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Begegnungen in Europa und der Welt. Deutschsprachige Literatur jüdischer Autorinnen und Autoren aus der (ehemaligen) Sowjetunion

 

Migration, Integration, Ambivalenz des Dazwischen

Seinen Impetus, nach Deutschland zu emigrieren, beschreibt der mittlerweile im deutschen Literatur- und Kulturbetrieb arrivierte Schriftsteller Wladimir Kaminer [Abbildung 1] in seinem Erstlingswerk „Russendisko“ (2000) wie folgt:

„Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. [...] Normalerweise versuchten die meisten in der Sowjetunion ihre jüdischen Vorfahren zu verleugnen, nur mit einem sauberen Pass konnte man auf eine Karriere hoffen. Die Ursache dafür war nicht der Antisemitismus, sondern einfach die Tatsache, dass jeder mehr oder weniger verantwortungsvolle Posten mit einer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei verbunden war. Und Juden hatte man ungern in der Partei.“[1]

Kaminer bestimmt in dieser Passage implizit wie explizit zentrale Momente, die das Schaffen von jüdischen Autor/innen aus der (ehemaligen) Sowjetunion im deutschsprachigen Raum auf verschiedene Art und Weise prägten und prägen. Zum einen wird die Frage aufgeworfen, wann und vor allem in welche politisch-gesellschaftliche Zeit und in welche Staatlichkeit die Ausreise erfolgte – war es in die DDR, in die BRD, in das wiedervereinigte Deutschland oder nach Österreich. Implizit findet sich zum zweiten die Frage, in welchem Alter die Autor/innen migriert sind – ob als Erwachsene, Jugendliche oder Kinder –, mithin die Frage nach ihrem Erfahrungshintergrund – sei es das direkte Erleben der Wirklichkeit in den Unionsrepubliken der UdSSR, seien es die durch Erzählungen beispielsweise der Eltern vermittelten Kenntnisse und Erfahrungen, oder sei es schließlich die Erfahrung, in einem anderen, neuen Land aufzuwachsen. Mit dieser letztgenannten Erfahrung geht die Herausforderung, sich allgemein mit Migration, mit den jeweils gängigen Diskursen und Narrativen, und zudem spezifisch mit der eigenen Kondition auseinanderzusetzen, einher. Daran schließt sich – auch in Bezug auf die Situation der Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion und den Zivilisationsbruch der Shoah – die Frage an, wie und auf welche Weise das eigene Jüdisch-Sein zu reflektieren und diskursiv einzubinden sei. Nicht zuletzt stellt sich vornehmlich in kultureller Sicht die Frage nach der Sprachwahl, die weitaus mehr als eine nationale Problematik impliziert und die Ambivalenz von Migration in mehrsprachigem Ausdruck einfängt.

Kaminer selbst migrierte seinerzeit noch in die DDR. Nicht Erich Honecker, wie Kaminer schreibt, sondern die letzte und zugleich erste demokratisch gewählte Regierung der DDR unter Lothar de Maizière beschloss die Aufnahme von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion aus humanitären Gründen im Asylgesetz, genauer in Hinblick auf die ausstehende Wiedergutmachung gegenüber Israel. In den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung wurde diese Asylberechtigung bzw. Berechtigung zur Staatsbürgerschaft in das bundesrepublikanisch juristisch vorgesehene Instrument der Kontingentflüchtlinge überführt.[2] Zeitlich vorgelagert findet sich seit den 1970er Jahren die Bewegung der „refuseniks“ (Russisch: „otkazniki“, von „otkazyvat’“ – „ablehnen“), der Jüdinnen und Juden, denen die Ausreise aus der Sowjetunion – zunächst – verweigert wurde[3], und die mit Proponenten wie Lew Druskin und Vladimir Vertlib (dieser als Kind von otkazniki wie auch Julya Rabinowich) in der BRD und Österreich eine eigene sprachkulturelle Perspektive entwickelten. Nachgelagert wiederum, d.h. nach dem Epochenjahr 1990, treten in der literarischen Reflexion Autor/innen in Erscheinung, die in Österreich oder im wiedervereinten Deutschland sozialisiert wurden – wie etwa Lena Gorelik oder Sasha Marianna Salzmann [Abbildung 2 und 3]. Parallel zu dieser jeweiligen Erfahrung stehen ihrerseits Autor/innen, deren Schaffen sich im amerikanisch-anglophonen Raum oder aber in (dem russischsprachigen) Israel manifestierte wie das von Jonathan S. Foer oder Dina Rubina [Abbildung 4]. Zugleich ist bei der Migration nach Deutschland, insbesondere was den Erfahrungsraum Russland bzw. Sowjetunion betrifft, auch an Autor/innen zu denken, die als so genannte „Russlanddeutsche“ seit den 1990er Jahren nach Deutschland eingereist sind wie Wlada Kolosowa.

Die Erfahrungen, wie sie in der literarischen Reflexion aufscheinen, waren mithin bereits im Blick auf die formalen Wege der Einwanderung überaus divers. Unabhängig von historischem Kontext, dessen semantischer Tragweite, und der regionalen Verortung (ob in Berlin, Wien oder Salzburg) ist die literarische Produktion von Autor/innen mit jüdischem, (post-)sowjetischem Hintergrund außerordentlich fruchtbar. Thematisch spannt sich dabei der performative Radius auf zwischen autobiografischen Erfahrungen – das Fremde, das „Eigene“, die Ambivalenz des Ankommens – und aktuellen gesellschaftlichen Diskursen zu beispielsweise Diversität, Gender oder auch Integration.

