen hinsichtlich der zu verwendenden Sprache. Für das Hebräische – der historischen Sprache der Juden – empfanden die Zionisten Ehrfurcht, doch im späten 19. Jahrhundert wurde es kaum jemals als Umgangssprache benutzt und war für die meisten Juden Westeuropas unzugänglich. Die große Mehrheit der Juden im Russischen Reich sprach Jiddisch. Dieses jedoch war den meisten westlichen Juden fremd und genoss bei jüdischen Reformern, Intellektuellen und Nationalisten nur geringes Ansehen. Die frühen Zionisten verwendeten daher in unterschiedlichen Regionen und unterschiedlichen politischen Kontexten auch unterschiedliche Sprachen. Das Deutsche war eine dieser Sprachen, doch seine Rolle ging im frühen Zionismus über das rein Funktionale hinaus, und bei Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die deutsche Sprache ein wesentlicher Bestandteil zionistischer Politik geworden. Diese sprachliche Situation war jedoch zugleich mit umfassenderen historischen und politischen Befindlichkeiten verwoben.

Das Deutsche war unter osteuropäischen Juden umstritten. Es wurde zum einen mit den Ideen der Aufklärung, mit westlich orientierten Weltbildern, mit Säkularisierung, religiöser Reform und Assimilation assoziiert. Seine Verwendung als literarische und intellektuelle Sprache wurde daher in der Geschichte der Juden in Zentral- und Osteuropas mit der Transformation der Tradition und der Akkulturation an nichtjüdische Kulturen verbunden. Andererseits erlangten deutsche Zionisten mit Beginn der 1890er Jahre führende Positionen in der zionistischen Bewegung und etablierten dadurch das Deutsche als deren hauptsächlich benutzte Sprache. Für einige Zionisten Osteuropas gefährdete diese sprachliche Ordnung die Bemühungen, hebräische Kultur voranzubringen, und untergrub den Graswurzel-Charakter osteuropäischer zionistischer Aktivitäten. Schließlich muss noch erwähnt werden, dass die wichtigsten ideologischen Texte des Zionismus zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg in deutscher Sprache verfasst waren und sich wesentlich an die damalige politische Ideenwelt anlehnten, die deutsch dominiert war.[1] Dies wirkte sich auf die Rezeption zionistischen Gedankenguts in den verschiedenen jüdischen Gemeinden aus. Das Deutsche war somit in der zionistischen Politik eine gleichermaßen einende wie auch trennende Sprache. Es vereinfachte die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen politischen Gruppierungen der jüdischen Diaspora und ermöglichte die effiziente Kommunikation mittels einer hoch angesehenen Weltsprache. Zugleich aber traten im Hinblick auf das Deutsche als Kommunikationsmedium des Zionismus wesentliche Unterschiede innerhalb der jüdischen Gemeinden und innerhalb der zionistischen Bewegung selbst zu Tage.

 

Die jüdische Aufklärung und das Deutsche als Lingua franca

Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert genoss die deutsche Sprache ein hohes – wenn auch nicht unumstrittenes – Ansehen bei den Juden Osteuropas, die die Prozesse der rechtlichen Emanzipation und kulturellen Integration in den deutschsprachigen Ländern mit Faszination, Bewunderung oder auch Bestürzung verfolgten. Die Vordenker der deutsch-jüdischen Aufklärung, ebenso wie deutsche Staatsmänner und Publizisten, die sich mit dem Status der Juden auseinandersetzten, postulierten, dass es ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu staatsbürgerlicher Gleichheit und kulturellem Fortschritt sei, das Jiddische aufzugeben und sich das Deutsche anzueignen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts diente der Erwerb des Deutschen als Entrée Billet für den Zugang von Juden zu nicht-jüdischen Bildungseinrichtungen und beruflichen Plattformen. Überdies führten jüdische religiöse Reformer in Deutschland und Österreich das Deutsche als Sprache der Predigt und des Gebets ein, und ein Kreis von jüdischen Gelehrten in Deutschland ging in deutscher Sprache der historischen und philologischen Erforschung der jüdischen Kultur – der Wissenschaft des Judentums [Abbildung 1] – nach. Angesichts dieser Entwicklungen und im Kontext des übergreifenden Status des Deutschen als einer hochgeschätzten Sprache der Wissenschaft und Kultur lernten viele junge, nach politischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen strebende Juden aus Osteuropa die deutsche Sprache, welche sich dank ihrer Nähe zum Jiddischen relativ einfach erschloss.

Viele orthodoxe Juden in Europa hingegen sprachen sich gegen das Erlernen des Deutschen aus, da sie dies als eine Abwendung von der jüdischen religiösen Tradition verstanden. Sowohl Befürworter als auch Gegner der jüdischen Aufklärung (Haskalah) betrachteten Deutsch als eine Sprache, die das jüdische Leben verändern und den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft auf die Probe stellen würde.

Die nationalistischen jüdischen Kreise in Osteuropa – zumeist aus der Haskalah hervorgegangen – befassten sich intensiv mit Prozessen linguistischer Assimilation und deren Implikationen für die nationale Geschlossenheit der Juden. So kritisiert etwa Perets Smolenskin (1842–1885) [Abbildung 2] – ein aus dem Russischen Reich stammender und in Wien auf Hebräisch publizierender früher zionistischer Denker – in seinen Schriften der 1870er Jahre assimilatorische Strömungen unter den deutschen Juden. Er griff Moses Mendelssohns [Abbildung 3] deutsche Übersetzung des Pentateuchs von 1783 heraus und behauptete, deren Hauptzweck sei es, Juden an die deutsche Sprache heranzuführen und so deren Abwendung vom Hebräischen Vorschub zu leisten. Mendelssohn habe die Heilige Schrift, den „Gegenstand geistigen Jubels für das Haus Israel, den Schatz seines Glaubens“ zu einem „Diener der deutschen Sprache gemacht“.[2] Nachdem sich die europäischen Juden sukzessive vom Judentum zurückgezogen hatten – wie Smolenskin es sah –, setzte die nationale jüdische Wiedergeburt eine neuerliche Bekräftigung des geistigen Bandes zwischen den Juden und ihrer Sprache, dem Hebräischen, voraus. Gleichwohl erkannte Smolenskin den Nutzen von deutschsprachigen Verteidigungsschriften des Judentums an, soweit diese den anti-jüdischen Agitatoren in deren eigener Sprache entgegentraten und so „die Schande Israels tilgten und seine Würde erhöhten.“ Smolenskin griff die linguistische Entscheidung jener deutsch-jüdischen Gelehrten, die am Deutschen festhielten, an, gestand aber zugleich, dass solchen Entscheidungen politisches Potential innewohnte. Diese ambivalente Haltung gegenüber der – einerseits als notwendig erachteten, andererseits beunruhigenden – Präsenz des Deutschen im modernen jüdischen Leben sollte den jüdischen Nationalismus in Osteuropa weiterhin prägen.

