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Sie brüllen, fauchen, hecheln und fiepsen, sind gefährliche Jäger oder friedliche Artgenossen. Im Simplicissimus schafft es eine Themengruppe, ganz besondere Aufmerksamkeit zu erlangen: die Karikaturen mit Tieren.
Als einfache bildliche Darstellung für die Betrachter leicht zugänglich, sind sie ein beliebtes Mittel von Karikaturisten, Stereotypen von Ländern oder Personen aufzugreifen. Auch das Bild Osteuropas, welches im Simplicissimus zu Beginn des 20. Jahrhunderts facettenreich dargestellt wird, konstruiert sich durch die Verwendung verschiedenster Tierbilder. In diesem Text sollen die charakteristischsten von ihnen vorgestellt und in ihrer Bedeutung und ihrem Wesen als Stereotype erklärt werden – mit dem Ziel, einen Teil des vom Simplicissimus transportierten Bildes Osteuropas verständlich zu machen.
Tiersymbolik schafft es, komplexe politische Zusammenhänge vereinfacht darzustellen. Das gelingt unter anderem, weil Tiere viele verschiedene Eigenschaften aufweisen, die den meisten Menschen bekannt sind und für sie eine Bedeutung haben. Dabei stehen verschiedene Tiere und Tierbilder nicht immer für eine bestimmte Nation oder Volksgruppe, sondern können von verschiedenen Akteuren in Anspruch genommen werden. Bekannte Beispiele dafür sind der Adler, der Löwe und auch der Bär. Auch heute noch dient der Adler einer Vielzahl von Staaten als Wappensymbol (Deutschland, Russland, Polen, Österreich), und auch der Bär findet Erwähnung in zahlreichen Geschichten und prangt auf den Wappen verschiedenster Staaten (wie US-Bundesstaaten oder auch Regionen in Russland).
Ihre genauen Bedeutungen und Darstellungen können dabei variieren, und dem jeweiligen Anspruch und Geschmack der Zeit angepasst werden. Neben den oben genannten existieren im Simplicissimus zahlreiche weitere Tierbilder. Von Mäusen, Ratten, Vögeln, über Reptilien, Insekten und Ungeziefer bis hin zu verrückten Misch- und missgebildeten Fantasiewesen – die Karikaturisten konnten ihrer Fantasie freien Lauf lassen, sofern die Bilder der aktuellen politischen Lage oder dem gesellschaftlichen Sinn entsprachen und der breiten Bevölkerung verständlich waren.
Um Tierbildern eine tiefere Bedeutung oder eine Wertung zu verleihen, eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche karikaturistische Darstellung, bedarf es jedoch weiterer Merkmale, mit denen sie ausgestattet werden. Beispielsweise bestimmte Bewegungen, Verkleidungen oder auch menschliche Züge. Insbesondere ein dem Menschen ähnliches Verhalten wie Sprechen oder formulierte Gedankengänge verleiht den Tieren einer Karikatur die notwendige Ausdruckskraft und Verständlichkeit. Die Karikaturisten des Simplicissimus schufen eine Palette unterschiedlichster Tierbilder, angepasst an die Themen und Zeiträume und machten die Tiersymbolik zu einem wirksamen karikaturistischen Instrument der Satirezeitschrift.
Die folgenden Beispiele sollen einen Einblick in die osteuropäische Tierwelt des Simplicissimus geben. Ihre Auswahl begründet sich mit ihrer Popularität und einer zeitlich gut nachvollziehbaren Erwähnung in der Satirezeitschrift, die auch eine Beobachtung des Wandels ihrer Darstellung zulässt. Adler, Löwen, Bären, Affen und Hunde werden im Folgenden jeweils vorgestellt, und in ihrer Funktion als Stereotyp für eine bestimmte Nation oder Bevölkerungsgruppe untersucht. So lässt sich vorwegnehmen, dass der Adler mit Polen, der Bär mit Russland und die Löwen, Affen und Hunde in Verbindung mit Tschechien und seiner Bevölkerung betrachtet werden. Darüber hinaus wurde der osteuropäische Tierzirkus im Simplicissimus durch eine Vielzahl weiterer Tiere und Wesen dargestellt. Für eine detaillierte Darstellung all seiner facettenreichen Erscheinungsformen und weiterer Tiere bietet dieser Essay jedoch leider nicht ausreichend Platz. Der untersuchte Zeitraum reicht hierbei von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als der Simplicissimus seine Arbeit einstellte.