Vertlib migrierte etwa als Kind mit seinen Eltern via Österreich, Israel, die USA zurück nach Österreich, wo er seit 1981 ansässig ist; Wladimir Kaminer migrierte 1990 als junger Erwachsener in die noch existierende DDR; Lena Gorelik kam 1992 als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland. Während ihr literarisches Schaffen, geformt von unterschiedlichen Erfahrungen, in deutscher Sprache stattfindet, verfolgten Autor/innen wie die früh verstorbenen Olga Beschenkowskaja (1947–2006) und Oleg Jurjew (1959–2018) ihre Reflexionen zweisprachig – vornehmlich auf Russisch, aber auch auf Deutsch, wobei Jurjew durch Übersetzung seiner Werke auch dem deutschsprachigen Lesepublikum bekannt war.[4]

Das literarische Schaffen von Jüdinnen und Juden aus der (ehemaligen) Sowjetunion in deutscher Sprache weist sich somit a priori als ein interkulturelles, gar transkulturelles Phänomen aus. Die Literat/innen, von denen einige auch im weiteren kulturellen Feld tätig sind, etwa als Schauspieler/innen, Journalist/innen oder Kritiker/innen, und damit an unterschiedlichsten Bereichen des kulturellen Schaffens partizipieren, vermitteln nicht nur ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Reflexionen über die eigene Kondition, vielmehr werden diese häufig in eine universellere Aussage transzendiert und in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht. Konkreter räumlicher Bezug auf Deutschland oder Österreich, auf Nachfolgestaaten der UdSSR wie Russland, die Ukraine oder Aserbaidschan auf Europa, auf Israel oder die USA findet sich mithin neben einer diskursiven Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Sprache, mit der Situativität und Kontingenz von Zugehörigkeit, mit den Ambivalenzen des Seins. Ihre Literatur ist eine Gegenwartsliteratur, die zum einen vielfach autobiografisch geformt ist und damit selbstredend auch auf zeitgenössische Diskurse reagiert wie Geschlechterbeziehungen oder die komplexen Beziehungen zwischen Religion, Gesellschaft und Staat, zwischen Individuum und Kollektiv. Zum anderen schließlich, die jüdische Erfahrung des „anderen“ als Prisma verstehend, wendet sie sich über die Problematik der Migration und Integration hinaus aktuellen Fragen zu – wie dem vielschichtigen Verhältnis zwischen Islam, Judentum, Christentum und Atheismus.

 

Frühe Stimmen

Autor/innen wie Olga Beschenkowskaja, die die Entscheidung zur Migration aus einer bereits im Kulturbetrieb der Sowjetunion verankerten Position heraus trafen, sahen sich mit einer doppelten Legitimationsfrage konfrontiert. Beschenkowskaja fasst sie in ihrem auf Russisch verfassten fiktionalen Tagebuch von 1998 in die kurzen Worte „Warum bist du hier?“[5] Beschenkowskaja, die als Intellektuelle aus der Metropole Leningrad (Petersburg) in das beschauliche süddeutsche Stuttgart kam, reflektierte in ihrem Tagebuch nicht nur die Motivation, wegzugehen, sondern ebenso ihr Ankommen in dem Land, von dem die Shoah ausgegangen war. Die historischen Zäsuren des Zweiten Weltkriegs, der Shoah, der Stalinisierung und Diskriminierung in der Sowjetunion prägten den Erfahrungshorizont ihrer literarischen Auseinandersetzung ebenso wie die gesellschaftliche Wahrnehmung ihrer Werke, zumindest in der sogenannten sowjetischen „Untergrund“-kultur – eine Anerkennung und Wahrnehmung, die ihr in Deutschland lange verwehrt blieb.

Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad geboren, kam nach diversen Migrationsstationen 1981 nach Österreich, wo er Volkswirtschaftslehre studierte und seit 1993 als Schriftsteller und Übersetzer tätig ist. Seine Bedeutung für die österreichische und allgemein deutschsprachige Literatur zeigt sich etwa in seiner Mitarbeit an der Wiener Theodor-Kramer-Gesellschaft für Exilforschung, deren Periodikum „Zwischenwelten“ er als Redakteur betreut, ebenso wie in der Verleihung der Dresdner Chamisso-Poetik Dozentur 2006. Seine literarphilosophischen Vorlesungen veröffentlichte er 2007 in der Sammlung „Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur“.