Von Emanzipation zu ‘Autoemanzipation!’

Die Vorteile zu kommentieren, die es hatte, in deutscher Sprache für politische Zwecke zu schreiben, war eine Sache für die osteuropäischen Juden. Eine andere war es, das Deutsche selbst zu verwenden. Natürlich hatten deutsche Juden schon früher Texte publiziert, welche die jüdische Nationalität bestärkten. Rom und Jerusalem: Die letzte Nationalitätsfrage (1862) von Moses Hess [Abbildung 4] war eines der bemerkenswertesten Beispiele dafür.[3] Über dieses Buch wurde in den späten 1890ern Jahren aufgeregt diskutiert; dreißig Jahre zuvor war es weitgehend ignoriert worden. Die erste von einem osteuropäischen jüdischen Nationalisten auf Deutsch verfasste Schrift war das anonyme Pamphlet Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden (1882)[4] [Abbildung 5]. Auslöser für diese Publikation war die Welle anti-jüdischer Pogrome im südwestlichen Russland. Sein Verfasser war Leon Pinsker (1821–1891) [Abbildung 6], ein Mediziner aus Odessa, der bis dahin noch keinen politischen Text auf Deutsch publiziert hatte. Er hatte an einer russischen Universität studiert und von 1848–1849 eine zusätzliche medizinische Ausbildung in Deutschland erhalten. In den 1860ern trat er für die Integration russischer Juden in die russische Gesellschaft als eine selbständige nationale Gruppe ein. Nach den Pogromen von 1881 und 1882 bereiste Pinsker mehrere Städte in Westeuropa und traf dort verschiedene jüdische Intellektuelle und Politiker. Während seines Aufenthaltes in Berlin entschloss er sich, seine Ansichten in einem Pamphlet auf deutscher Sprache niederzulegen und zu verbreiten.

Für Pinsker lag die Wurzel der Krise in der Diasporaexistenz der Juden selbst, die sich als religiöse Minderheit mit bis ins Mittelalter zurückreichenden Vorurteilen konfrontiert sahen. Die Ablehnung der Juden und die durch sie ausgelösten Ängste der nicht-jüdischen Gesellschaften waren Pinskers Ansicht nach die Konsequenz der jahrhundertelangen Präsenz der Juden als kulturell Fremde in den nicht-jüdischen europäischen Mehrheitsgesellschaften. Pinsker folgte der Ausdrucksweise seiner Profession, als er das Verhältnis von Nicht-Juden und Juden mit dem Terminus „Judäophobie“ beschrieb. Darunter verstand er einen pathologischen Zustand, der von einer Generation auf die nächste übertragen wurde. Diese Situation würde unweigerlich fortbestehen, solange die Juden nicht ihre eigene Nationalität proklamierten – so Pinsker. Eine jüdische „Autoemanzipation als eine Nation“, würde den Erwerb eines geeigneten Territoriums erfordern, in welchem die Juden, die bisher in Armut und Elend gelebt hatten, arbeiten, sich verteidigen und ihre Würde und ihre Selbstachtung wiedergewinnen konnten. Erst eine solche territoriale Selbständigkeit würde es Juden auf der ganzen Welt erlauben, sich selbst als gleichgestellt anzusehen, sowie von Nicht-Juden als ebenbürtig akzeptiert zu werden. Die Überzeugung der Juden im Westen, die jüdische Emanzipation könne erreicht werden, indem man vom Staat die rechtliche Gleichstellung einklage, gehe in die Irre, da eine gesetzliche Emanzipation noch keine gesellschaftliche Emanzipation garantiere. Pinskers Pamphlet war in säkularem Ton gehalten, distanzierte sich von religiösen und messianischen Argumenten für den jüdischen Nationalismus und berief sich stattdessen auf das zeitgenössische Prinzip nationaler Selbstbestimmung. In dieser Hinsicht unterschied sich ‘Autoemancipation!’ vom osteuropäischen Nationalismus, in dem sich eine dominante Strömung religiöser und messianischer Rhetorik bediente.

Für Pinsker konnte die Krise der Juden in Russland nicht ohne grenzüberschreitendes politisches Handeln gelöst werden. Die Wahl der Sprache, mit der er sich dann direkt an die deutschsprachigen Juden wandte, spiegelte diese Überzeugung wider.[5] Auch die Rezeption des Pamphlets wurde durch seine Sprache bestimmt. Ludwig Philippsohn (1811–1899) [Abbildung 7] – ein deutscher Rabbiner und Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judenthums [Abbildung 8] – beschrieb Pinkers Ideen als „hohe, mehrfach hohle Phrasen“.[6] Etwas substantieller führte Philippsohn weiter an, das Pamphlet bringe deutlich ein russisches Verständnis der jüdischen Geschichte zum Ausdruck – eines, welches nur Gewalt und Unterdrückung sehe, aber die Errungenschaften und den Fortschritt in den Lebensverhältnissen der Juden übersehe. „Wir werden uns deshalb in unsrer Anschauung nicht russifizieren lassen.“[7], ließ er seine deutschen Leser wissen. Philippsohn glaubte auch ein gefährliches Element in Pinkers deutscher Veröffentlichung zu entdecken, nämlich die Art und Weise, wie sich in dieser ein Widerhall der in Deutschland von den Antisemiten im öffentlichen und politischen Leben erhobenen Anschuldigungen fand. Er stand insbesondere Pinkers nationalem Weltbild kritisch gegenüber, ebenso wie seiner Vorstellung der Juden als immerwährenden Fremden und zwangsläufiger Zielscheibe des Misstrauens und der Feindseligkeit. Philippsohn behauptete, dass einige der Aussagen, „die wir hier aus dem Munde eines 'russischen Juden' hören,“ für gewöhnlich „nur aus der Feder der Antisemiten fließen [...].“[8] Ähnliche Bedenken wurden von dem jüdischen Gelehrten Moritz Steinschneider (1816–1907) geäußert, welcher schrieb, „diese Art von Propaganda“ durch Pinsker sowie andere Befürworter der jüdischen Einwanderung nach Palästina sei „gefährlicher als der Antisemitismus selbst.“[9]