Der Adler zählt zu den prominentesten Tieren im Simplicissimus. Ob als russisches, preußisches, polnisches oder doppelköpfiges österreichisch-ungarisches Wappensymbol – der König der Lüfte bot den Karikaturisten etliche Möglichkeiten, ihn als Staatssymbol und politisierte Figur zu nutzen. Insbesondere der polnische Adler fand regelmäßige Erwähnung und dient daher als gutes Beispiel dafür, wie sich ein Tierbild mit der Zeit und der politischen Situation wandeln kann. Er soll im Folgenden auch als Beispiel dafür dienen, wie sich die Veränderung der Beziehung Deutschlands zu Polen anhand ausgewählter Karikaturen erkennen und erklären lässt.
Als Symbol für den polnischen Staat oder seine Bevölkerung wird der Adler im Simplicissimus dabei mit für die Nation charakteristischen Merkmalen ausgestattet: die Rogatywka, eine traditionelle Militärmütze, mit weißen Federn und zum Teil auch gekleidet in Nationalfarben.
Thomas Theodor Heine nutzte 1916 gleich eine ganze Adlerfamilie, um den politischen Umbruch im Polen und Europa des Ersten Weltkriegs darzustellen, woran zugleich das positive
Polenbild der Deutschen in der Zeit deutlich wird. Die Zeichnung mit dem Titel „Der polnische Adler“[1] [s. Abbildung 1] zeigt einen deutschen Adlervater, die (doppelköpfige) österreichisch-ungarische Adlermutter, und das Adlerküken – polnischer Natur – es ist zu erkennen an den weißen Federn. Von den wachsam dreinblickenden Adlereltern gut behütet, liegt der junge Adler im Wiegebett.
Die Unterschrift „Hoffentlich vergisst er nie, daß wir ihn ausgebrütet haben!“ macht deutlich, dass das insgesamt positive Gefüge in der friedlichen Familie von einer Prise Argwohn begleitet wird.
Die Darstellung verdeutlicht die relativ positive Einstellung Deutschlands gegenüber Polen und betont die allgemeine Freude zur Proklamation des Regentschaftskönigreichs Polen vom 5. November 1916 auf deutscher Seite, beziehungsweise der deutsch-österreichischen Verkündigung eines neuen, unabhängigen polnischen Staates[2]. Der polnische Historiker Tomasz Szarota deutet den weißen Adler in dieser Zeit als Wiedergeburt des polnischen Staates. An dieser Stelle sei auch auf den Beitrag von Martha Schmidt verwiesen, welcher sich tiefgehender u.a. mit der Darstellung der Staatenentstehung Polens (und der Tschechoslowakei) auseinandersetzt.[3]
Auch der bekannte Karikaturist Olaf Gulbransson thematisierte im Ersten Weltkrieg die Unabhängigkeit Polens. Gulbransson tat dies insbesondere mit Blick auf Russland, der bedrohlichen Macht aus dem Osten, die zu Anfang des ersten Weltkriegs weite Teile Polens besetzte, bevor sie im Sommer 1915 von deutschen Truppen zurückgedrängt wurde.[4] Die Zeichnung „Der russische Bär und der polnische Adler“ [s. Abbildung 2] schaffte es auf das Titelblatt einer Augustausgabe von 1915[5].
Der weiße Adler – Polen – erschien hier deutlich selbstbestimmter. Er entrinnt federlassend um Haaresbreite den Fängen des russischen Bären, der zwar verwundet ist, sich jedoch mit aller Macht aufbäumt, den Adler zu fangen, um ihn zu verspeisen („Und er hätte es in meinem Magen doch so gut gehabt.“). Einige Wochen nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Warschau erschien diese Karikatur sehr ambivalent, stellte sie doch Russland als die eigentliche und wahre Gefahr dar und lässt das deutsche Vorgehen unkommentiert.
Nur zwei Jahre später wandelte sich das Polenbild in der deutschen Karikatur grundlegend.
Mit Beginn des Jahres 1918 wuchs die Angst, der nun unabhängige Staat könne Gebietsansprüche im östlichen deutschen Reich erheben, was zu einer zunehmend polenfeindlichen Einstellung führt. Der Karikaturist Heine griff dies auf und stellte Polen als rigorosen Akteur dar, der in den deutschen Adlerhorst steigt und dort die deutschen Adlerküken weiß anstreicht, um sie zu polnischen zu machen: „[…] der Horst gehört jetzt dem weißen Adler“[6] [Abbildung 3] – ein Symbol der Angst vor Nationalitätenwechsel und Identitätsverlust der Deutschen durch mögliche Grenzverschiebungen in Polen. Die aufmüpfig dreinschauenden und gekränkten Adlerküken, und auch die herannahende, erhabene deutsche Adlermutter (charakteristisch für die deutschen Adler ist stets ihre schwarze Farbe) untermalen diese offensichtliche Ungerechtigkeit.