In seinem Debütroman „Abschiebung“ (1995) legt er die Grundkonflikte seines Schaffens an, die von Ortslosigkeit, der Suche nach individuellem Glück, von jüdisch-europäischen-israelischen Befindlichkeiten bzw. deren Kollisionen handeln. Das „Dazwischen“ findet ironisch gebrochen Ausdruck auf der Erzählebene – in der Odyssee einer jüdisch-russischen Familie durch die Instanzen der amerikanischen Bürokratie und in den unerfüllt bleibenden Hoffnungen eines Kindes. Im Roman „Zwischenstationen“ (1999) formuliert Vertlib bereits prägnant die Vektoren seines Dazwischen, seines kulturellen Mehrfachbezugs:

„Ich dachte manchmal, ich sei in Israel, dann wieder, ich sei in Rußland, bis ich verstand, daß da beides stimmte. Das Haus war ein Teil Israels und Rußlands, der sich in einer fremden Welt namens Wien befand. Keine Frage: die Welt war wie eine Anzahl von Schachteln aufgebaut, die ineinanderpaßten.“[6]

Die nachfolgenden Romane Vertlibs akzentuieren auf unterschiedliche Weise die Kontiguitäten von Identifikation, von Vertrautheit und Fremdsein, greifen die intellektuelle, emotionale und habituelle Komplexität von Migration auf und verweisen auf verschränkte Erfahrungswelten. So wurde der Roman „Letzter Wunsch“ (2003) von Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen als „deutsch-jüdischer“ Roman gefeiert und der Roman „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“ (2001) kann als „russisch-deutsch-jüdisches Panorama“ gelesen werden, in dem Vertlib das 20. Jahrhundert in seiner Widersprüchlichkeit aus der Perspektive seiner Protagonistin Revue passieren lässt. Im Roman „Shimons Schweigen“ (2012) [Abbildung 5] wiederum blickt der Protagonist, ein österreichischer Schriftsteller auf Lesereise in Israel, auf sein Heranwachsen als russischer Jude in Wien zurück und ist zugleich mit der Gegenwart des israelisch-palästinensischen Konflikts konfrontiert. In einem Metadiskurs über Literatur pointiert er überdies den Begriff von „Wahrheit“ im Spannungsfeld von Objektivität, Subjektivität und Transzendenz: „Seit ich Tagebuch führe, wusste ich, dass die Realität der Welt vielschichtiger war als die Realität der Fakten. In meinem Tagebuch erschien mir die Wirklichkeit als karge Oberfläche dessen, was ich als eigentliche Wahrheit zu erkennen glaubte.“[7] Während die Analyse von Jüdischsein zentral für die Mehrzahl von Vertlibs Schriften ist, wendet er sich in „Lucia Binar und die russische Seele“ (2015) [Abbildung 6] anderen Bezugspunkten zu, und zwar der Stadt Wien und der generellen Frage nach Recht und Gerechtigkeit, in „Viktor hilft“ (2018) [Abbildung 7] schließlich der tagesaktuellen Migrationsdebatte in Europa. Vor dem Hintergrund der eigenen Migrations- und Integrationserfahrung, und somit oft autobiografisch geprägt, diskutiert Vertlib Themenkomplexe wie Sprache und Verstehen, Fremdheit und Zugehörigkeit, Recht und Gerechtigkeit, und bindet sie in das aktuelle Zeitgeschehen seiner Gegenwart zurück. Mit Erzähllust, Humor und (Selbst-)Ironie entwirft er Literatur als Möglichkeitsraum der Auseinandersetzung.

Kaminer, der 1967 in Moskau geboren wurde und Dramaturgie am renommierten Moskauer Theaterinstitut GITIS studierte, entwickelt andere Koordinaten in seinem Schaffen. Während Vertlib in seinen Texten einer intellektuellen Selbstverständigung als mehrfach Fremder, als ein in Russland geborener Jude in Österreich, nachgeht, richtet Kaminer sein Augenmerk auf eine spielerische Verständigung mit dem deutschen Publikum. Sei es, dass er als Schriftsteller und ebenso als DJ nach der außerordentlichen Resonanz seiner Erzählsammlung „Russendisko“ in die weitere Öffentlichkeit ausstrahlt und das Moment des (scheinbar) Fremden im Eigenen betont, sei es, dass er überaus produktiv die Grenzen von Stereotypen und Vorannahmen auslotet. Auf charmante Weise erkundet Kaminer populärkulturell die Tiefen und Höhen von Migration und Integration, wobei er auf unterschiedliche Genres zurückgreift, bevorzugt das der Erzählung oder der Kurzgeschichte wie etwa in „Russendisko“  (2000) oder „Mein deutsches Dschungelbuch“ (2003) [Abbildung 8], aber auch auf das Kochbuch: „Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus“ (2006). Mit Werken wie „Militärmusik“ (2001), „Schönhauser Allee“ (2001), „Reise nach Trulala“ (2002), „Karaoke“ (2005), „Salve Papa!“ (2008), „Meine kaukasische Schwiegermutter“ (2010), „Diesseits von Eden. Neues aus dem Garten“ (2013), „Goodbye, Moskau. Betrachtungen über Russland“ (2017) [Abbildung 9] und „Ausgerechnet Deutschland. Geschichten unserer neuen Nachbarn“ (2018) festigte er – nicht unähnlich Lev Nussimbaum, dem jüdisch-russischen Erfolgsautor der Weimarer Republik – seine Popularität, die durch öffentliche Auftritte in Printmedien wie der tazund Talkshows noch katalysiert wird.

In seinen Geschichten, von Kaminer auch als „Alltagsbewältigungsprosa“ bezeichnet, vollzieht der Autor und Erzähler nicht nur eine Annäherung an Orte und Denkweisen, vielmehr noch nimmt er aus ironischer Distanz einen Vergleich von verschiedenen Denk- und Verhaltensweisen vor, etwa was das Verhältnis von Großstadt und Provinz anbelangt. Eine direkte Problematisierung von Jüdischsein findet hingegen nur selten statt, vornehmlich noch in der Erzählung „Russen in Berlin“, enthalten in „Russendisko“, wo der Erzähler der halachischen Position der Gemeinde ein sowjetisch geprägtes weltliches Verständnis gegenüberstellt. Die Konfrontation des Individuums mit unterschiedlichen Erwartungen – seitens der jüdischen Gemeinden, der russischen Exilkultur in Berlin, den eigenen Bedürfnissen, seitens Wissensbeständen und Prägungen – wendet Kaminer in humoristischer Weise zu einer alltagsbezogenen Deutung der neuen „Wirklichkeit“.

