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"Der weise Rabbi", "eine empfindliche Nase" und die "Sowjetjuden" – das Bild osteuropäischer Juden* im "Simplicissimus"

 

Der Simplicissimus war bis zu seiner Gleichschaltung 1933 nie ein Magazin mit auffallend vielen antijüdischen Karikaturen oder Texten. Wenn man die Zeichnungen aber genauer untersucht, bedienten sich die Karikaturisten des Simplicissimus doch häufig unterschwellig-antijüdischer Klischees und Stereotypen. Solche Darstellungen gehörten schon seit dem Mittelalter in das allgemeine kulturelle Bildergedächtnis westlicher Kulturen. Deshalb wurde beispielsweise die Figur des gierigen Kapitalisten mit großer Nase auf den ersten Blick nicht direkt als antisemitisch gesehen; in einem historischen Zusammenhang verdient dieser Charakter aber eindeutig eine solche Zuschreibung. Ein karikaturistischer Sonderfall sind die sogenannten Ostjuden*[1], die nach der Teilung Polens meistens in den „Schtetl“, also Orten mit überwiegend jüdischer Bevölkerung, oft in großer Armut lebten. In ihrer Darstellung vereinen sich sowohl Negativbilder über Juden* als auch über Osteuropa. Wie diese Klischees aussahen, sich über die Zeit entwickelten und welchen Einfluss die jüdischen Zeichner des Simplicissimus auf dieses Bild hatten, soll nun im Folgenden gezeigt werden. Die ersten Abschnitte dieses Textes stellen eine allgemeine Einführung und Untersuchung antijüdischer Stereotype dar. Im zweiten Teil rücken der Simplicissimus und seine Karikaturen von (osteuropäischen) Juden*, aber auch seine allgemeine Einstellung zum Antisemitismus ins Blickfeld.

 

„Der ewige Jude“ – antijüdische Klischees und Stereotypen

Jüdische Körper wurden in humoristischen oder diffamierenden Bildern seit dem Mittelalter extrem stereotypisiert. Die dargestellten Personen sollten von der potenziellen Leserschaft sofort als jüdisch erkannt und in ihrer Vorstellung in die entsprechende Schublade einsortiert werden. Um ihre Fremdheit, ihre Abweichung von der „Norm“ zu betonen, entsprachen Karikaturen von Juden* daher zunächst einmal schlicht nicht dem gängigen Schönheitsideal. Sie wurden oft als auffallend hässlich, manchmal fast teufelsgleich gezeichnet: Ähnlich den Vorurteilen schwarzen Menschen gegenüber[2], mit gekräuselten Haaren und großen abstehenden Ohren. Häufig hatten sie einen Bart. Ein zusätzliches Attribut war ein unansehnlicher Buckel, aber ihr Hauptmerkmal in der Karikatur blieb die große, unförmige Nase.[3]

Dabei mussten die dargestellten Personen nicht einmal tatsächlich jüdisch sein, sondern nur mit dem Judentum in Zusammenhang gebracht werden, sodass sie in Zeichnungen mit den entsprechenden „jüdischen“ Attributen versehen wurden.[4] Aus der Zeit des Simplicissimus sei hier Charlie Chaplin genannt, der selbst zwar kein Jude war, aber nicht nur in Diffamierungsversuchen der NS-Presse als solcher bezeichnet wurde [s. Abbildung 1].

Neben den Stereotypen über das Aussehen von Juden* gab und gibt es leider bis heute noch mehr Klischees und Vorurteile über ihren angeblichen Charakter und ihr Verhalten. Eine hartnäckige Vorstellung, die auch durch die Theorien über das unterschiedliche Entwicklungslevel der „Rassen“ verstärkt und später in der NS-Zeit schon fast fetischisiert wurde, war der angeblich unnormale und übersteigerte Sexualtrieb jüdischer Männer. Besonders wurde dieser mit der Begierde auf junge Mädchen verbunden, sei dies im Zusammenhang von Mädchenhandel und Prostitution oder auch von angeblich häufigen Übergriffen auf junge Frauen [s. Abbildung 2].

