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Der Schwarze Peter des "Simplicissimus" – Balkanismus an der Person Petar I. Karađorđević

 

Im Juni 1927 erschien die deutsche Erstauflage von Agatha Christies fünftem Kriminalroman. Die Memoiren des Ministers (besser bekannt unter der späteren Übersetzungsvariante Die Memoiren des Grafen) luden die Leserschaft in eine fremde, gleichzeitig aber auch seltsam vertraute Welt ein. Im fiktiven Staat Herzoslovakien fallen König Nikolaus IV. und seine Frau Varaga scheinbar einer Verschwörung der Bruderschaft der Roten Hand zum Opfer. Diese Organisation hatte die Königin, eine ehemalige Tänzerin, eigentlich als Agentin angeheuert, um den König in Paris zu beseitigen. Jedoch wechselte sie die Seiten und wurde Regentin – sehr zum Unmut des Volkes, das letztlich einen Staatsstreich anzettelt. Die Bewohner des Balkanstaates werden als ausgesprochen gewalttätig und geheimnisvoll beschrieben, deren nationaler Zeitvertreib Königsmorde und Revolutionen sind. Herzoslovakien selbst ist nur einer der Schauplätze dieser Geschichte von Verrat, familiären Intrigen und Mord. Die Handlung findet auch in England und Frankreich statt und schafft so einen direkten Bezug zwischen dem ‚zivilisierten‘ westlichen und dem ‚wilden‘ südöstlichen Europa.[1]

Christies Roman ist mit stereotypen Vorurteilen über den Balkan und seine Bewohner regelrecht gespickt. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese tatsächlich der Wirklichkeit entsprachen oder nicht: Es genügte vollkommen, verbreitete Annahmen überzeugend aufzugreifen, um sie so zu akzeptiertem ‚Faktenwissen‘ werden zu lassen.

Dieses Phänomen wurde von Maria Todorova Jahrzehnte später als „Balkanismus“ wissenschaftlich fixiert. Todorova führte aus, wie hauptsächlich der Westen den Ländern und Völkern des Balkans auf der Basis von zugeschriebenen Stereotypen und Klischees begegnete. Beim „Balkan“, so die Annahmen, handle es sich um eine Art düsteren Gegenentwurf zum westlichen Europa, um eine gefährliche und unzivilisierte Region. Die Menschen dort seien wild und niederträchtig, überdies faul, hinterlistig und verschlagen – eine harte Hand, die sie führt, sei zwingend nötig. Neben einer bewussten Selbstabgrenzung durch derartige Fremdzuschreibungen, wurde dadurch auch die westliche Politik auf dem Balkan nachhaltig beeinflusst. Falsches Handeln war nahezu vorprogrammiert.[2]

Christies Balkandarstellung knüpfte an einer früheren, brisanteren an. Anfang des 20. Jahrhunderts fand die Geschichte des Balkanismus ein besonderes Kapitel im Simplicissimus, als die Satirezeitschrift Vorurteile und Klischees bediente, um gezielt Propaganda zu betreiben. Hierbei sticht die Darstellung eines Mannes besonders hervor: Der serbische König Petar I. Karađorđević erfuhr mehr Aufmerksamkeit als irgendein anderer Vertreter Südosteuropas. In ihm vereinten die Autoren das Feindbild eines verhassten Widersachers mit dem Bild eines stereotypen Bewohners des Balkans. Petar wurde somit in doppelter Hinsicht geschmäht und verunglimpft: Als König, also als politische Person und als Serbe, sprich, als Vertreter seiner Volksgruppe.

Dies ist der Versuch, „Balkanismus“ am Beispiel König Petars im Simplicissimus herauszuarbeiten und an ausgewählten Beispielen entsprechend darzustellen. Die Karikaturisten und Textautoren, so wird gezeigt, fanden in Petar Karađorđević die perfekte Zielscheibe. Den Thron bestieg er nach einem Militärputsch, in dessen Zuge sein Vorgänger Aleksandar Obrenović mit seiner Ehefrau Draga Mašin ermordet wurden. Im Gegensatz zu Obrenović verfolgte Petar gegenüber Österreich-Ungarn eine weitaus unfreundlichere Politik, er vertrat außerdem eine offen nationalistische Agenda, die Serben des Balkans innerhalb eines Staates zu vereinen. Petar Karađorđević hielt sich darüber hinaus lange Zeit im Exil im Westen, vornehmlich in der Schweiz und in Frankreich, auf – ein deutsches Satire- und Propagandablatt wie der Simplicissimus konnte nur schwer ein passenderes Feindbild auf dem Balkan finden!