Rückblicke, Zwischenblicke und Vorblicke

Sensibilisiert durch die eigene Migrations- und Integrationserfahrung tritt neben Betrachtungen zur eigenen Position ein weiteres Moment in der Literatur hervor: das der zivilgesellschaftlichen Verantwortung, die sich etwa in kritisch-reflexiver Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Ereignissen und Entwicklungen äußert.

So nimmt die 1970 in Kiew geborene, 1998 an der Moskauer Lomonosov-Universität promovierte und seit 1999 in Berlin lebende Schriftstellerin Katja Petrowskaja in Reportagen wie „Die Kinder von Orljonok. Von Krasnodar nach Sotschi“ von 2009 und „Mein Kiew“ von 2014 unmittelbaren Bezug zu Transformationsprozessen im postsowjetischen Raum.[8] In letzterem verhandelt sie die Geschehnisse auf dem Kiewer Euromaidan, mithin die Frage, wohin sich die Ukraine orientieren solle – nach Europa oder nach Russland. Angesichts der gewalthaften Konfrontation um kulturelle und staatliche Zugehörigkeit diagnostiziert sie eine fundamentale Sprachlosigkeit: „Ich spürte, dass ich hoffnungslos zurückgeblieben war mit meinem Staunen, mit meinem altmodischen Friedens-Wortschatz.“[9] Mehr noch bringt sie die Frage nach Europäizität in der Figur von Freiheits- und Selbstbestimmungsbegehren auf: „[i]ch spürte scharf und unaufhörlich, dass dieses In-der-Kälte-dort-in-Kiew-auf-dem-Maidan-Stehen-Gott-weiß-wie-lange-und-ob-wir-gewinnen tausendmal europäischer war als unser Sitzen in den warmen Berliner Stuben.“[10]

In ihrem Debütroman „Vielleicht Esther. Geschichten“ von 2014 hingegen, für den sie bereits 2013 mit dem renommierten deutschen Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, begibt sich Petrowskaja auf eine Erkundung ihrer Familiengeschichte. Ihre Reise führt sie anhand von Geschichten ihrer Verwandten mosaikhaft durch verschiedene Zeiten und Räume: die Gegenwart, die Zeit ihrer Kindheit in den 1970/80er Jahren, den Zweiten Weltkrieg, die Shoah, die Zeit vor 1917 bzw. 1918, d.h. die imperiale Zeit des Russischen Reiches und Österreich-Ungarns. Die Verzweigungen der Familie wie auch die Referenzen im Text auf Heine, Joyce oder Kafka verweisen auf die Dimension des Europäischen, die grundsätzlich durch die Erfahrung der Shoah erschüttert wurde: gelebte Orte der Familie wurden zu Orten der Vernichtung oder von der Landkarte ausgelöscht. In ihrer Darstellung bildet sich das in einer Fragmentiertheit ab, die Notizen, Berichte, Eindrücke enthält und die sich zudem häufig auf vages Wissen stützt: So etwa versucht sich der Vater der Erzählerin – titelgebend – an den Namen seiner Großmutter zu erinnern: „Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther.“[11], oder aber es scheint die Unzugänglichkeit von Wissen und Erfahrung im Nachdenken über Sprache selbst auf: die Ich-Erzählerin beherrscht die Sprachen ihrer Vorfahren wie Jiddisch, Hebräisch, Polnisch nicht. Darüber hinaus identifiziert sie als wesentliches Tätigkeitsfeld einiger Vorfahren das Unterrichten von „Taubstummen“ und schlussfolgert: „Unser Judentum blieb für mich taubstumm und die Taubstummheit jüdisch. Das war meine Geschichte, meine Herkunft, das war nicht ich.“[12] Die Erkundung der Familiengeschichte gerät neben der Spurensuche und der Dokumentation zugleich zu einer Sinnsuche der Ich-Erzählerin, wird zur (impliziten) Verhandlung ihrer eigenen Position als postsowjetischer Migrantin aus Kiew in Berlin, als Jüdin.

Einen kritischen Blick auf gesellschaftliche Konstellationen wirft auch die 1970 in Leningrad geborene Schriftstellerin Julya Rabinowich. Seit 1977 lebt sie in Wien, wo sie Dolmetschen-Übersetzen und Malerei studierte. Neben ihren Romanen „Spaltkopf“ (2008), „Herznovelle“ (2011), „Die Erdfresserin“ (2012), „Krötenliebe“ (2016) und „Dazwischen: Ich“ (2016) ist sie der weiteren Öffentlichkeit durch Theaterstücke wie auch ihre Kolumne „Geschüttelt, nicht gerührt“ in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ bekannt geworden.