Die russischen jüdischen Nationalisten hingegen priesen Pinskers Verwendung einer „Sprache des Lehrens“ und seine „edlen Worte“ als die Grundtugenden seines Pamphlets.[10] In den Vereinigten Staaten schrieb Emma Lazarus von „einem sehr bemerkenswerten Pamphlet, gerade in Deutschland erschienen und von einem russischen Juden verfasst“. Sie lobte die „feurige Eloquenz“ des anonymen Verfassers und „die Tiefe und Inbrunst seiner Überzeugung,“ und fand, dass „sein Ruf nach einer Nationalität ein bedeutungsvolles Indiz für den Geist der Zeit“ sei.[11] In seiner in Hebräisch verfassten Rezension zog Smolenskin die Originalität von Pinkers Pamphlet in  Zweifel: „Uns ist hier nichts wirklich Neues offenbart worden, zumindest keinem, der Hebräisch kann und weiß, was in den letzten Jahren in Hebräisch geschrieben wurde, noch einem, der die Stimmung der Mehrheit der Juden in Russland kennt, deren Stimme hierin nachhallt.“[12] Allerdings räumte Smolenskin ein, dass Autoemancipation! in gewisser Hinsicht doch ein Meilenstein sei: „Seit die Juden angefangen haben zu sprechen und zu schreiben, seit der Erhebung ihres Geistes bis heute, hat man solche Worte nicht vernommen.“ „Deutsch“, fuhr Smolenskin fort, „war den Vätern der Haskalah das Heiligste, und ihre Geschichte ist die eines Versuchs, Israel für die Nichtjuden verstummen zu lassen, seine Erinnerungen in Vergessenheit geraten zu lassen, seine ruhmreichen Tempel der Zerstörung preiszugeben.“ Für Smolenskin lag das Originäre in Pinskers Text darin, dass er sich gegen die assimilatorische Funktion wandte, welche das Deutsche in den zurückliegenden Jahrzehnten gehabt hatte. Autoemancipation! war somit ein „ein wirkmächtiger Schlüssel, um verschlossene Tore zu öffnen.“ Aus Smolenskis Sicht hatte Pinsker „in deutscher Sprache verkündet, dass wir ein Volk sind, und dass wir unserer Existenz Rechnung tragen müssen, indem wir uns einen Zufluchtsort sichern. Und dafür loben wir den Verfasser und sprechen ihm unseren Dank aus.“

Pinskers Leser schenkten seiner Sprachwahl also insofern Beachtung, als sie verstanden, dass er der innerhalb der russischen Juden herrschenden nationalistischen Strömung Gehör verschaffte, diese aber zugleich in der Sprache des zeitgenössischen europäischen Nationalismus vermittelte und sich dabei an die deutschen Juden wandte. Pinskers Wahl der Sprache gründete auf pragmatischen Überlegungen, doch war sie von wichtiger ideologischer Bedeutung, indem sie ihn befähigte, wirksamer gegen liberale Tendenzen zu polemisieren, die Voraussetzungen jüdischer Emanzipation in deutschsprachigen Gebieten zu hinterfragen und für ein koordiniertes politisches Handeln der Juden zwischen Ost und West einzutreten.

 

Von der Autoemanzipation zur Selbstemanzipation

Kurz nach seiner Veröffentlichung wurde Autoemancipation! ins Russische, Hebräische und Jiddische übersetzt und erlangte bei jüdischen Nationalisten in Osteuropa kanonischen Status. Hovevei Zion [„Zionsliebe“] – eine Dachorganisation unterschiedlicher Gruppen von Aktivisten, welche die Immigration nach Palästina propagierten, – ernannte Pinsker zum Präsidenten der Bewegung und berief ihre erste internationale Konferenz nach Kattowitz, in Deutschland, ein. Die Konferenz wurde überwiegend in deutscher Sprache abgehalten, und die Protokolle wurden in Hebräisch und Deutsch veröffentlicht.[13] Ein Jahr danach wurde in Wien das national-jüdische Magazin Selbst-Emancipation durch Mitglieder der jüdischen Studentenorganisation „Kadimah“ ins Leben gerufen. Dieser Organisation gehörten jüdische Studenten aus Osteuropa, aber auch der in Österreich geborene Nathan Birnbaum (1864–1937) [Abbildung 9] – der Herausgeber und wichtigste Autor der Zeitschrift Selbst-Emancipation – an. Dieser Titel stellte eine Hommage an Pinskers Pamphlet dar, wenn auch die griechisch-lateinische Vorsilbe ‚auto’ durch den deutschen Begriff ‚Selbst’ ersetzt wurde. Das Journal hatte sich dem Kampf gegen Antisemitismus und Assimilation sowie der Stärkung eines nationalen Bewusstseins unter den westlichen Juden verschrieben.[14] In Selbst-Emancipation prägte Nathan Birnbaum 1890 den Begriff „Zionismus“, was sein Bestreben bezeugt, dem Palästina-zentrierten, jüdischen Nationalismus den Anschein einer kohärenten Weltanschauung zu geben, um die sich das westliche wie das östliche Judentum schaaren sollten.[15]

Eine der dringlichen Fragen, mit denen sich Selbst-Emancipation und andere jüdische Zeitschriften während der frühen 1890er befassten, war die Einwanderung osteuropäischer Juden in westeuropäische Länder, forciert durch die Vertreibung der Juden aus Moskau (1891) und die sich verschlechternden Lebensumstände der Juden im russischen Ansiedlungsrayon.