Dieses sehr kritische Bild zum Ende des Ersten Weltkrieges hielt über die gesamte Zeit der Weimarer Republik an, wie Tomasz Szarota in einem umfassenden Werk zum Polenbild Deutschlands in der Karikatur festgestellt hat.[7] Doch wich man im Simplicissimus dieser Jahre zwischenzeitlich nicht nur vom Symbol des Adlers ab, sondern nutzte insgesamt weniger Tiersymbolik. Der Fokus lag stärker auf der Verwendung menschlicher Figuren wie dem Soldaten, Gauner oder Vielfraß, um Polen vermeintliche Attribute wie Unzivilisiertheit und Gier zuzuschreiben. Diese erschienen im Vergleich zum Adler aber mit eindeutig böswilligeren und minderwertigeren Charakterzügen, und transportierten gezielt ein negatives und bedrohliches Bild der polnischen Nation in Deutschland. Eine genauere Untersuchung nimmt dazu David Swierzy in seinem Essay vor, welcher spezifischer auf die Darstellung Polens eingeht.[8]
Das nächste Bild eines polnischen Adlers wurde der Leserschaft des Simplicissimus erst wieder 1939 präsentiert. In der Zwischenzeit, den Jahren der Weimarer Republik, hatte sich das Feindbild der Deutschen von Polen zwar zurückgebildet, auch in Folge der Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung beider Länder über die Nicht-Anwendung von Gewalt.[9] Als aber das Königreich Großbritannien Polen im April 1939 in einer informellen Abmachung militärischen Beistand zusicherte – für den Fall, dass Polen zum Ziel militärischer Aggressionen von deutscher Seite würde – reagierte man im Simplicissimus umgehend. Das Titelblatt einer Mai-Ausgabe[10] [Abbildung 4] zierte der polnische Adler, gebändigt von „John Bull“, der Personifikation der britischen Nation.
Karikaturist Erich Schilling stellte den Adler in realistischer Größe dar, jedoch vollkommen kontrolliert vom „Dompteur“ John Bull, welcher den Vogel unter Kontrolle hat und zum Befehl ansetzt. Der polnische Adler blickt entschlossen geradeaus, erscheint aber bestens dressiert und bereit für jeden Befehl. Das Bild des Adlers symbolisierte die Rückkehr zum negativen Feindbild, zeigte Polen zwar als kraftvoll, jedoch vor allem fremdbestimmt und aufgehetzt – die Polen seien den Deutschen zu abhängig von ihrer britischen Schutzmacht und nicht ganz geheuer.
Es war das letzte Bild des polnischen Adlers im Simplicissimus. Die letzten Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Kriegszeit selbst führten zu einer Eskalation antipolnischer Propaganda. Das Bild des Adlers fand keine Verwendung mehr, vielleicht, weil er den anderen Wappentieren zu ähnlich war, vielleicht, weil er als König der Lüfte zu majestätisch erschien. Zweiteres erscheint plausibel in Anbetracht der systematischen, verordneten Propaganda gegen die polnische Nation – denn für die Hetze und Erniedrigung schienen sich im Falle Polens die oben genannten menschlichen Darstellungen in Form von Ganoven und Vielfraßen deutlich besser zu eignen. Andere Tiere mit negativen Konnotationen, wie zum Beispiel Ungeziefer, Läuse und Ratten, wurden im Vergleich dazu deutlich weniger oft erwähnt. Beiträge wie die Zeichnung von Wilhelm Schulz mit dem Titel „Warschau wird desinfiziert“[11] [s. Abbildung 5] (Nagetiere, Wanzen und Käfer fliehen vor dem „deutschen Kammerjäger“[12]) waren hier Ausnahmen.
Dabei tauchten Sie durchaus regelmäßig in Verbindung mit anderen Nationen auf. So nutzten die Karikaturisten z.B. häufig Läuse und Wanzen, um die Länder des Balkans darzustellen und ihnen schädlingstypische Eigenschaften zuzuschreiben. Wie die folgenden Beispiele zeigen, ist die Diversität des osteuropäischen Tierzirkus im Simplicissimus auch bei den hier behandelten Tieren schon groß. Die Betrachtung und Analyse einer eigenen Gruppe von Nagern und Insekten, oder weiterer, von Natur aus abstoßender und ekelerregender Tiere verdient indes eine eigene Arbeit.
Zusammengefasst erschien der Adler in Verbindung mit Polen als multifunktionales Symbol, welches einen änderbaren Charakter hatte und je nach propagandistischen Erfordernissen unterschiedlich dargestellt werden konnte.[13] Jedoch fand seine Darstellung auch ein Ende, dort, wo Politik und Propaganda eine Intensivierung des Feindbilds Polen anstrebten.