In ihrem Debütroman „Spaltkopf“ 2008 [Abbildung 10], für den Rabinowich den Rauriser Literaturpreis 2009 erhielt, thematisiert sie die Emigration einer jüdisch-russischen Familie aus Leningrad in den 1970er Jahren und deren „Ankommen“ im „Westen“. Erzählt wird alternierend aus der Perspektive der Protagonistin Mischka und des „Spaltkopfs“, einer imaginierten russischen Märchenfigur, die zugleich als Gedächtnisspeicher fungiert. Das  Ineinanderblenden von Gegenwart und Vergangenheit prononciert die Brüche und die Desillusionierungen von Migration: „Die Emigration ist ein langwieriger Prozess, der widersprüchlich, nämlich abrupt, beginnt, wie der Ausbruch einer Krankheit oder die Zeugung eines Kindes. Der Emigrant bricht auf, als Hans im Glück in die Welt zu ziehen, und landet in einem ganz anderen Märchen.“[13] Ausgehend von der eigenen jüdischen Erfahrung thematisiert Rabinowich im Roman Umstände der allgemein menschlichen Kondition wie das Erwachsenwerden oder die Fragilität von Erinnerung.

Die Hinwendung zu universalen Themen wie Angst, Liebe, existenzieller Not findet sich dergestalt auch in den Folgeromanen. In „Herznovelle“ [Abbildung 11] wird das Körperorgan zu einer Projektionsfläche der Aushandlung von Beziehungen, von Sehnsucht, Begehren und Verlust, zu einer symbolisch lyrischen Figur, wie im Motto kondensiert: „Das Herz ist das Zentrum von allem, sagt er/ ich frage mich, was mein Zentrum ist/ ich habe keines/ er ist stellvertretend mein Zentrum/ ich sage es ihm/ er nimmt das Herz aus meiner Brust/ und zeigt es mir und sagt:/ Das gehört Ihnen./ Und ich sage:/ Das Mängelexemplar können Sie gratis zur/ Ansicht behalten.“[14] Der Roman „Die Erdfresserin“ [Abbildung 12] seinerseits richtet den Blick sozialkritisch auf die „illegale“ Migration aus Osteuropa: die Protagonistin Diana versucht in Österreich den Lebensunterhalt für ihre Familie zu verdienen, und scheitert letztlich, poetisch gefasst im Entwurf eines weiblichen Golems. „Krötenliebe“ [Abbildung 13] wiederum kondensiert in den Lebensentwürfen und Begegnungen von Alma Mahler, Oskar Kokoschka und Paul Kammerer das Moment der Transgression: „Das Dreieck von Mutter, Vater und Kind. Von Geliebten und Eheleuten. Von Geburt und Tod und dem, was dazwischen liegt: Veränderung.“[15] „Dazwischen: Ich“ zeichnet die Emanzipation des Mädchens Madina nach, das mit seiner Familie aus einem nicht benannten Kriegsgebiet – gemeint ist vermutlich das Bosnien der Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre – geflüchtet ist und sich in der neuen Umgebung als Sprachrohr der Familie gegenüber den Behörden, in der Schule, und schließlich gegenüber einem tradierten Verständnis der Geschlechterrollen zunehmend selbstbestimmt behauptet. Nicht zuletzt durch die Poetizität ihrer Sprache verknüpft und transzendiert Rabinowich universelle Belange mit der spezifisch jüdischen Kondition.

Die Welt als Handlungsraum

Bei den bereits in Deutschland und Österreich sozialisierten Autor/innen wandeln sich, geleitet von anderen Perspektiven, genauer: der „Post-Migration“, das Erzähl- und Erkenntnisinteresse in der Literatur. Geprägt von einer kosmopolitischen Haltung problematisiert diese die Auflösung bzw. Ausdifferenzierung von (möglichen) Identitäten und wendet sich geopolitischen und geokulturellen Phänomenen und Konflikten zu.

Sasha Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, in Moskau aufgewachsen und 1995 mit ihren Eltern als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland gekommen, studierte Literatur und Theater in Hildesheim und Berlin und wirkt heute als Dramatikerin, Essayistin und Schriftstellerin in Berlin und ist Hausautorin vom Maxim-Gorki-Theater.