Nun wurde jedoch eine ganze Reihe von Schriften jüdischer Aktivisten in deutscher Sprache veröffentlicht. So veröffentlichte beispielsweise im Jahr 1891 ein russischer Jude anonym ein deutschsprachiges Pamphlet, welches die europäischen Juden dazu aufrief, den flüchtenden Massen beizustehen.[16] Eine treibende Kraft nationalistischer Agitation waren Juden osteuropäischer Abstammung, zumeist Studenten, die in Berlin lebten. Zentrale Figuren wie Schemarjahu Levin [Abbildung 10], Leo Motzkin und Nachman Syrkin fungierten als Mediatoren zwischen den politisch interessierten Kreisen in russischsprachigen und deutschsprachigen Gebieten, indem sie in der deutschen Presse und in der interessierten Öffentlichkeit über die wirtschaftlichen Nöte sowie die Diskriminierung der osteuropäischen Juden berichteten.[17] Im Februar 1892 betonten die Autoren eines zweisprachigen, von den Herausgebern der Selbst-Emancipation veröffentlichten Aufrufs, in dem die Zionisten dringend um Unterstützung für das Journal gebeten wurden, dass man die Assimilation bekämpfe, indem man die deutsche Sprache wähle, die „unter unseren Brüdern in Europa“ derzeit führend sei.[18] Mitte der 1890er Jahre waren die Zionisten nur eine kleine ideologische Gruppe innerhalb der Juden Europas, insbesondere in westlichen Ländern. Doch sie schmiedeten unermüdlich an Beziehungen und erschlossen Wege der Kommunikation und der politischen Kooperation zwischen verschiedenen Gruppen von Aktivisten in Ost- und Westeuropa. Dank des Platzes, den das Deutsche in der europäischen Politik und in den jüdischen Gesellschaften Osteuropas innehatte, diente es als wichtigster Träger der nationaljüdischen Botschaft.

Zionismus als eine deutschsprachige Bewegung

Die deutsche Sprache etablierte sich als Kommunikationsmedium des Zionismus in den 1880er und 1890er Jahren. Mit der Gründung der Zionistischen Organisation im Jahre 1897 erreichte dieser Zustand einen gewissen Grad der Institutionalisierung. Mit Sitz in Wien stand sie unter der Leitung von deutschen Rednern, und Deutsch war die Sprache ihrer internen und externen Kommunikation. Ihr Begründer und zugleich Chefideologe war Theodor Herzl (1860–1904) [Abbildung 11]. Zusammen mit Max Nordau (1849–1923) lenkte er die zionistische Politik weg von lokalen Bemühungen, die Einwanderung Einzelner nach Palästina zu organisieren und verfolgte stattdessen ein ehrgeiziges Konzept, in dessen Mittelpunkt der Austausch mit höheren Diplomaten der europäischen und außereuropäischen Großmächte sowie mit der jüdischen Wirtschaftselite stand. Herzls und Nordaus Ziel war es, vom Osmanischen Reich und von anderen Regierungen ein Statut zu erwirken, welches das Recht der Juden auf Selbstverwaltung in Palästina anerkannte. Sowohl Herzl als auch Nordau waren in Pest (heute Budapest) in Österreich-Ungarn geboren und entstammten Familien, die sich wie selbstverständlich in der deutschen Sprache und Kultur zu Hause fühlten. Herzl war von Haus aus Journalist und Dramatiker. Sein Interesse an den politischen Angelegenheiten der Juden war seit Beginn der frühen 1890er allmählich gewachsen. 1896 veröffentlichte er eine programmatische Broschüre, ‚Der Judenstaat‘,[19] [Abbildung 12] welche rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und die politisch interessierte jüdische Öffentlichkeit insbesondere in Osteuropa aufrüttelte. Das Pamphlet stellte Antisemitismus als ein Problem dar, welches nicht in der Gegenwart gelöst werden konnte und rief zur Errichtung eines eigenen Staates auf. Herzl unternahm konkrete Schritte, um dieses Ziel zu erreichen und stellte Kontakte zur politischen und wirtschaftlichen jüdischen Elite sowie mit europäischen Staatsmännern her.

Der erste Zionisten-Kongress, von Herzl 1897 nach Basel einberufen, war der Schauplatz, der mit mehr als 200 Teilnehmern aus der gesamten jüdischen Welt, insbesondere aus Osteuropa, den internationalen Charakter der zionistischen Bewegung vor Augen führte. Der Kongress spiegelte auch die Vorherrschaft der deutschen Sprache in der zionistischen Politik wider. Den Teilnehmern stand es frei, eine Sprache ihrer Wahl zu benutzen - wobei jeweils andere Delegierte als Simultandolmetscher zur Verfügung standen. Der überwiegende Anteil der Reden wurde jedoch auf Deutsch gehalten, welches dann auch bis 1939 die Sprache der Kongress-Protokolle blieb. Die anschließenden Diskussionen wurden in vielerlei Sprachen geführt, was in einer „babylonisch anmutenden“ Szenerie mündete, wie es Kommentatoren beschrieben. Auf den folgenden Kongressen begann man pragmatisch eine Sprache zu benutzen: Kongressdeutsch. Dies stellte eine Fusion aus Deutsch und Jiddisch dar, frei von stilistischen Verzierungen und komplexen grammatischen Strukturen und ermöglichte immerhin ein gewisses Maß an Kommunikation zwischen jiddisch- und deutschsprachigen Rednern.