Der wahrscheinlich älteste und hartnäckigste Stereotyp ist wohl die angeblich enge Verbindung zwischen Juden* und Geld. Schon im Mittelalter war diese Vorstellung weit verbreitet, da Juden* damals aus beinahe allen Zünften ausgeschlossen und deshalb auf „unehrenhafte“ Professionen wie Pfand- oder Geldverleiher beschränkt waren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Klischee des betrügerischen und habgierigen Juden* hat hier seinen Ursprung. In der Moderne wurde das Bild des Juden* oft synonym mit dem des nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten Kapitalisten*, der um des Profits willen seine Mitmenschen hinterging, und der in das Standardrepertoire europäischer und amerikanischer Karikaturist*innen überging.[5] Dazu trugen in Deutschland und Frankreich die zunehmende Assimilation der jüdischen Bevölkerung an die bürgerliche Lebenswelt, die Änderungen restriktiver Gesetze und die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs mit bei. Jüdischsein ließ sich nicht mehr allein durch die Kleidung, den Beruf oder die gesellschaftliche Stellung erahnen. Es entstand in antijüdischen Kreisen die krude Theorie, dass all das nur ein Versuch sei, die Mehrheitsgesellschaft zu schwächen und zu untergraben. Haltlose Verschwörungstheorien wie die Protokolle der Weisen von Zion[6]  wurden verbreitet, um Hass und Angst zu schüren. Sowohl der Kapitalismus, als auch der aufkommende Kommunismus (also zwei genau entgegengesetzte Weltanschauungen) wurden als Ausdruck eines sogenannten Weltjudentums interpretiert, das in unbestimmter Zukunft ein von Juden* dominiertes weltweites Herrschaftssystem schaffen wolle.[7]

 

„Kapitalisten“ oder „Luftmenschen“ – Vorurteile gegenüber osteuropäischen Juden*

In der Zeit um die Jahrhundertwende hatte sich neben diesen kollektiven Stereotypen dem Judentum gegenüber einer Untergruppe gebildet, die sich spezifisch gegen osteuropäische Juden* richtete. Der Begriff „Ostjudentum“ wurde erst ab Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, er bezog sich aber auf Vorstellungen und Klischees, die schon wesentlich länger gebräuchlich waren. Der reelle Hintergrund waren die vielen in Schtetln lebenden jüdischen Menschen im Ansiedlungsrayon des Russischen Reiches[8] und in Galizien, die ihr Leben oft an der untersten Armutsgrenze führen mussten. Diese „Luftmenschen“ wussten oft am Morgen nicht, wie sie bis zum Abend überleben sollten und ergriffen jede sich ihnen bietende Gelegenheit, die ihnen etwas Geld oder Essen versprach. Sie waren in Karikaturen leicht an ihrem Bart und ihrer schmuddeligen Kleidung erkennbar. Im Simplicissimus fanden Geschichten über den Alltag dieser Menschen regelmäßig Eingang in Anekdoten in der Tradition eines selbstironischen Humors, der typisch jüdisch sein sollte [s. Abbildung 3 und 4].

Erstaunlicherweise trugen vor allem die assimilierten Juden* westeuropäischer Länder zur Verbreitung dieses Negativbildes bei. Da seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr osteuropäische Juden* nach Deutschland kamen – sei es nun, weil es eine Zwischenstation auf ihrem Weg in ein neues Leben in den USA war oder um gleich dort eine neue Heimat zu finden – mussten sich die deutschen Juden* mit ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrer Rolle in der Gesellschaft auseinandersetzen. Indem sie sich über ihre östlichen Glaubensgenossen lustig machten, sie als unmoralisch und sozial rückständig darstellten, suggerierten sie, dass sie sich selbst schon lange weit von diesem „ursprünglicheren“ Judentum distanziert hätten. Für sie war es wichtiger zu zeigen, dass sie die jahrhundertealten Stereotypen hinter sich gelassen hatten und mit den Werten des liberalen, aber auch patriotischen Bürgertums übereinstimmten[9] [s. Abbildung 5].

Der Simplicissimus und der Antisemitismus

Anders als in anderen beliebten Satiremagazinen der Zeit wie etwa der Berliner Kladderadatsch, der schon 1848 gegründet worden war, und für das (neben dem Berliner Dialekt) die Kultivierung des Jiddischen und Anekdoten mit „typisch jüdischem Humor“ lange Zeit ein wichtiger Bestandteil waren, gehörten jüdische Themen und Problematiken eher selten zu den Inhalten des Simplicissimus, dessen erste Ausgabe erst 1896 erschien. Diese Tatsache spiegelte auch den veränderten Zeitgeist wider. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die jüdische Minderheit in Deutschland vom liberalen Bürgertum als unterdrückt und in ihren Rechten eingeschränkt angesehen. Mit der voranschreitenden Emanzipation und Assimilation der jüdischen Bevölkerung an die Mehrheitsgesellschaft änderte sich dies. Juden* wurden um die Jahrhundertwende immer öfter als erfolgreiche Geschäftsleute beziehungsweise gesellschaftliche Emporkömmlinge wahrgenommen. Deswegen war das Stereotyp des ausbeuterischen jüdischen Kapitalisten* in dieser Zeit wesentlich präsenter als noch ein halbes Jahrhundert zuvor.[10]