In ihrem Debütroman „Ausser sich“ (2017) wählt sie ähnlich wie Petrowskaja eine unzuverlässige Erzählinstanz. Die Rekonstruktion der Familiengeschichte über mehrere Generationen in der Sowjetunion und Deutschland erfolgt aus der Perspektive der Zwillinge Alissa und Anton zwischen Moskau, westdeutscher Provinz, Berlin und Istanbul. Die Auflösung von Gewissheiten bzw. der Entwurf von eigenen Narrativen, die eher Wahrnehmungen und Vorstellungen folgen als von historischen Fakten gestützt sind, entfaltet sich im Roman zunehmend beschleunigt entlang von gängigen Identitätskategorien wie Sprache, Geschlecht, Religion und Tradition. So wird eine Verwandte folgendermaßen charakterisiert: „Sie [Valja] sprach in mehreren Sprachen gleichzeitig, mischte sie je nach Farbe und Geschmack der Erinnerung zu Sätzen zusammen, die etwas anderes erzählten als ihren Inhalt, es klang, als wäre ihre Sprache ein amorphes Gemisch aus all dem, was sie war und was niemals nur in einer Version der Geschichte, in einer Sprache Platz gefunden hätte.“[16]Auf textuell-sprachlicher Ebene finden sich entsprechend Referenzen auf Deutsch als Erzählsprache, auf Russisch und Jiddisch als vermittelte historisch-kulturelle Erfahrungswelten, und schließlich auf Türkisch als Projektionsfläche von Sinnsuche und Konfrontation. Dabei lässt die Erzählerin etwa die russischen Einschübe mal übersetzt, mal un-übersetzt und markiert somit das Verhältnis von Distanz und Nähe bzw. konturiert für Romanfiguren wie Leser/innen gleichermaßen das Moment von Intimität mit Sprache und deren Bedeutung. Die Erkundung von Möglichkeiten, die nicht zuletzt auf dem Zusammen- und Widerspiel von Fremdzuschreibung wie Diskriminierung oder Ausgrenzung und Selbstzuschreibung wie Streben nach Anerkennung und selbstbestimmter Entfaltung beruhen, zeigt sich als überaus fragil. Salzmann, ganz der (Erzähl-)Erfahrung des Theaters verbunden, hebt spielerisch und eloquent den Marker von Namen hervor: „Sie sagte, ihr Name sei Katho, Katharina, Katüscha, wie das Lied Выходила на берег Катюша, Katüscha ging an das Flussufer.“[17] Spricht die Kritikerin Ijoma Mangold angesichts der im Roman dargestellten instabilen Gender-Rollen in der Zeitvon „fluiden Geschlechtern“ (Zeit, Nr. 38, 2017), so erweist sich die Suche nach Identifikation, nach Erinnerung und Wissen, als grundsätzlicher:

„Ich liege auch irgendwo da auf dem Bett, aber ich kann mich nicht sehen, ich habe keine Erinnerungen, habe eine Nabelschnur, die ins Nichts führt, habe ein anderes Lebewesen neben mir, in demselben Nichts, das mich streift, leicht wie ein Luftballon, höre Fetzen von dem, was Valja sagt, und bringe sie zusammen mit anderen Bildern aus Quellen, für die ich nicht bürgen kann.“[18]

Im Dazwischen von Zeiten, Kulturen und Ideologien spiegelt sich eine Entfremdung vom Ich und dessen Möglichkeiten, eine soziale Desintegration, d.h. eine Emanzipation von dem seitens der deutschen Gesellschaft eingeforderten wie auch von den jüdischen Gemeinden erwarteten Habitus, wie sie Max Czollek neulich formulierte.[19] Die von Salzmann aufgebrachten Referenzpunkte wie die Beziehung zwischen Juden, Christen und Muslimen oder das Moment der Geschlechtsumwandlung, mithin der sexuellen Identität, schildert Salzmann ebenso lakonisch wie unterhaltsam.

Lena Gorelik, 1981 in Leningrad geboren und 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland übersiedelt, studierte Journalistik und Osteuropastudien in München. Die Schriftstellerin und Journalistin ist dem deutschen Publikum vornehmlich durch ihre vielzähligen Romane und Reiseberichte bekannt wie „Meine weißen Nächte“ (2004), „Hochzeit in Jerusalem“ (2007), „Verliebt in Sankt Petersburg. Meine russische Reise“ (2008), „Die Listensammlerin“ (2013), „Null bis unendlich“ (2015) und „Unter dem Baumhaus“ (2016). Gorelik äußerte sich aber auch in anderen Medien zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen, etwa in dem Dokumentarfilm „Die Judenschublade – Junge Juden in Deutschland“ (zus. mit Margarethe Mehring-Fuchs, Larissa Weber; 2011) und in der Fotodokumentation über ein albanisches Flüchtlingsmädchen „Syartas Reise. Menschen im Kirchenasyl“ (zus. mit Andreas Tobias, Sabine Böhlau; 2017).

„Meine weißen Nächte“, eine Anspielung auf die weißen Nächte im Sommer in Petersburg, behandelt aus der Sicht der Ich-Erzählerin Anja den Prozess des Ankommens in Deutschland. Die Integration in den Alltag, begleitet von kulturellen Übersetzungsvorgängen, legt die Spannungszonen von Sinnsuche offen, beispielsweise wenn Anja ihren Bruder beschreibt: „Mein Bruder ist nicht wirklich Buddhist. Genau so wenig wie er wirklich ein orthodoxer Jude war. Oder ein jüdischer Christ. Oder ein Philosoph. Oder ein Entwicklungshelfer. Er ist einfach ein Einwanderer, der nach einer geistigen Heimat sucht. Aber diese tiefenpsychologische Erkenntnis teile ich ihm nicht mit.“[20] (2006) Neben diesen identifikatorischen Aushandlungen verweist Gorelik auf einen weiteren Aspekt der jüdischen Diaspora, nämlich die Beziehung der Judenheiten untereinander. „Die amerikanischen Russen stritten sich den ganzen Tag mit den deutschen Russen darüber, ob Amerika oder Deutschland das bessere Land zum Leben ist, während die israelischen Emigranten beide Seiten beschuldigten, nicht in die wahre jüdische Heimat ausgewandert zu sein, und die echten Russen, die immer noch in Moskau, Sankt Petersburg oder Kiew leben, zu beweisen versuchten, daß das Leben in der alten Heimat mittlerweile ganz wunderbar sei.“[21] Die Diskussion um Deutungshoheiten erstreckt sich über regionale Verortungen hinaus und berührt das (Selbst-)Verständnis von Jüdischsein schlechthin.