Die Verständigungsschwierigkeiten der Zionisten in Basel beruhten auf ideologischen Spaltungen innerhalb der zionistischen Öffentlichkeit. Für Herzl und Nordau hing die Zukunft des Zionismus vom Erfolg ihres diplomatischen und philanthropischen Einsatzes ab; kulturelle und religiöse Gesichtspunkte besaßen ihrer Meinung nach, keine herausragende Bedeutung. Um als ernstzunehmender Akteur der europäischen Politik wahrgenommen zu werden, unternahm die zionistische Bewegung bedeutende Anstrengungen, sich die diplomatischen Gepflogenheiten der Zeit anzueignen; sie wollte achtbar und seriös auftreten. Es stand im Einklang mit Herzls Streben nach Kooperation mit Diplomaten und Regierungen Zentraleuropas, dass der Zionismus sich hauptsächlich in deutscher Sprache äußerte. Herzls diplomatische und germanophone Orientierung wurde allerdings von vielen Zionisten Osteuropas als bedenklicher Versuch kritisiert, ohne Rücksicht auf die kulturellen Neigungen der jüdischen Massen in Osteuropa der jüdischen Politik eine germanophile, bürgerliche und elitäre Richtung zu geben. Im oft benutzten Begriff ‚Kongresszionismus‘ klingt die Abwertung der Politik Herzls und seiner Verbündeten an.[20]

Im Gegensatz zum ‚Kongresszionismus‘ propagierten die osteuropäischen Zionisten die Methode der Graswurzel-Agitation, die der Mobilisierung der jüdischen Massen dienen und die Immigration nach Palästina befördern sollte. Beim Zionisten-Kongress von 1899 lehnte es etwa Menachem Ussischkin (1863–1941), ein bekannter russländischer Zionist, ab, auf Deutsch vorzutragen, und erwiderte auf Herzls diesbezügliche Bitte: „Ich spreche in erster Linie zu denen, die mich verstehen und die mich verstehen wollen. […] Ich möchte nur in einer Weise sprechen, die es erlaubt, meine Position einwandfrei zu verstehen, und dies kann ich nur auf Russisch leisten.“[21] Im Jahre 1903 hielt der spätere Vater des zionistischen Revisionismus, der ebenfalls aus dem Russischen Reich stammende Vladimir Jabotinsky (1880–1940) eine längere Rede in einem „höchst eloquenten Russisch“, wie es in seinen Memoiren heißt, und verlieh damit seinem Wunsch Nachdruck, die germanophone Atmosphäre des Kongresses aufzubrechen.[22] Sowohl vom rechten als auch vom linken Flügel aus erlaubten die Sprachfrage und die Hegemonie des Deutschen im Kongress den Zionisten, ihre ideologischen Dispositionen zu kanalisieren und die Führung der Bewegung zu kritisieren.

Der germanophone Charakter des frühen Zionismus erstreckte sich über die Korridore des Kongresses hinaus. Im Jahre 1897 gründete Herzl das deutschsprachige zionistische Blatt Die Welt [Abbildung 13], welches zur wichtigsten Plattform für die ideologischen Debatten der zionistischen Bewegung und zum zentralen Medium für Nachrichten aus der gesamten jüdischen Diaspora wurde. Zionistische Aktivisten aus Osteuropa, die sich an die Führung der Bewegung richten wollten, verlegten sich nun darauf, auf Deutsch zu publizieren. Im Jahre 1898, als der russische Zionist Nachman Syrkin versuchte, eine sozialistische Agenda für die zionistische Bewegung zu propagieren, veröffentlichte er einen programmatischen Essay, „der auf Deutsch geschrieben und an das zionistische Publikum der Zeit gerichtet war,“ – wie er sich später erinnerte.[23] Wenngleich die zionistische Agitation auf unterschiedlichen Sprachen betrieben wurde, so blieb das Deutsche doch bis zum ersten Weltkrieg das zentrale Vehikel der zionistischen Kommunikation. Dessen Bedeutung lag in seinem praktischen Nutzen, was gegenläufige ideologische Überzeugungen wettmachte und folgerichtig konkurrierende Sprachen in den Hintergrund treten ließ.

Deutsch und Hebräisch

Herzl sah im Dilemma der jüdischen Vielsprachigkeit kein großes Hindernis auf dem Wege zu zionistischen Zielen. In Der Judenstaat malte er sich das zukünftige Land der Juden als eine vielsprachige Föderation aus – vergleichbar dem Schweizer Modell. 1895 sagte er in seinem Tagebuch voraus, dass das Deutsche als die offizielle Sprache in Palästina dienen werde.[24] Das Hebräische hatte jedenfalls nicht die Stellung, irgendeiner praktischen Funktion zu dienen. „Wer von uns weiss genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?“, schrieb er in Der Judenstaat.[25] Für die meisten westeuropäischen Juden war das eine Binsenweisheit, aber diese Bemerkung lässt darauf schließen, dass Herzl von den stetigen Bemühungen der frühen jüdischen Nationalisten, den literarischen und intellektuellen Gebrauch des Hebräischen neu zu beleben und das Hebräische tatsächlich zu einer modernen Volkssprache zu machen, wenig Notiz nahm. Entscheidender noch: Herzl verkannte die entscheidende ideologische Bedeutung des Hebräischen für den osteuropäischen jüdischen Nationalismus. Als seine Indifferenz in der Sprachenfrage eine Gegenreaktion hervorrief, passte sich Herzl an und empfahl nun doch das Hebräische als Sprache eines zukünftigen Judenstaates. Dieses Zugeständnis hatte jedoch zu Lebzeiten Herzls kaum Auswirkung auf die zionistische Politik.