Läuse und Dolche – Petars Anfänge im Simplicissimus  

Petar gab sein Debüt im Simplicissimus im Jahr 1903. Seine Karikatur schaffte es sogar direkt auf die Titelseite der Ausgabe, deren Urheber Theodor Th. Heine arrangierte die Szenerie mit viel Liebe zum Detail [s. Abbildung 1].[3] Vor einem Altar steht, in ‚typisch’ balkanischer Tracht gekleidet, der sich verbeugende Petar und empfängt von einem orthodoxen Geistlichen die Salbung und die Krone, die dieser auf einem Kissen in seiner linken Hand trägt. Ihm assistieren drei weitere Geistliche, wie er ebenfalls bärtig und mit wilden Haaren. Zu seiner Linken hält ein junger Messdiener, zwar ohne Bart, wohl aber mit der gleichen unbändigen Haarpracht, eine große Flasche im Arm. Die Aufschrift: „Zacherlin Insektenpulver“. Eine kleine schwarze Laus ziert die Mitte der Flasche als Logo. Sie ist nicht die einzige Laus, die bei der Krönung anwesend ist, eine weitere findet sich auf der Gürteltasche des Königs und ein besonders prachtvolles Exemplar sitzt am rechten Bildrand und verfolgt genauso aufmerksam das Geschehen, wie eine schwarzhaarige und bärtige Menschenmenge im Hintergrund der Kirche. 

Es bedarf kaum der Bildunterschrift „Die Zeremonie wird mit Insektenpulver vorgenommen“, um zu erkennen, dass der Geistliche selbiges anstatt des sonst üblichen Weihwassers nutzt. Zwar erschien die Karikatur ein volles Jahr zu früh, die Krönung fand erst 1904 statt. Angesichts der eindeutigen Botschaft, die der Simplicissimus-Leserschaft vermittelt wurde, war dieser kleine Fehler allerdings zweifellos irrelevant. Die gesamte Zeremonie wird als ‚schmutzig‘ dargestellt. Die Anspielung auf Serbien, beziehungsweise der Serben als Läuse, ergo als Ungeziefer, war eines der dominierenden Motive der Darstellung im Simplicissimus. Petar konnte, folgt man dem Blatt, demnach als ein König der Läuse, als ‚Oberlaus‘, verstanden werden. Einerseits repräsentierte er diese also, gleichzeitig wurde er aber auch mit Pulver dagegen versehen – vielleicht, um ihn vor seinen ‚lausigen‘ Untertanen zu schützen?

Die gleiche Ausgabe des Simplicissimus berichtet nämlich auch, wie es eigentlich dazu kam, dass ein neuer Herrscher Serbiens Thron bestieg. So dichtete Peter Schlemihl[4] ein „Serbisches Heldenlied“, was als Verballhornung traditioneller serbischer Volkslieder, die tapfere Krieger besingen, gesehen werden muss, denn der Inhalt[5] war alles andere als heldenhaft:

König Alexander saß in seinem Haus,
Oh, saß in seinem Haus!
Saß darin mit Wanz und Laus,
Wanz und Laus!

Und die Königin saß vor dem Bett
Saß vor ihrem Bett, 
Schmierte noch ihr Haar mit Gänsefett,
Mit Gänsefett.

Plötzlich kamen Awakumowitsch,
Gentschitsch, Atanarkowitsch,
Christitsch, Mischitsch und Welikowitsch,
Schimkowitsch.

Jeder sprach: Ich bin ein freier Sřb,
Bin ein freier Sřb.
König Alexander, du musst střb,
Du musst střb!