Groß, stark, gefährlich und unberechenbar – aber auch ungeschickt und schwerfällig. Ein Bär vereint sehr verschiedene Eigenschaften und dient der Menschheit schon lange als Symbol- und Wappenfigur.
Mit Russland wird der zottelige Genosse aus der Wildnis bereits seit dem 16. Jahrhundert in Verbindung gebracht, und die Gründe dafür sind vielfältig. Das Land ist seit jeher das Zuhause vieler Bären – riesige Waldgebiete und dünn besiedelte Gegenden dienen ihnen als Lebensraum. Dennoch gilt das Symbol des russischen Bären, wie im Essay von Wladimir Dirksen beschrieben,[14] als westliche Erfindung. Der Vergleich des Bären mit Russland schrieb dem Land Attribute wie Wildheit, Gefahr und Größe zu. Seit dem 16. Jahrhundert wurde dieses Bild von westlichen Ländern verstärkt aufgegriffen, und entwickelte eine negative Konnotation mit Russland in Westeuropa.[15]
Durch Reisegeschichten, politische Rhetorik und auch Satire hat sich der Bär mit der Zeit so zu einem eigenständigen Symbol für Russland entwickelt, wurde zu einer nationalen Personifikation des Landes – und schuf ein bestimmtes Russlandbild; wild, barbarisch, zurückgeblieben, faul, unvorhersehbar und generell anders. Die Bär-Metapher diente im 20. Jahrhundert vor allem dazu, die Aggressivität und Größe Russlands abzubilden. Hauptsächlich sollte das in den westlichen Gesellschaften ein Gefühl von der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit wecken, und Angst und Respekt vor der Kraft des Wilden oder auch die Furcht, den „schlafenden Bären“ zu wecken[16], transportieren.
Den russischen Staat als Bestie darzustellen, rechtfertigte es außerdem auch, ihn als Beute zu behandeln. Auf vielen Zeichnungen posiert der Bär als gefangenes oder beherrschtes Tier, gerne
versehen mit einem Nasenring oder auch verletzt vom Kampf. Das wilde Tier erscheint in Literatur und Satire so auch immer wieder als Gejagter.[17]
Im Simplicissimus wurden derweil verschiedene Interpretationen verwendet, wobei die Grundcharakteristika des Tieres – bedrohlich, unzivilisiert und wild – fast immer Beachtung fanden. Deutlich wird dies mit Blick auf die oben schon beschriebene Karikatur: der russische Bär, der den polnischen Adler jagt. Hier erscheint der Bär in seiner in der Literatur häufig dargestellten Urform: aggressiv und wild. Den Adler jagend, trotz zahlreicher Verwundungen und abgebrochener Säbel und Bajonette, die in seinem geschundenen Körper stecken, das spitzzahnige Maul weit aufgerissen, um den Gegner zu reißen. Der Karikaturist Olaf Gulbransson machte die in Deutschland wahrgenommene, von Russland ausgehende Gefahr hiermit mehr als deutlich.
Sehr viel harmloser erscheint das Bärenbild dagegen noch einige Jahre zuvor. In einem Beitrag aus der Ausgabe vom 14. Oktober 1912[18] [Abbildung 6] taucht Russland als Spendensammler in Bärengestalt bei einer Attraktion auf, deren Mittelpunkt ein tanzendes Äffchen ist. Trommel spielend und Pistolensalven feuernd, tanzt es zur Dudelsackmusik eines britischen Musikanten. Das Äffchen hat die Gesichtszüge des französischen Staatsmannes Théophile Delcassé und symbolisiert Frankreich. Der russische Bär, er reicht den Menschen nur bis zur Brust, läuft friedlich auf Hinterbeinen durch die Menge und sammelt Geld für die Tanzeinlage des Äffchens, bittet einfache Franzosen um Spenden.
Die Zeichnung von Wilhelm Schulz spiegelt die Kritik Deutschlands an der Entente-Bildung von Russland, Frankreich und Großbritannien wider. Russland wird dabei die Rolle eines Bittstellers zugeschrieben, der die französische Motivation zur Kriegsführung wohlwollend unterstützt. Dem Bären kommt in seinem harmlosen Erscheinungsbild eine vergleichsweise friedliche Rolle zu, verstärkt noch durch seine geringe Körpergröße und die zahnlose Schnauze – ein vorlauter, aber untergeben und insgesamt zivilisiert agierender Charakter.