Die Dominanz des Deutschen prägte die Debatten über den Zweck und die Bedeutung des Zionismus. Der Kulturzionismus – eine mit dem Namen ihres Nestors Asher Zvi Ginsberg [Ahad Ha‘am][26] (1856–1927) verbundene Strömung – kritisierte, dass es Herzls Bemühungen oft an Verständnis für die hebräische Kultur und Sprache mangele und dass Herzls Zionismus nicht genügend mit den historischen Wurzeln des Judentums verbunden sei. Für Ahad Ha’am erschöpfte sich Herzls Konzept in einer äußerlichen Anpassung an zeitgenössische europäische Nationalismen und war hoffnungslos auf Diplomatie und Territorialität fixiert. Demgegenüber predigte Ahad Ha‘am die Renaissance jüdischen Geistes und jüdischer Kultur, die er für die Erfüllung des Traumes von der jüdischen Nation als unabdingbare Voraussetzung betrachtete. Im Jahre 1902, als Herzl seinen Roman Altneuland  [Abbildung 14] veröffentliche, in welchem er ein Bild jüdischen Lebens im eigenen, unabhängigen Land entwarf, sah Ahad Ha‘am in der Oberflächlichkeit des Romans den Beleg für Herzls grundlegende Schwächen. Seine auf Deutsch und Hebräisch veröffentlichte Rezension, kritisierte Herzls fehlendes Engagement in der Sprachenfrage und betonte, er habe es versäumt, sich mit dem Schicksal der hebräischen Sprache zu befassen. Ahad Ha’am erklärte, verschiedene Stellen vermittelten den Eindruck, als sprächen die Gebildeten Deutsch, während die „Bauern natürlich Jargon [Jiddisch] sprechen.“[27] Dies war für Ahad Ha‘am lediglich ein Beispiel für Herzls zu kurz greifendes zionistisches Konzept und seine Vernachlässigung des Hebräischen.

In den folgenden Jahren gab es vermehrt Bemühungen, die Stellung des Hebräischen im Zionismus auszubauen. Einer der Faktoren, die zu dieser Entwicklung beitrugen, war das Erstarken nationalistischer und sozialistischer jüdischer Bewegungen in Osteuropa und in den Vereinigten Staaten, welche Jiddisch als jüdische Nationalsprache favorisierten. In Czernowitz fand 1908 eine Konferenz statt, deren Anliegen die Stärkung der jiddischen Sprache und Kultur war, eine Veranstaltung, die von den Zionisten als direkte Bedrohung für den Status des Hebräischen als nationale Sprache der jüdischen Einheit aufgefasste wurde. Vor diesem Hintergrund beteiligten sich osteuropäische jüdische Nationalisten, die in Palästina siedelten, aktiv an den Bestrebungen, den Status des Hebräischen unter den Juden Palästinas (Jischuw) zu heben. Junge, politisch engagierte Männer und Frauen erbrachten erhebliche intellektuelle und materielle Leistungen, oft mit finanzieller Unterstützung westlicher jüdischer Organisationen, um hebräische Bildungseinrichtungen zu gründen. Der Aktivist und Linguist Eliezer Ben Jehuda [Abbildung 15] gab in Palästina eine hebräische Zeitschrift heraus und verfasste ein richtungsweisendes hebräisches Wörterbuch, welches der jüdischen Bevölkerung des Landes einen umfassenden Wortschatz an die Hand gab.

Angesichts dieser Entwicklungen intensivierten die Verfechter des Hebräischen als jüdischer Nationalsprache ihre Bemühungen, den Status des Hebräischen in der zionistischen Ideologie und Politik weiter zu stärken. Während das Hebräische auf den Zionisten-Kongressen immer noch eine untergeordnete Rolle spielte, verlangte eine Gruppe von Zionisten mehr Mittel für die Förderung der hebräischen Sprache und Kultur. Sie stellten damit den Status des Deutschen als Lingua franca des Zionismus entschieden in Frage. Wenige Tage vor dem Auftakt des neunten Zionisten-Kongress (26.–31. Dezember 1909, Hamburg) fand sich 1909 in Berlin eine Konferenz zusammen, die das Ziel hatte, eine hebraistische Agenda auf die Tagesordnung zu setzen. Allerdings waren nicht alle Redner in der Lage, sich auf Hebräisch verständlich zu machen, was in der angespannten politischen Atmosphäre des jüdischen Meinungskampfs dieser Jahre nicht verborgen blieb. Der deutsch-jüdische Denker Martin Buber hielt seine Rede auf Deutsch und räumte ein, dass er gezögert hatte, überhaupt die Tribüne zu betreten: „Ich muss in einer fremden Sprache über das Hebräische sprechen, weil ich es nicht gewohnt bin, meine Gedanken auf Hebräisch zu denken und weil mein Herz es mir nicht gestattete, meine Gedanken, welche ich in einer fremden Sprache denke, in meine Nationalsprache zu übersetzen, welche ich weniger gut beherrsche.“ Er bezeichnete dieses Dilemma, in welchem sich viele Juden befanden, als Tragödie.[28] Im zehnten Zionisten-Kongress (9.–15. August 1911, Basel) von 1911 wurde ein Antrag eingebracht, der forderte, Hebräisch als Sprache der Eröffnungsreden festzuschreiben. Zwar wurde der Antrag abgelehnt, doch der Kongress erkannte Hebräisch als offizielle Kongress-Sprache an. Diese Entscheidung markierte eine Veränderung: Das Deutsche konnte nicht mehr als selbstverständliches Vehikel zionistischer Politik angesehen werden.