Und sie schlachten ihn und seine Frau
Ihn und seine Frau
Ab wie eine fette Sřbensau,
Sřbensau.

König Peter sitzet jetzt im Königsglanz
Jetzt im Königsglanz,
Sitzet jetzt im Haus mit Laus und Wanz,
Laus und Wanz.[6]

Beliebte und tief verwurzelte Klischees wurden vielfältig bedient. Statt „mit Mann und Maus“ sitzen die serbischen Herrscher selbstverständlich mit „Wanz und Laus“ in ihrem Haus. Bezeichnend ist, dass es egal war, wer nun aktuell regierte, beide wohnten mit Ungeziefer zusammen. Die Attentäter tragen indes allesamt kaum aussprechbare Namen voller Zischlaute. Zusammen mit dem ř, einem der tschechischen und obersorbischen Sprache entnommenen Buchstaben, den das Serbische gar nicht kennt, klang dies für die Leserschaft fremdartig und somit ausgesprochen ‚serbisch'. „Sřbensau“ war indes nicht nur stumpf beleidigend gemeint, sondern spielte wohl auch auf die traditionelle Schweinezucht an, die ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Serbien war.

Petars erster Auftritt im Simplicissimus hätte kaum stereotyper ausfallen können, und von 1903 an sollte er nun regelmäßiger Gast in der Satirezeitschrift werden. Diese begleitete ihn natürlich nicht nur bei so staatstragenden Ereignissen wie einer Krönung, sie wusste den serbischen König auch im Alltag darzustellen, wie etwa bei einer im Hochadel überaus beliebten Beschäftigung: der Jagd, natürlich im ‚serbischen Stil‘. So zeigt eine Darstellung aus dem Jahr 1907 König Petar beim Lausen seines auf einem Hocker sitzenden Sohnes. Hinter den beiden hängen Trophäen einiger besonders kapitaler Erfolge der königlichen Läusejagd, die minutiös dokumentieren, wer sie wann erlegt hat [s. Abbildung 2].[7]

Passgenau titelt die Unterschrift: „König Peter gilt als unermüdlicher Weidmann auf Läusewild“. Der geflickte Mantel des Königs ist hierbei nur ein weiteres kleines Detail in der Versicherung des Simplicissimus, wie schäbig und mittellos dieser König sei.

Nur ein Jahr später, im Jahr 1908, gewann die Läusejagd eine völlig neue Qualität [s. Abbildung 3].[8] In einem gänzlich leeren Palast, bei dem bereits die Brüstung des Balkongeländers morsch ist und die Fenstertüren zerbrochen aus den Angeln hängen, stehen Petar Karađorđević und sein Sohn Georg (sb. Đorđe). Beide tragen Uniformen, Petar hat neben dem Säbel noch einen Krummdolch in seinen Gürtel gesteckt, sein Sohn ist mit zwei Pistolen bewaffnet. Mit einer zielt er auf eine auf dem Kopf seines Vaters sitzende Laus, dieser hat die Krone abgezogen und erwartet den Schuss seines Sohnes.

Abermals wird das serbische Königshaus als hoffnungslos verarmt dargestellt. Der Dolch in Petars Gürtel greift ein weiteres beliebtes Attribut auf, das für Serben, respektive Bewohner des Balkans, häufig verwendet wurde. Er symbolisiert die Bewaffnung eines Meuchelmörders und durfte als Symbol für Heimtücke und Bedrohlichkeit nicht fehlen. Auch Kronprinz Georgs Bereitschaft, auf seinen eigenen Vater zu schießen, zeigt, wie wild und unzurechnungsfähig Serbien und seine Bewohner wahrgenommen wurden. Gewaltbereitschaft und Unberechenbarkeit gelten ebenfalls als klassische und typische Motive des „Balkanismus“.[9] Überschrieben ist die Abbildung mit „Der serbische Tell“, was auf Petars eigene Vergangenheit in der Schweiz hindeuten mochte, aber auch auf das perfide Verhältnis zwischen Südost- und Westeuropa anspielen konnte: Mit ‚Westlichem‘ in Kontakt gekommen, versuchte der ‚Osten‘, dieses nachzuahmen. Dabei pervertierte er den ‚zivilisierten‘ Nachbarn jedoch und enthüllte so nur die eigene ‚Unzivilisiertheit‘. 