Zwei Jahre später, wenige Monate vor Kriegsbeginn, hat sich der Bär im Simplicissimus gewandelt. T. T. Heine nahm die guten russisch-französischen Beziehungen zum Anlass, um vor gemeinsamen militärischen Handlungen beider Länder gegenüber Deutschland zu warnen: die Karikatur mit dem Titel „Delcassés russischer Traum“[19] [s. Abbildung 7] zeigte den russischen Bären, nun gelenkt vom französischen Staatsmann. Der nunmehr um ein Vielfaches größere Bär erschien aggressiv und kampfbereit, schritt einem Schlachtross gleich voran. Zwar besattelt und gelenkt von der französischen Macht, wird Russland kurz vor Kriegsbeginn als ernste Gefahr wahrgenommen und dargestellt. Dass der Bär mit blauem Fell damit passend zur französischen Trikolore in Erscheinung tritt, lässt ihn nicht weniger bedrohlich auftreten.
In den Zwischenkriegsjahren durchlebt der russische Bär im Simplicissimus dann eine stete Verwandlung. Von wild, über lächerlich und ferngelenkt, bis zu verletzt und gebrochen wird er auf verschiedene Art und Weise gezeichnet und in Deutschland gefürchtet oder belächelt. Der Russische Bürgerkrieg in den Jahren 1917 bis 1921 stellte dabei eine besondere Phase dar, der Beitrag von Wladimir Dirksen geht gesondert auf das Bild des russischen Bären in dieser Zeit ein.[20]
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs tauchte der russische Bär schließlich wiederholt in Karikaturen zu einem bestimmten Thema auf: der Aufteilung Europas durch die Siegermächte. Deutsche Karikaturisten wie Politiker waren sich nicht sicher, welches Ende der Krieg nehmen würde. Die Spekulationen darüber schlossen aber meistens eine Aufteilung Europas (oder sogar der Welt) durch die Alliierten ein. Dabei kamen Russland und dem Bären die unterschiedlichsten Rollen zu. Mal wild und gefährlich, mal zurückhaltend oder gezähmt – die Darstellungen variierten. Doch die Gestalt des Bären als Personifizierung Russlands – ein Alleinstellungsmerkmal – blieb konstant in den letzten Kriegsjahren. Ob als vermeintlich „zahmer Bolschewismus“, von erhabener Statur und mit spitzen Zähnen, aber mit Schleife und Blumenkranz geschmückt, geschminkt und von US-Präsident Roosevelt an der Leine gehalten [Abbildung 8].[21] Oder als gierige Bestie, nach einer Europakarte schnappend, mit der Winston Churchill sie lockt [Abbildung 9].[22] Oder auch im Kampf mit dem britischen Löwen um die Weltkugel, die Zähne bleckend, aufrecht auf den Hinterbeinen [Abbildung 10].[23]
Zuletzt wurde der russische Bär stets möglichst realitätsnah abgebildet und so die Betonung auf seine Hauptattribute gelegt: Unberechenbarkeit und Gefahr.
Die Darstellung des Bären zeigt: in Deutschland war man sich nicht sicher, welche Rolle Russland zu der Zeit einnahm und welche Ziele es verfolgte. Insbesondere die Unberechenbarkeit des riesigen und wilden Reiches im Osten, beschworen durch die vielfältigen Bilder einer wandelbaren Bestie, erzeugten im Deutschland der Kriegszeit Ressentiments und eine Angst vor dem östlichen Unbekannten. Vor dem russischen Staat, seiner Gesellschaft und ihrem Militär.
Weitere interessante Tierbilder im Simplicissimus kommen zum Vorschein bei näherer Betrachtung von Karikaturen, die sich mit Böhmen und Tschechien, später der Tschechoslowakei beschäftigen. Auch hier ist zu beobachten, wie sich das Bild der Region in Deutschland änderte, die Karikaturisten sich mit der Zeit jedoch sogar wechselnder Tierbilder bedienten.
Das anfängliche Bild der Tschechen und auch der böhmischen Bevölkerung übertrumpft die Bilder wilder Bären in punkto Wildheit noch deutlich.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Beziehungen Deutschlands zu Tschechien stark geprägt von einer politischen Debatte um einen ethnografischen Konflikt zwischen deutsch- und tschechisch sprachigen Menschen in der Region des Habsburger Reiches. Zwar bildete Böhmen seit Jahrhunderten einen gemeinsamen Lebensraum deutscher sowie tschechischer
Menschen. Die politische Stimmung kippte zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch stark zum Nationalismus, als Folge einer gescheiterten Ausgleichspolitik, die eine Ebnung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten zwischen dem deutschen Reich und der tschechisch geprägten Region in Böhmen anstrebte. Auswirkung dieser Nationalismus-Welle war eine stark abwertende Haltung Deutschlands gegenüber den Tschechen im Habsburger Reich und ein herabwürdigendes Bild der Bevölkerung in der deutschen Satire.