Der Simplicissimus hatte sich von Anfang an auch nicht an ein jüdisches Publikum gewendet, sondern hatte vielmehr eine bürgerlich liberale Zielgruppe im Blick. Deswegen wurden spezifisch jüdische Themen eher selten aufgegriffen. Andererseits zeigte sich das Magazin als grundlegend empathisch und auf der Seite der Schwächeren, wenn Themen wie die Ungleichbehandlung jüdischer Rekruten in der Armee des Kaiserreiches in eine Ausgabe Eingang fanden. Tatsächlich wurde das Magazin deshalb in der zeitgenössischen Rezeption als pro-jüdisch eingeordnet. Trotzdem herrschte in den Karikaturen und Texten oft ein unterschwelliger Skeptizismus gegenüber dem assimilierten, deutschen Judentum vor, da dieses durch seinen sozialen Aufstieg in Konkurrenz zu den nichtjüdischen Deutschen standen.[11]

Es gab jedoch zwei häufig verwendete Feindbilder im Simplicissimus, die stark antijüdisch konnotiert waren: Zunächst einmal allgemein das des jüdischen Kapitalisten*, zum anderen die Vorstellung, dass der deutsche Verlags- und Literaturbetrieb von Juden* dominiert sei, die sich nicht durch eigene kreative Leistungen hervortaten, sondern ihren Erfolg der Arbeit anderer verdankten. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Ludwig Thoma, der nicht nur einer der bekanntesten bayrischen Autoren, sondern auch ein entschiedener Antisemit war, und sich häufig über die „jüdische Presse“ beklagte. Aber er war bei weitem nicht der einzige Autor des Simplicissimus, der so dachte. Eine Karikatur von Rudolf Wilke [s. Abbildung 6] versinnbildlicht hier exemplarisch, was damit gemeint ist: Der Mann, der hier als „Berliner Schriftsteller“ tituliert wird, ist tatsächlich der bedeutende deutsche Verleger Samuel Fischer, der Gründer des S. Fischer Verlages. Er entstammte einer jüdisch-ungarischen Familie und hatte bis zur Veröffentlichung der Karikatur neben Henrik Ibsen schon Werke von Émile Zola, Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski auf Deutsch publizieren lassen. Die Darstellung ist eindeutig osteuropäisch-jüdisch stereotypisiert – hässlich, mit großer Nase, großen Ohren, Bart, Hut und ungepflegter Kleidung – was von dem Text in einer Nachahmung eines stark stereotypisierten jiddischen Dialekts („Berliner Schriftsteller, wo hat gemacht berühmt den Ibsen“) noch einmal unterstrichen wird. Es wird ihm hier also unterstellt, dass er nur durch die Aneignung fremder Leistungen zu seiner jetzigen gesellschaftlichen Position aufgestiegen sei.[12]

Jüdische Autoren im Simpl und ihre Sicht auf die „Ostjuden“

Trotz der Vorurteile über den Einfluss von Juden* auf den Kulturbetrieb hatte es mehrere jüdische Karikaturisten und Autoren gegeben, die teilweise regelmäßig ihre Arbeit im Simplicissimus veröffentlichten. Dazu gehörte beispielsweise Jakob Wassermann, aus dessen Feder über 30 Beiträge in Form von Gedichten und Geschichten stammten und der dort auch eine Zeit lang als Redakteur arbeitete. Zwischen 1920 und 1933 waren seine Bücher, in denen er sich mit der Rolle des Judentums in Deutschland und seinem Ringen um Gleichberechtigung auseinandersetzte, überaus populär.[13] Seine Einstellung gegenüber osteuropäischen Juden* war allerdings äußerst zwiegespalten. Dies äußerte sich zwar nicht in seinen Beiträgen im Simplicissimus, in seiner Autobiografie Mein Weg als Deutscher und Jude schrieb er aber:

„Sah ich einen polnischen oder galizischen Juden, sprach ich mit ihm, bemühte ich mich, in sein Inneres zu dringen, seine Art zu denken und zu leben zu ergründen, so konnte er mich wohl rühren oder verwundern oder zum Mitleid, zur Trauer stimmen, aber eine Regung von Brüderlichkeit, ja nur von Verwandtschaft verspürte ich durchaus nicht. Er war mir vollkommen fremd, in den Äußerungen, in jedem Hauch fremd, und wenn sich keine menschlich-individuelle Sympathie ergab, sogar abstoßend.“[14]

Wassermann drückt an dieser Stelle das bereits erwähnte Unbehagen aus, das er mit vielen deutschen Juden* in Bezug auf die aus Osteuropa kommenden jüdischen Eingewanderte teilte. Man kann hier deutlich den verinnerlichten Antisemitismus erkennen, den viele in Deutschland aufgewachsene Juden* durch die Ablehnung oder gar Verleugnung ihrer eigenen Herkunft entwickelt hatten, und den sie nun auf eine Gruppe projizierten, die ihnen durch ihre bloße Anwesenheit genau das vor Augen hielt.

Tatsächlich griff Thomas Theodor Heine – Sohn aus großbürgerlich-jüdischem Hause, Gründungsmitglied, Zeichner und Autor des Simplicissimus – bei seinen Darstellungen osteuropäischer Juden* auf für das Magazin außergewöhnlich eindeutige antijüdische Stereotype zurück. Die drei dargestellten polnischen Juden aus seiner Karikatur „Polonisierung Westpreußens“ hätten auch aus einem deutlich antijüdischeren Magazin stammen können [s. Abbildung 7]. Die Deutung der Zeichnung im Zusammenhang mit der Bildunterschrift „Bald werden wir sein die Einzigen, die hier noch reden daitsch“ bleibt weitgehend offen. Sollen die Hasen im Hintergrund die Polinnen und Polen darstellen, die sich „wie die Karnickel“ vermehren oder doch eben jene Juden*, die in den Augen des Autors durch ihre Verbreitung die Vorrangstellung der Deutschen in der Region unterminieren? Auf jeden Fall hätten sich die jüdische Bevölkerung in Westpreußen in ihrem Aussehen und ihrem Kleidungsstil kaum von der in Berlin, München oder anderen Großstädten unterschieden. Sie in dieser verzerrten und für ostjüdische typischen Art darzustellen, veranschaulicht vielmehr die Vorurteile, die der Zeichner gegenüber den dort lebenden Juden* hatte.

Ein noch stärker antisemitisches Weltbild zeigt sich in Heines Karikatur von 1903 mit dem Titel „Metamorphose“ [s. Abbildung 8]. Eine Leserschaft mit der entsprechenden politischen Überzeugung hätte dieses Bild als eine Bestätigung ihrer antisemitischen Vorstellungen verstanden. Die Grundaussage ist, dass sich osteuropäische Juden* (hier verkörpert durch einen „Moische Pisch“ aus Tarnopol), aber vielleicht auch Juden* im Allgemeinen nie von ihrem unveränderlichen „jüdischen“ Aussehen und ihren Attributen trennen können und von der Gesellschaft immer vor diesem Hintergrund gesehen werden – egal wie oft sie ihren Namen oder ihren Beruf ändern.[15]

 

Antisemitismus als russisches Phänomen?

Im Simplicissimus war Antisemitismus und die Benachteiligung von Juden* im Alltag selten ein Thema. Eine Ausnahme davon bildeten die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung im russischen Reich, welche in den Jahren 1906 und 1915 mehrfach in Beiträgen aufgegriffen wurden. Mit solchen Bildern und Texten wurde zum einen auf die angebliche Grausamkeit und Unzivilisiertheit des Zarenreichs im Gegensatz zum Deutschen Reich hingewiesen. Andererseits konnten die Autoren ihrem jüdisch-bürgerlichen Lesepublikum mit solchen Bildern nahelegen, dass gewalttätige, antijüdische Ausschreitungen in erster Linie ein ausländisches Phänomen waren. Ihnen würde im „zivilisierten“ Kaiserreich eine solche Verfolgung nicht drohen.[16] Der Fokus der Karikaturen lag vor allem darauf, dass in erster Linie der russische Staat für die Pogrome verantwortlich gemacht wurde, sei dies nun in der Rolle des emotionslosen Bürokraten, der wegen seiner Judenfeindlichkeit die Leichenberge ignorierte, des Zaren, der sich für die Unterdrückung der Juden* nicht interessierte[17] oder in der Form von gelangweilten Soldaten, die sich schon auf das nächste Pogrom freuten [s. Abbildung 9, 10 und 11]. Diese Perspektive des Simplicissimus führte längerfristig zu einer Verharmlosung antijüdischer Tendenzen in Deutschland, auch dadurch, dass gleichzeitig die immer populäreren Nationalsozialisten als dumm und einfältig gezeichnet wurden. Im Zusammenhang mit dem Klischee des mächtigen, kapitalistischen Juden* entstand eine Weltsicht, die der damaligen Realität eindeutig widersprach.[18]