1913 erreichten die hebraistischen Anstrengungen innerhalb der zionistischen Bewegung einen Höhepunkt. Die Wohltätigkeitsorganisation Hilfsverein der deutschen Juden finanzierte die Gründung einer Technischen Universität in Haifa nach deutschem Vorbild, dem Technion. Der Trägerverein der Universität beschloss, Deutsch als Lehrsprache in den naturwissenschaftlichen Fächern einzuführen. Im Wortlaut des Beschlusses hieß es: „Die naturwissenschaftlich-technischen Unterrichtsgegenstände werden in deutscher Sprache gelehrt, um den Schüler so den Anschluß durch eine der großen Kultursprachen an die wissenschaftliche Entwicklung der modernen Zeit zu vermitteln.“[29] Führende Zionisten im Jischuw waren der Meinung, diese Behauptung diene lediglich der Verschleierung der kulturell unterfütterten imperialen Interessen Deutschlands im Nahen Osten und schade somit dem Zionismus und der Durchsetzung der hebräischen Sprache in Palästina.[30] Im Jischuw kam es zu einem Aufruhr. Petitionen, Demonstrationen und Streiks richteten sich gezielt gegen die Einrichtungen des Hilfsvereins der deutschen Juden, welche zu dieser Zeit etwa 45% der Schulen förderte. Zionistische Organisationen in Palästina und in anderen Ländern – Deutschland eingeschlossen – protestierten gegen den Beschluss. Sie verstanden ihren Protest als Beitrag zum Kampf für die Unabhängigkeit der jüdischen Gemeinde Palästinas. Wenngleich das Deutsche nur eine der verschiedenen im damaligen Palästina verwendeten Sprachen war, offenbarte doch der Kampf gegen die deutsche Unterrichtssprache in der höheren Bildung eine bemerkenswerte Mobilisierungskraft. Das Kuratorium des Technions änderte seinen Beschluss zu Beginn des Jahres 1914 und erklärte sich bereit, Hebräisch als Unterrichtssprache anzuerkennen. „Der Krieg der Sprachen“, wie er von Zeitgenossen genannt wurde, entzündete sich an der Vorstellung, die Präsenz des Deutschen in der sich entwickelnden neuen jüdischen Gesellschaft erschwere die Verwirklichung der zionistischen Zukunftsvision eines hebräischsprachigen jüdischen Gemeinwesens. Die Sache der Hebraisten erhielt durch die anhaltenden internen Spannungen im Zionismus und die politische Spaltung, die sich im Gebrauch des Jiddischen und anderer jüdischer wie nicht-jüdischer Sprachen in Palästina zeigte, neuen Auftrieb. Ungeachtet seiner anfänglich vorwiegend praktischen Bedeutung war das Deutsche als zunehmend in die Kritik geratenes Verständigungsmittel innerhalb der politischen Debatten der frühen zionistischen Bewegung mit symbolischer Bedeutung aufgeladen worden, was dazu beitrug, seinen weiteren Gebrauch unter ideologischen Vorbehalt zu stellen.

 

Der entgermanisierte Zionismus

Als Herzl die internationale diplomatische Bühne als Botschafter des Zionismus betrat, bestand sein oberstes, wenn auch nicht einziges Ziel in der Beeinflussung der Haltung des Deutschen Reiches. Man hoffte, eine deutsche Unterstützung des Zionismus würde den Weg bereiten für die Anerkennung eines unabhängigen jüdischen Staatswesens oder wenigstens einer jüdischen Autonomie in Palästina durch Deutschlands imperialen Verbündeten, das Osmanische Reich. In einem 1908 von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland in Auftrag gegebenen Lexikon unterstrichen insbesondere der Eintrag ‘Zionismus und deutsche Politik’, dass angesichts des „historische[n] Band[es], das das Judentum an die deutsche Kultur knüpft“[31], dem zionistischen Appell an das Deutsche Reich eine besondere Bedeutung zukomme. Ausdruck dieser Verbindung sei die Tatsache, dass acht Millionen Juden einen „jüdisch-deutschen Dialekt“, nämlich Jiddisch sprächen und dass Deutsch die offizielle Sprache der Verständigung innerhalb der zionistischen Bewegung sei.[32] Während des Ersten Weltkrieges gewann diese Argumentation zusätzlich an Bedeutung. Die zionistische Organisation wahrte während des gesamten Krieges vollkommene Neutralität. Als deutsche und österreichische Truppen 1915 in Russland einmarschierten, hofften einige deutsche Zionisten jedoch, dass dies früher oder später die Befreiung der in Unterdrückung lebenden russischen Juden mit sich bringen würde und dass die Mittelmächte in den osteuropäischen Juden potentielle Verbündete sehen würden. Ungeachtet erheblicher Kritik seitens der zionistischen Bewegung forcierte eine sich Komitee für den Osten nennende und aus mehreren jüdischen Aktivisten – zumeist deutschen Zionisten – bestehende Gruppe die Kooperation mit den Mittelmächten. Diverse vom Komitee für den Osten oder von mit diesem verbundenen Autoren produzierte Publikationen argumentierten, die linguistische Nähe zwischen Jiddisch und Deutsch sei Ausdruck einer tiefen Affinität von osteuropäischen Juden zu Deutschland und dies verheiße Hoffnung auf eine Zusammenarbeit zwischen den osteuropäischen Juden und der deutschen Regierung. In einer Broschüre aus dem Jahre 1916, beschrieb etwa Nahum Goldmann (1895–1982), der spätere Präsident des Jüdischen Weltkongresses, osteuropäische Juden als „Vermittler der Weltkultur“ durch Jiddisch, ihre „Jüdisch-Deutsche Sprache.“[33] Die Anstrengungen des Komitees für den Osten blieben jedoch ohne Ergebnis und stießen sowohl bei der deutschen Regierung als auch der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung auf Indifferenz oder Feindseligkeit. In den letzten beiden Kriegsjahren verzichtete das Komitee für den Osten darauf, das Argument linguistischer und kultureller Affinität heranzuziehen.[34]

Im November 1917, nach dem Beginn der Eroberung Palästinas durch britische Truppen, versicherte das britische Außenministerium in der Balfour-Deklaration [Abbildung 16], die britische Regierung betrachte „mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches, der Habsburgermonarchie sowie des Osmanischen Reiches besiegelte die geopolitische Reorientierung der zionistischen Diplomatie. Nachdem Palästina de facto in der Hand Großbritanniens war und dieses in einer offiziellen Erklärung die zionistischen Bestrebungen, in Palästina eine „Heimstatt für das jüdische Volk“ zu errichten, unterstützte, verlagerte sich das Zentrum der zionistischen Politik nach London, das ab 1921 Sitz der Zionistischen Weltorganisation war. Zionisten aus Osteuropa, den Vereinigten Staaten und Palästina erlangten Schlüsselrollen in der Bewegung, was auf eine zunehmende Entfernung von der frühen Orientierung des Zionismus an deutscher Sprache und Kultur hinwies. Bis zum Aufstieg des Dritten Reiches diente das Deutsche weiterhin als eine der Sprachen, in welcher sich Zionisten verständigten. Deutsch verkörperte jedoch nicht mehr die Verheißung einer jüdisch-nationalen Emanzipation, sondern erinnerte eher an die dem frühen Zionismus innewohnenden kulturellen Spannungen und spiegelte als solches gleichermaßen die Verwurzelung des Zionismus in der politischen Landschaft Europas wider, wie dessen Wunsch diese zu überwinden.