Thomas Theodor Heine zeichnete 1904 ein Bild der „wilden Czechen“[24] [Abbildung 11]: eine Ansammlung wilder Geschöpfe, die Mischwesen aus Affen und Menschen zu sein scheinen und sich äußerst zurückgeblieben verhalten.
Sie sollten Tschechen darstellen, die aus deutscher Sicht unzivilisiert, unberechenbar und zum Teil gefährlich agieren. Auf Bäumen sitzend, randalierend, mordend und plündernd machen sie den gebildeten und entwickelten Deutschen die „Zivilisierung Böhmens“ zu einer schweren Aufgabe in der Kolonialpolitik, eine „ungleich schwerere“[25] als die Niederwerfung des Hereroaufstandes in Afrika, wie der Autor es nennt. Der Vergleich mit der äußerst brutal und unmenschlich geführten Kolonialpolitik des Deutschen Reiches in Afrika und die Gleichsetzung der tschechischen Bevölkerung mit der aus
Perspektive der Kolonisatoren überaus „unzivilisierten“ afrikanischen Bevölkerung zeigt, wie negativ das Bild der Tschechen im Deutschland dieser Zeit war.
Die Zeichnung „Die böhmische Hundswut“[26] [s. Abbildung 12], vier Jahre später ebenfalls von Heine gezeichnet, bestätigt die herabwürdigende Einstellung gegenüber der böhmischen Bevölkerung.
Auch hier bedient sich Heine des Bildes einer unterentwickelten und aggressiven Gruppe (das Wort „Bevölkerung“ wäre dementsprechend sogar fehl am Platz), die Deutschland, hier personifiziert als deutscher Reichsritter, belästigt und angreift. Der Karikaturist wählt diesmal eine andere Erscheinungsform: wilde Wesen, auf den ersten Blick Mischungen aus Hunden, Menschen und Affen, die aber Merkmale böhmischer Löwen aufweisen – charakteristisch sind der zweigeteilte Schwanz, wie er auch heute noch beim Wappentier der Tschechischen Republik zu finden ist, sowie Ansätze einer löwentypischen Mähne und sehr spitze Zähne. Stand in dem vorherigen Werk noch die Unzivilisiertheit im Vordergrund, so erscheinen die wilden, böhmischen Mischwesen hier in erster Linie aggressiv und tollwütig.
Das Wort „Hundswut“ im Titel – ein Synonym für die Tollwut – unterstreicht die im Simplicissimus wahrgenommene, von den Böhmen ausgehende, unkontrollierte Aggressivität. Der abgebildete Ritter ist durch seine Rüstung von der ansteckenden Krankheit geschützt, und überlegt, sein Schwert gegen die geifernden Bestien zu ziehen („“Ist denn kein Hundefänger da? Ich will doch mein Schwert nicht beschmutzen.“„)[27]
So macht der Autor mit der Darstellung deutlich, dass die Mischwesen trotz Ähnlichkeit zum Löwen dennoch höchstens als verwilderte Tiere zu sehen sind – eine Stigmatisierung des böhmischen Wappentiers und Zeichen für den Glauben an die deutsche Vormachtstellung im gemeinsamen Kulturraum.
Erst mehr als dreißig Jahre später wurde der Löwe im Simplicissimus wieder klar mit Tschechien in Verbindung gebracht.
Anders als beispielsweise der russische Bär erschien der König der Tiere in Verbindung mit verschiedenen Nationen. Mal erhaben, mal als wildes Raubtier, schenkten ihm die Karikaturisten im Simplicissimus verschiedene Bedeutungen und ordneten ihm unterschiedliche Eigenschaften zu. Der prominenteste Konkurrent der böhmischen Version ist dabei der britische Löwe, Symbol für das Königreich England und vielfach karikaturistisch erwähnt. Deutlich wird dies in der Karikatur „Der britische und der tschechische Löwe“ [s. Abbildung 13] von Erich Schilling, gezeichnet 1938.[28]
Zu sehen sind ein britischer und ein tschechischer Löwe, ersterer weist die klassischen Merkmale des Königs der Tiere auf – majestätisch, erhaben und von aufrechter Statur – wohingegen das tschechische Exemplar in einer aufgehetzten, einem Wildtier oder gar Ungetüm ähnlichen Stellung posiert, in gebückter Haltung, mit zerzauster Mähne und gefletschten Zähnen. Charakteristisch für ihn ist wieder der Doppelschwanz.