Darstellung osteuropäischer Juden in der NS-Zeit

In den 1920er-Jahren gab es kaum Darstellungen von osteuropäischen Juden* im Simplicissimus. Nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 und der darauffolgenden redaktionellen Gleichschaltung im Simplicissimus änderten sich auch die Themen und die Zeitschrift entfernte sich weit von ihren anarchischen und unangepassten Wurzeln. Zwar erschienen immer wieder antisemitische Zeichnungen und Karikaturen, diese waren aber oft eher ein Versuch, die tatsächliche Situation in Deutschland herunterzuspielen oder zu zeigen, dass in anderen Ländern eine ähnliche Situation herrsche. Vielmehr wurde im Simplicissimus weiterhin das Stereotyp bestärkt, die internationalen Medien würden in erster Linie von Juden* beeinflusst. Außerdem gab es öfter Behauptungen in Hinblick auf die immer größere Zahl deutsch-jüdischer Emigranten*, denen man unterstellte, das Bild Nazideutschlands im Ausland aus Profitgründen besonders schlecht aussehen lassen wollten. Interessant ist in der Karikatur von Eduard Thöny „Noch einer“ [s. Abbildung 12], dass für den dargestellten jüdischen Mann, der mit einem pseudo-jiddischen Akzent spricht, Deutschland nur ein Gastland gewesen sein soll. Es wird also unterstellt, dass Juden* aus dem nicht-deutschen Ausland stammen, nun im Exil nur auf die Gelegenheit gewartet hätten, Deutschland schlecht zu machen und nie offiziell Teil der deutschen Gesellschaft gewesen seien.

Ein anderes antijüdisches Klischee, das in einigen Zeichnungen des Simplicissimus aufgegriffen wurde, war die angebliche Tatsache, dass ein Großteil der (sowjetischen) Kommunisten* jüdisch seien. Auch hier waren die Autoren des Simplicissimus in Bezug auf Quantität, Drastik und Bösartigkeit weit entfernt von ihren Kolleginnen und Kollegen in anderen deutschen Satirezeitschriften. Trotzdem sind die Zeichnungen „Tröster Litwinow-Finkelstein“ von Karl Arnold [s. Abbildung 13] und Eduard Thönys „Sowjetjuden“ [s. Abbildung 14] (beide von 1941) im Vergleich zu früheren Bildern und den ehemaligen Leitmotiven der Zeitschrift in einem den Umständen entsprechenden, stark antisemitischen Kontext zu verordnen. Hintergrund war hier wahrscheinlich der Beginn des „Unternehmens Barbarossa“, also dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni desselben Jahres. Die Idee, dass „seine Juden“ ihren „Genossen Stalin“ nie verlassen würden, beziehungsweise das mittelalterlichen Stereotyp, dass sie Jesus Christus getötet hätten und seitdem ihre angeblichen Foltermethoden im Sozialismus noch verfeinert hätten, sind eindeutige Zeitzeugnisse der massiven (anti-osteuropäischen) Judenfeindlichkeit der NS-Zeit.

Fazit

Zusammenfassend kann man sagen, dass den Stereotypen über Ostjuden* auch immer die Idee zugrunde lag, dass alle jüdischen Menschen grundsätzlich die gleichen (negativen) Charakteristika teilten; diejenigen, die in Galizien in ärmsten Verhältnissen lebten, genauso wie die jüdischen, wohlhabenden Bürgerlichen in Deutschland oder Frankreich. Vor allem letztere forcierten die Vorstellung eines „weniger entwickelten“ Ostjudentums, um ihre Zugehörigkeit und Assimilation an die Mehrheitskultur herauszustellen. Für den Simplicissimus war gewalttätiger Antisemitismus in erster Linie ein Problem im Ausland (besonders im russischen Zarenreich), während die Gefahren für deutsche Juden* durch den Aufstieg des Nationalsozialismus kaum thematisiert wurden. Nach dem Holocaust, bei dem ein Großteil aller osteuropäischer Juden* ermordet wurde, verschwand das Bild des „Ostjuden“ weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung in Europa; anders als in Israel oder den USA, wo die Überlebenden sich ein neues Leben aufbauten, auch in Form einer Verbindung zwischen ihren jüdischen Wurzeln und ihrem neuen Umfeld, und sich ihre Kultur bis heute in Teilen erhalten hat.