 

Endnoten

[1] Doron, Joachim, Social Concepts Prevalent in German Zionism: 1883–1914, in: Studies in Zionism 3/1, 1982, S. 1-31.

[2] Smolenskin, Perets, Ma’amarim, Jerusalem: Keren Smolenskin 1925, Bd. 2, S. 72.

[3] Hess, Moses, Rom und Jerusalem: Die letzte Nationalitätsfrage, Leipzig 1862.

[4] Pinsker, Leon, Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1882.

[5] Volovici, Marc, Leon Pinsker’s Autoemancipation! and the Emergence of German as a Language of Jewish Nationalism, in: Central European History 50/1, 2017, S. 34-58.

[6] Philippson, Ludwig, Eine alte Frage: Ein Nachtrag, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 46. Jahrgang, Nr. 42 (17. Oktober 1882), S. 681.

[7] Ebd.

[8] Ebd.

[9] Steinschneider, Moritz , Judaica, in: Hebräische Bibliographie. Blätter für neuere und ältere Literatur des Judenthums nebst einer literarischen Beilage,  Bd. 21, 1881/1882, S. 123.

[10] [Gordon, Jehuda Leib], Bina ba-sfarim, in: Ha-Melits 9 (1882); Zitron, Shmuel Leib (Hrsg.), Im ein Ani Li, Mi li? [Bin ich nicht für mich, wer dann?], Vilna 1884, S. 35.

[11] Lazarus, Emma, An Epistle to the Hebrews, in: The American Hebrew (8. Dezember 1882), S. 34.

[12] [Peretz Smolenskin], Yedi’at sfarim, in: Ha-Shahar, Bd. 3, 1883, S. 185-186.

[13] Schoeps, Julius H., Palästinaliebe: Leon Pinsker, der Antisemitismus und die Anfänge der nationaljüdischen Bewegung in Deutschland, Berlin 2005.

[14] Olson, Jess, Nathan Birnbaum and Jewish Modernity: Architect of Zionism, Yiddishism, and Orthodoxy, Stanford 2013, S. 43-48.

[15] Birnbaum, Nathan, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage: Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen, Wien 1893.

[16] [ohne Autor] Was soll aus den russischen Juden werden?, Berlin 1891, S. 102-108. [http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/687864]; Klausner, Israel, mi-katovits ad bazel [Von Kattowitz bis Basel], Jerusalem 1964, S. 102-108.

[17] Schäfer, Barbara; Krampe, Saskia, Berliner Zionistenkreise: Eine vereinsgeschichtliche Studie, Berlin 2003.

[18] National Library of Israel, Archives, Ahad Ha-Am Collection, ARC. 4° 791 7 (1887). Siehe auch: Brainin, Ruben, An die Zionisten in Rußland, in: Selbst-Emancipation. Zeitschrift für die nationalen, socialen und politischen Interessen des jüdischen Stammes - Organ der Zionisten, 4. Jahrgang, Heft 22 (16. November 1891), S. 3-4; 4. Jahrgang, Heft 23 (1. Dezember 1891), S. 2-3; 5. Jahrgang, Heft 1 (5. Januar 1892), S. 6-7; 5. Jahrgang, Heft 4 (23. Februar 1892), S. 41-42.

[19] Herzl, Theodor, Der Judenstaat: Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, M. Breitenstein, Leipzig u.a. 1896.

[20] Berkowitz, Michael, Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, New York 1993, S. 8-39.

[21] Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Congresses in Basel, 26., 27., 28., 29. und 30. Dezember 1901, Wien 1901, S. 354-355.

[22] Jabotinsky, Vladimir, Story of My Life, hrsg. v. Brian Horowitz u. Leonid Katsis, Detroit 2016, S. 69.

[23] Syrkin, Nachman, Letoldot hatsiyonut hasotsyalistit, in: Kitve nachman syrkin, Tel Aviv 1938, S. 291.

[24] Herzl, Theodor, Zionistisches Tagebuch 1895–1899, hrsg. v. Johannes Wachten u. Ch. Harel, Berlin 1983, Bd. 2, S. 90.

[25] Herzl, Der Judenstaat, S. 75.

[26] Ahad Ha’am = (hebr.) „Einer aus dem Volk“, publizistisches Pseudonym und Element der Selbststilisierung Ginsbergs, dessen Sozialisation durch die Herkunft aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie geprägt wurde.

[27] Haam, Achad, Altneuland, in: Ost und West 4 (1903), S. 227-244.

[28] Buber, Martin, Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur, in: Barbara Schäfer (Hrsg.), Martin Bubers Werkausgabe: frühe jüdische Schriften 1900–1922, Gütersloh 2007, S. 211.

[29] Nathan, Paul, Palästina und palästinensischer Zionismus, Berlin 1914, S. 4.

[30] Friedman, Isaiah, The Hilfsverein der deutschen Juden, the German Foreign Ministry and the Controversy with the Zionists, 1901–1918, in: Leo Baeck Institute Yearbook 24 (1979), S. 291-319, hier S. 304.

[31] Zionismus und deutsche Politik, in: Zionistisches A-B-C Buch, Berlin-Charlottenburg 1908, S. 274-281, hier S. 276.

[32] Ebd.

[33] Goldmann, Nahum, Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums, München 1916, S. 23.

[34] Grill, Tobias, „Pioneers of Germanness in the East“? Jewish-German, German, and Slavic Perceptions of East European Jewry during the First World War, in: Tobias Grill (Hg.), Jews and Germans in Eastern Europe: Shared and Comparative Histories, Oldenbourg 2018, S. 125-159; Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen: Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2016, S. 197-251.

 

Literaturverzeichnis

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Quellen

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[ohne Autor] Was soll aus den russischen Juden werden?, Berlin: Cossirer & Danziger 1891.

Zionismus und deutsche Politik, in: Zionistisches A-B-C Buch, Berlin-Charlottenburg 1908.

Autor

Dr. Marc Volovici

Erschienen am 31.03.2020