Erschrocken und fast schon erzieherisch betrachtet der britische Löwe seinen tschechischen Artgenossen und denkt: „Ich glaube es war doch ein Fehler, so etwas groß zu ziehn!“ Gemeint war die Rolle Großbritanniens als Schutzmacht und Unterstützer der Entstehungsgeschichte eines souveränen (tschechoslowakischen) Staates im Rahmen der Verträge von Saint-Germain und als Triple-Entente Mitglied nach dem Ersten Weltkrieg.[29] Aus deutscher Perspektive eine scheinbar schwer nachvollziehbare Politik, die den Stereotyp einer verwilderten, aber nunmehr mit Souveränität ausgestatteten tschechischen Gesellschaft hervorhob.
Das Bild stellte eine deutliche Veränderung im Vergleich zu den hunde- und affenähnlichen Wesen dar, die zu der Zeit des Habsburger Reiches für Böhmen und Tschechen verwendet wurden. Jedoch wurde auch der neue Staat der Tschechoslowakei noch als wild und gefährlich eingestuft, wenn auch unter Verwendung seines majestätischen Wappentieres. Eine positivere Darstellung des böhmischen Löwen findet sich im Simplicissimus allerdings nicht.
Die genannten Beispiele verdeutlichen die Vielfalt der Tiersymbolik in den im Simplicissimus verwendeten Karikaturen. Während die gewählten Tiere sehr charakteristisch sind für ihre Länder und Regionen, finden sich in der Zeitschrift noch eine Vielzahl anderer Tiergestalten, die wahlweise auch nationenübergreifend verwendet wurden und in sehr unterschiedlichen Kontexten als Stereotype dienten. Gerade deshalb lohnt ein Blick auf die künstlerisch durchaus gelungenen Karikaturen, welche sich wiederkehrender Tierbilder und Stereotype bedienen, um einen Spiegel der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in dieser ereignisreichen Zeit zu sehen. Der russische Bär ist hierbei die wahrscheinlich bekannteste nationale Personifikation eines Landes und zeigt, wie schwer es fällt, von seiner Verwendung abzuweichen. Auch heute wird das Tier in Medien und Karikaturen verwendet und dient der einfachen Darstellung Russlands – ein Stereotyp über Jahrhunderte. Im Fall des polnischen Adlers wird deutlich, dass seiner Verwendung als Stereotyp gewisse Grenzen gesetzt sind. So wird Polen in den propagandistisch wichtigen Kriegsjahren des zweiten Weltkriegs nicht mehr im Zusammenhang mit dem König der Lüfte erwähnt, der Simplicissimus verlässt hier die Tierwelt und legt den Fokus auf menschliche Abbildungen.
Und auch das letzte Beispiel bestätigt: die Karikaturisten zeigten Kreativität, doch sahen sie auch Grenzen bei der Verwendung von Tiersymbolik. So wählten sie bei bestimmten Themen zu Tschechien und Böhmen nicht das majestätische Wappensymbol des Löwen, sondern bedienten sich minderwertiger Tierbilder wie randalierender Affen oder unzivilisierter Hunde. Der böhmische Löwe, wie auch der polnische Adler ließen sich nur bis zu einem gewissen Punkt negativ porträtieren. Schließlich dienten auch die Tierbilder, wie die vielen anderen Karikaturen im Simplicissimus, politischen Zwecken und wurden für propagandistische Zwecke genutzt. Ihr Wiedererkennungswert spielte dabei die wahrscheinlich größte Rolle. Zu welchem Grad dies die deutsche Bevölkerung in ihrem Denken über Osteuropa beeinflusst hat, kann nur vermutet werden. Abschließend liefern die Tierdarstellungen einen wertvollen Beitrag zur Analyse des Bildes Osteuropas im Simplicissimus und sind ein einfacher Einstieg in die Welt der Satire – früher wie heute.
[1] Heine, Thomas Theodor: Der polnische Adler, in: Simplicissimus, 21.11.1916, Jg. 21, Nr. 34, S. 425.
[2] Vgl. Szarota, Tomasz: Stereotype und Konflikte: Historische Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen, Osnabrück: Fibre, 2010, S. 134.
[3] Vgl. Schmidt, Martha: Die Sicht des Simplicissimus auf den Aufbau von Nationalstaaten in Polen und der Tschechoslowakei.
[4] Vgl. Stevenson, David: 1914–1918: The history of the First World War, London: Penguin Books 2012, S. 130.
[5] Gulbransson, Olaf: Der russische Bär und der polnische Adler, in: Simplicissimus, 24.8.1915, Jg. 20, Nr. 21, S. 241.