 

Endnoten

[1] Obwohl in diesem Aufsatz zwar großenteils von den Karikaturen männlicher Juden die Rede ist, ist die Benutzung des * ein Versuch zu zeigen, dass jüdische Menschen aller Geschlechter von diesen Vorurteilen betroffen waren.

[2] Joch, Markus: Koloniales in der Karikatur. November 1884: Der Kladderadatsch sieht „Kulturfortschritte am Congo“, In: Honold, Alexander u. Klaus R. Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart 2004, S. 66-76.

[3] Dieser Umstand führte dazu, dass sich viele assimilierten Juden* in Europa und den USA sich seit den 1920er-Jahren einer Nasenoperation unterzogen, um nicht mehr aufzufallen und als „jüdisch“ erkennbar zu sein. Siehe Gilman, Sander: Die jüdische Nase: Sind Juden/Jüdinnen weiß? Oder: die Geschichte der Nasenchirurgie, in: Eggers, Maureen Maisha (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte: kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2009, S. 394-415.

[4] Schäfer, Julia: Vermessen - gezeichnet - verlacht: Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933, Frankfurt am Main 2005, S. 13-31.

[5] Brocks, Christine: Bildquellen der Neuzeit, Paderborn 2012, S. 46-51.

[6] Eine der bekanntesten antisemitischen Schriften, bei der es sich um eine angebliche Aufzeichnung eines Treffens jüdischer Anführer auf dem Friedhof in Prag handelt, in dem Strategien zur Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft besprochen wurden. Dass es sich dabei sowohl um eine Fälschung, als auch ein Plagiat früherer antisemitischer Texte handelte, war schon im frühen 20. Jahrhundert, also kurz nach der Veröffentlichung der Protokolle bekannt. Siehe hierzu beispielsweise: Horn, Eva u. Michael Hagemeister (Hg.): Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung: zu Text und Kontext der „Protokolle der Weisen von Zion“, Göttingen 2012.

[7] In einem humoristischen Text von 1930 wurde auch der Nationalsozialismus als jüdisches Phänomen „enthüllt“: Kat, Stephan: Ein neues Protokoll der Weisen von Zion, in: Simplicissimus, 11.8.1930, Jg. 35, Nr. 20, S. 236.

[8] Nach den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts verfügte das Zarenreich plötzlich weltweit über die größte jüdische Bevölkerung. Daraufhin wurden Anordnungen erlassen, die es Juden* bis auf wenige Ausnahmen verboten, sich außerhalb des Ansiedlungsrayons niederzulassen. Dieses Gebiet erstreckte sich über das Territorium des heutigen Belarus, Litauens und Moldawiens, einen Großteil der Ukraine, Teile Lettlands, Ostpolens und Westrusslands. Siehe: Haumann, Heiko: History of East European Jews, Budapest/New York 2002, S. 78-85.

[9] Aschheim, Steven: Reflection, Projection, Distortion: The "Eastern Jew" in German-Jewish Culture, in: Osteuropa 58 (2008), Impulses for Europe: Tradition and Modernity in East European Jewry, S. 61-64.

[10] Joch, Koloniales, S. 72f.

[11] Taylor Allen, Ann: Satire and society in Wilhelmine Germany: Kladderadatsch & Simplicissimus, 1890 – 1914, Lexington (KY) 1984, S. 188-194.

[12] Taylor Allen, Satire, S. 192-194.

[13] Mandelartz, Michael: Antisemitismus, Ostjudentum und die Autoren der Weimarer Republik, in: Dogilmunhak Koreanische Zeitschrift für Germanistik 37/1 (1996), S. 212f.

[14] Wassermann, Jakob: Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921, S. 107f.

[15] Taylor Allen, Satire, S. 192.

[16] Ebd., S. 193.

[17] Odo: Der weise Rabbi, in: Simplicissimus, 14.12.1915, Jg. 20, Nr. 37, S. 441.

[18] Taylor Allen, Satire, S. 215f.

Autorin

Monika Klinger


Erschienen am 24.11.2020