Findet die Sinnsuche der Protagonist/innen in Goreliks Roman vor allem in Deutschland statt, so begeben sich Vater und Sohn dazu in Dmitrij Kapitelmans Roman „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ (2016) [Abbildung 14] auf eine Reise nach Israel. Kapitelman, 1986 in Kiew geboren und im Alter von acht Jahren nach Deutschland gekommen, studierte Soziologie in Leipzig und lebt als Journalist in Berlin. Sein Debütroman macht nicht zuletzt auch auf den Konflikt aufmerksam, einen jüdischen Vater und eine nicht-jüdische Mutter zu haben.

Olga Grjasnowa, die bislang mit den drei Romanen „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) [Abbildung 15], „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ (2014) und „Gott ist nicht schüchtern“ (2017) an die weitere Öffentlichkeit getreten ist, wurde 1984 in Baku (Aserbaidschan) geboren und kam 1996 mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie studierte in Göttingen, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und schließlich an der FU Berlin.

Ihr Erstlingsroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, von der Kritik wohlwollend aufgenommen, handelt vom Leben der jungen Dolmetscherin Maria Kogan. Durch Erfahrungen der Gegenwart wie der Vergangenheit erschüttert, ist sie mit der Herausforderung konfrontiert: „Wo willst du hin?“[22] Der Tod ihres Freunds Elias führt sie an ihre psychischen und physischen Grenzen, die Rückblenden nach Baku ihrerseits verweisen auf die Gewaltexzesse im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um Berg Karabach. Frankfurt/Main, wo sie bisher lebte und ihr Erleben mit dem ihres türkischen besten Freunds Cem verglich – „Wir sprachen deutsch miteinander, wie zwei perfekt integrierte Vorzeigeausländer.“[23] – verlässt sie nun nach Israel, um dort als Dolmetscherin für eine Stiftung tätig zu werden. Begegneten ihr in Frankfurt zuweilen xenophobe Ressentiments, so ist nun der israelisch-palästinensische Konflikt allgegenwärtig. Tod, Verlust, Trauerarbeit, Depression begleiten Kogan auf dem Weg, sich ihrer Zugehörigkeit(en) bewusst zu werden. Sprache tritt dabei als zentrales Motiv auf: wer spricht wie mit welchem Akzent, auch wie sich Sprache und Körperlichkeit verbinden; Kogan, im Übrigen, beherrscht nicht Hebräisch. Zwischen den Sprachen und Ansprüchen findet ihr Ausloten jedoch keine Auflösung.

Auch in ihrem nächsten Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ stellt Grjasnowa auf changierende Identitätsbildungen ab, sei es die sexuelle Orientierung, sei es in Bezug auf „Okzident“ und „Orient“. Dem Konzept von engagierter Literatur verpflichtet, wendet sie sich schließlich in „Gott ist nicht schüchtern“ dem Syrienkrieg nach dem Scheitern des arabischen Frühlings 2011 und der Flüchtlingsfrage zu. Programmatisch stellt Grjasnowa dem Roman ein Motto voran, das von dem in Berlin lebenden amerikanisch-jüdischen Singer-Songwriter Daniel Kahn stammt: „Freiheit ist ein Verb“.

 

Interkultureller Erfahrungs- und Resonanzraum Literatur

Die deutschsprachige Literatur von jüdischen Schriftsteller/innen aus der (ehemaligen) Sowjetunion zeigt sich als ebenso produktiv wie facettenreich. Seit den 1990er Jahren hat sie eine Ausweitung erfahren, die sich sowohl in der Fülle der aufgebrachten Themen, der unterschiedlichen Poetiken und der Referenzen widerspiegelt als auch schließlich in der Präsenz und Wirkung in der weiteren Öffentlichkeit. Es ist eine interkulturelle Literatur, die an verschiedenen Erfahrungs- und Wissensbereichen partizipiert und dergestalt die Frage nach dem, was Jüdischsein ausmacht, mithin die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten von Zugehörigkeit, nuanciert und immer wieder neu verhandelt. Das Erkenntnisinteresse der Autor/innen orientiert sich dabei an ihrem jeweiligen Erfahrungshorizont und wandelt sich angesichts von allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen und individuellem Erfahrungshintergrund. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität bleibt jedoch zentraler Stimulus, wenngleich sie zuweilen auch in transzendierter Form aufscheint. Die individuelle autobiografische Sinnsuche, die häufig (scheinbare) Grenzen von Regionen, Sprachen, Diskursen überschreitet, lässt die Literatur zugleich zu einem Transferraum, zu einer Mittlungsinstanz werden.

Die Thematisierung von Erinnerung, von transgenerationalen Traumata, Positionierungen zur Shoah, von Elementen der conditio humana wie Liebe, Verlust oder dem Wunsch nach Anerkennung, der Blick nach Deutschland, Österreich, in die (ehemalige) Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten, nach Israel und in die USA weisen diese Literatur als eine von Begegnungen in Europa und der Welt aus.

 

Endnoten

[1] Kaminer, Wladimir, Russendisko, London, 2002, S. 9.

[2] Zum Prozedere siehe Kessler, Judith, Zeittafel zur russisch-jüdischen Zuwanderung nach Deutschland, in: Belkin, Dmitrij, Raphael Gross (Hrsg.), Ausgerechnet Deutschland. Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, S. 176-177.

[3] Vgl. Ro’I, Yaacov (Hrsg.), The Jewish Movement in the Soviet Union, Baltimore 2012.