[6] Heine, Thomas Theodor: Das Selbstbestimmungsrecht der Polen, in: Simplicissimus, 5.11.1918, Jg. 23, Nr. 32, S. 397.
[7] Vgl. Szarota 2010.
[8] Vgl. Swierzy, David: Zwischen Satire und Agitation – der Simplicissimus und die Deutsch-Polnischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit.
[9] Deutsch-Polnische Deklaration über Nichtanwendung von Gewalt, vgl. Bingen, Dieter: Deutschland und Polen, 10.2.2009, in: Dossier Deutsch-polnische Beziehungen, Bundeszentrale für politische Bildung (zuletzt aufgerufen am 25.10.2020).
[10] Schilling, Erich: John Bull und der polnische Adler, in: Simplicissimus, 21.9.1939, Jg. 44, Nr. 20, S. 229.
[11] Schulz, Wilhelm: Warschau wird desinfiziert, in: Simplicissimus, 5.10.1939, Jg. 44, Nr. 44, S. 525.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Szarota 2010, S. 155.
[14] Vgl. Dirksen, Wladimir: Die Bärenmetapher im Simplicissimus während des Russischen Bürgerkriegs 1917–1921.
[15] Vgl. Lazari, Andrzej, de / Riabov, Oleg / Zakowska, Magdalena: The Russian Bear and the Revolution: The Bear Metaphor for Russia in Political Caricatures of 1917–1918, in: Vestnik of Saint Petersburg University. Arts, Vol. 9, no. 2 (2019), S. 325-345, hier S. 326 (zuletzt aufgerufen am 25.10.2020).
[16] Vgl. ebd., S. 327.
[17] Vgl. Żakowska, Magdalena: Bear in the European Salons: Russia in German Caricatures, 1848–1914, in: Demski, Dagnosław (Hrsg.): Images of the other in ethnic caricatures of Central and Eastern Europe, Warszawa: IAiE, 2010, S. 338-361, hier S. 344.
[18] Schulz, Wilhelm: Die Tripleentente, in: Simplicissimus, 14.10.1912, Jg. 17, Nr. 29, S. 453 (Titelseite).
[19] Heine, Thomas Theodor: Delcassés russischer Traum, in: Simplicissimus, 9.3.1914, Jg. 18, Nr. 50, S. 833 (Titelseite).
[20] Vgl. Dirksen, Wladimir.
[21] Schilling, Erich: Roosevelt und der Bolschewismus, in: Simplicissimus, 3.3.1943, Jg. 48, Nr. 9, S. 129 (Titelseite).
[22] Schulz, Wilhelm: Der Europabissen, in: Simplicissimus, 24.2.1943, Jg. 48, Nr. 8, S. 113 (Titelseite).
[23] Schulz, Wilhelm: Der Kampf um die Kugel, in: Simplicissimus, 12.1.1944 Jg. 49, Nr. 2, S. 15.
[24] Heine, Thomas Theodor: Die wilden Czechen, in: Simplicissimus, 29.3.1904, Jg. 9, Nr. 1, Seite 9 (Abb. 11).
[25] Ebd.
[26] Heine, Thomas Theodor: Die böhmische Hundswut, in: Simplicissimus, 14.12.1908, Jg. 13, Nr. 37, Titelseite (Abb. 12).
[27] Ebd.
[28] Schilling, Erich: Der britische und der tschechische Löwe, in: Simplicissimus, 4.9.1938, Jg. 43, Nr. 35, S. 416 (Abb. 13).
[29] Vgl. Hoensch, Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei, Stuttgart: Kohlhammer, 1992.
Bingen, Dieter: Deutschland und Polen, 10.2.2009, in: Dossier Deutsch-polnische Beziehungen, Bundeszentrale für politische Bildung.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei, Stuttgart: Kohlhammer, 1992.
Simplicissimus. Klassik Stiftung Weimar.
Stevenson, David: 1914 - 1918: The history of the First World War, London: Penguin Books, 2012.
Szarota, Tomasz: Stereotype und Konflikte: Historische Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen, Osnabrück: Fibre, 2010.
Lazari, Andrzej, de / Riabov, Oleg / Zakowska, Magdalena: The Russian Bear and the Revolution: The Bear Metaphor for Russia in Political Caricatures of 1917–1918, in: Vestnik of Saint Petersburg University. Arts, Vol. 9, no. 2 (2019), S. 325-345
Żakowska, Magdalena: Bear in the European Salons: Russia in German Caricatures, 1848–1914, in: Demski, Dagnosław (Hrsg.): Images of the other in ethnic caricatures of Central and Eastern Europe, Warszawa: IAiE, 2010, S. 338-361.
Fiete Lembeck
Erschienen am 20.11.2020