 

Königsmörder und Kriegsverantwortlicher: Schuldig im Sinne des Stereotyps 

Die Balkankriege von 1912 und 1913 sorgten zwar für einen Anstieg von Petars Erwähnungen im Simplicissimus, die Berichterstattung betrachtete ihn aber meist nur als Teil des Bündniskollektivs der Krieg führenden Staaten. Einige Jahre vor den Konflikten wurde Petar allerdings davor gewarnt, das Ziel eines „Großserbien“ zu verfolgen.[10] Petars Absicht, die vielfach außerhalb Serbiens lebenden Serben innerhalb eines einzigen, großen Staates zu vereinen, wurde als ein aussichtsloses, noch dazu gefährliches Unterfangen gebrandmarkt. Diese Vision des serbischen Königs sollte nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges abermals aufgegriffen werden.

Österreich-Ungarn erklärte Serbien 1914 den Krieg und griff dieses an, rechnete wohl aber nicht mit dem erbitterten Widerstand, den das kleine Königreich leistete. Drei Offensiven der Großmacht wurden zurückgeschlagen, wobei Petar es sich nicht nehmen ließ, selbst bei seinen Truppen zu sein, um deren Moral zu heben. Diese Episode war dem Simplicissimus natürlich keine Erwähnung wert, Petar wurde im dem Münchner Blatt durchgehend negativ dargestellt.[11] Auffällig ist auch, dass Petar im Jahr 1914 nur ein einziges Mal erwähnt wird – im Zusammenhang mit dem russischen Zaren, als dessen Verbündeter er dargestellt wird.[12]

Erst ein Jahr später gelang es der Doppelmonarchie mit Hilfe Deutschlands und Bulgariens das Kriegsglück an sich zu reißen. Serbien hatte dieser Übermacht der Mittelmächte nichts mehr entgegenzusetzen und musste sich zurückziehen. Petar floh gemeinsam mit seinen besiegten Soldaten und unzähligen Zivilisten, wobei der Monarch abermals tiefe Verbundenheit mit seinem Volk bewies und die Strapazen der Flucht vollumfänglich teilte.[13]

Für den Simplicissimus war diese Episode des alten Königs natürlich ein gefundenes Fressen, auch wird hier ein Wandel der Intention der Darstellung ersichtlich. Die lächerlich-machende Absicht blieb zweifellos erhalten, eine eher satirische wich jedoch einer dem Krieg geschuldeten, propagandistischen Lesart.

Vielsagend zeigte die erste Karikatur des Jahres 1915 einen apathisch dreinblickenden, sichtlich gealterten Petar, der tief in Kissen versunken auf einem reichlich lädierten Sessel sitzt [s. Abbildung 4].[14] Dieser steht in einer Ruine, an der halb eingefallenen Wand hinter ihm hängt eine serbische Kopfdeckung, auf dem Boden liegt eine leere Säbelscheide, der Reichsapfel des Königs wurde achtlos beiseite geworfen. Ausgemergelte Finger betasten die Krone, die im Schoß des Monarchen ruht, in der rechten Hand hält er die kümmerlichen Überreste eines Zepters.

„Großserbien habe ich mir eigentlich anders vorgestellt!“, wird Petar dort in den Mund gelegt. Die Anspielung auf den Staat, der alle Serben einschließen sollte und vor dem noch wenige Jahre zuvor so eindringlich gewarnt wurde, ist überdeutlich. Stereotype können hier außerdem vielsagend uminterpretiert werden. Durch das Fehlen der sonst obligatorischen Waffen mochte suggeriert werden, dass von dem einst wilden, gewalttätigen Land nunmehr keine Gefahr mehr ausging. Der ‚Schwarze Peter‘[15]war nur noch ein harmloser, alter Mann.