[4] Vgl. auch Terpitz, Olaf, „Zwischen den Zeiten“. Russisch-jüdische Schriftsteller in Deutschland, in: Schoenborn, Susanne (Hrsg.), Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur Deutsch-Jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006, S. 232-249. Zu Beschenkowskaja vgl. etwa ihren zweisprachigen Lyrikband: Zwei Sprachen – Zwei Farben. Gedichte, 1997. Zu Jurjew siehe etwa seine Romane: Halbinsel Judatin (deutsche Übersetzung 1999, russisch 2000 „Poluostrov Židjatin“), Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise. Roman in fünf Satiren (deutsche Übersetzung 2003, russisch 2004 „Novyj Golem, ili Vojna starikov i detej“).

[5] Bešenkovskaja, Olga, Viehwasen 22. Dnevnik serditogo èmigranta [Viehwasen 22. Tagebuch eines zornigen Emigranten], in: Oktjabr’ 1998 (7), S. 8-64, 13 („Зачем ты здесь?“).

[6] Vertlib, Vladimir, Zwischenstationen, Wien 1999, S. 31.

[7] Vertlib, Vladimir, Shimons Schweigen, Wien 2012, S. 125.

[8] Petrowskaja, Katja, Die Kinder von Orljonok. Von Krasnodar nach Sotschi, in: Raabe, Katharina, Monika Sznajderman (Hrsg.), Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer. Mit einem Fotoessay von Andrzej Kramarz, Frankfurt/Main 2009, S. 220-241; Petrowskaja, Katja, Mein Kiew, in: Andruchowytsch, Juri, Jevhenija Markivna Bjelorusecʹ (Hrsg.), Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Mit einem Fotoessay von Yevgenia Belorusets, Berlin 2014, S. 39-49.

[9] Petrowskaja 2009, S. 41.

[10] Ebd., S. 45.

[11] Petrowskaja, Katja, Vielleicht Esther, Berlin 2014, S. 209.

[12] Ebd., S. 51.

[13] Rabinowich, Julya, Spaltkopf, Wien 2011, S. 39.

[14] Rabinowich, Julya, Herznovelle, Wien 2011.

[15] Rabinowich, Julya, Krötenliebe, Wien 2016, S. 7.

[16] Salzmann, Sasha Marianna, Ausser sich, Berlin 2017, S. 258.

[17] Ebd., S. 40.

[18] Ebd., S. 86.

[19] Czollek, Max, „Desintegriert euch!“, München 2018.

[20] Gorelik, Lena, Meine weißen Nächte, München 2004, S. 41.

[21] Ebd., S. 196.

[22] Grjasnowa, Olga, Der Russe ist einer, der Birken liebt, München 2012, S. 268.

[23] Ebd., S. 57.

 

Primärliteratur

Beschenkowskaja, Olga, Zwei Sprachen – Zwei Farben. Gedichte, Wilhelmshorst 1997.

Bešenkovskaja, Olga, Viehwasen 22. Dnevnik serditogo èmigranta [Viehwasen 22. Tagebuch eines zornigen Emigranten], in: Oktjabr’ 1998 (7), S. 8-64.

Czollek, Max, „Desintegriert euch!“, München 2018.

Gorelik, Lena, Meine weißen Nächte, München 2004.

Grjasnowa, Olga, Der Russe ist einer, der Birken liebt, München 2012.

Jurjew, Oleg, Halbinsel Judatin, Berlin 1999.

Jurjew, Oleg, Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise. Roman in fünf Satiren, Frankfurt/Main 2003.

Kaminer, Wladimir, Russendisko, London, 2002.

Petrowskaja, Katja, Die Kinder von Orljonok. Von Krasnodar nach Sotschi, in: Raabe, Katharina, Monika Sznajderman (Hrsg.), Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer, Frankfurt/Main 2009, S. 220-241.

Petrowskaja, Katja, Mein Kiew, in: Andruchowytsch, Juri, Jevhenija Markivna Bjelorusecʹ (Hrsg.), Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Berlin 2014, S. 39-49.

Petrowskaja, Katja, Vielleicht Esther, Berlin 2014.

Rabinowich, Julya, Herznovelle, Wien 2011.

Rabinowich, Julya, Krötenliebe, Wien 2016.

Rabinowich, Julya, Spaltkopf, Wien 2011.

Salzmann, Sasha Marianna, Ausser sich, Berlin 2017.

Vertlib, Vladimir, Shimons Schweigen, Wien 2012.

Vertlib, Vladimir, Zwischenstationen, Wien 1999.

 

Sekundärliteratur

Kessler, Judith, Zeittafel zur russisch-jüdischen Zuwanderung nach Deutschland, in: Belkin, Dmitrij, Raphael Gross (Hrsg.), Ausgerechnet Deutschland. Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, S. 176-177.

Ro’I, Yaacov (Hrsg.), The Jewish Movement in the Soviet Union, Baltimore 2012.

Terpitz, Olaf, „Zwischen den Zeiten“. Russisch-jüdische Schriftsteller in Deutschland in: Schoenborn, Susanne (Hrsg.), Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur Deutsch-Jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006, S. 232-249.

 

Weiterführende Literatur

Mevissen, Sofie Friederike, Ruslanddeutsche Literatur, 29.10.2018.

Autor

PD Dr. Olaf Terpitz

Erschienen am 12.05.2020