Einer, den der Simplicissimus auch in der Verantwortung für das Attentat von Sarajevo sah, was Petar nicht nur die Kriegsschuld zuschob, sondern ihn indirekt auch zum Mörder eines anderen Monarchen machte: Die Unterstellung, Serben seien ein Volk der Königsmörder, musste für ihren König nur umso mehr gelten. So wurden Petar nur eine Ausgabe später folgende Worte in den Mund gelegt: „Warum habe ich dich damals nach Sarajevo gerufen! Jetzt werde ich dich in meinem Lande nicht mehr los!“

Auf dem dazugehörigen Bild wird der erneut apathisch dreinblickende serbische König gezeigt, diesmal in einer viel zu großen Uniform, die ihn reichlich albern und alles andere als gefährlich aussehen lässt [s. Abbildung 5].[16] Seine Worte richten sich an seine Gesellschaft: Keinen Geringeren als den Tod höchstpersönlich, dargestellt durch ein mannshohes Skelett in schwarzem Mantel.

Das Königsmörder-Stereotyp wurde im gleichen Jahr erneut aufgegriffen, diesmal jedoch in höchst klassischer Manier. Die Karikatur wurde im Stil eines Groschenromans angefertigt, betitelt mit dem Schriftzug: „Berühmte Verbrecher I. Das Haus Karageorgewitsch. König Peters Glück und Ende.“ [s. Abbildung 6].[17] Darunter dominiert eine düstere Gestalt in Uniform die Bildmitte. In der rechten Hand hält sie einen Revolver, in der linken zusätzlich noch einen Dolch, versteckt hinter dem Rücken. Das Ziel: Der dem Publikum auf einem Stuhl abgewandt sitzende König, neben dem eine Flasche Champagner in einem Eimer steht.

Der düstere Meuchelmörder, der gezückte Dolch, der geplante Mord am Monarchen – durchgehend bekannte Stereotype und Motive. Trotzdem kann diese Abbildung auch als eine gewisse ‚stereotype Dualität‘ des serbischen Königshauses gelesen werden: Durch Mord an die Macht gekommen, durch Mord die Macht wieder verloren. So weist der kurze Text unter dem Bild dem serbischen Königshaus auch bereits seinen Platz in der Geschichte zu: „Natürlich der Kriminalgeschichte“.

Der Simplicissimus arbeitete mit Stereotypen und Vorurteilen und propagierte überzeichnete Bilder. Er bildete aber auch die Entwicklung seiner turbulenten Zeit ab, die das Schicksal der Welt nachhaltig veränderte. König Petar „feierte“ seinen Einstieg in den Simplicissimus 1903 auf der Titelseite. Am 9. November 1915, in Heft Nr. 32 des 20. Jahrgangs, wiederholte er diesen „Erfolg“ [s. Abbildung 7].[18]

Mit weit aufgerissenen Augen hockt Petar auf einem Felsen, die Krone sitzt schief auf dem kahlen Haupt. Es regnet und stürmt so stark, dass um ihn herum Hochwasser entsteht. Vor dem Monarchen machen sich einige schwarze Ratten über einen umgekippten Thron her, daneben schwimmt ein verlorenes Zepter. Links neben Petar ragen Arme hilfesuchend aus dem Wasser, von ihm unbeachtet greifen sie ins Nichts.

Von den Mittelmächten besiegt, blieb dem König nichts anderes mehr, als auf die Trümmer seines Reichs und Traums zu blicken. Auf der Karikatur wird er als egoistisch dargestellt, als nicht bereit, auch nur einen der Arme zu ergreifen und auf seinen Stein zu ziehen. Fassungslos scheint er nicht glauben zu können, dass Serbien den Krieg verloren hat, obwohl er sich noch an die Alliierten gewandt hatte, was seine Worte in der Bildunterschrift entlarven: „Und da telegraphiert mir England: ‚Unbesorgt! Sind eifrig auf der Suche nach jemand, der Ihnen helfen soll’“

All die Häme und der Spott, mit dem der Simplicissimus den alten König überzog, werden hier nur allzu deutlich greifbar. Er wird nicht mehr länger nur als schäbig dargestellt, als Jäger blutsaugender Insekten oder als latente, stets bewaffnete Gefahr. Die Karikatur vertritt einen anderen, impliziteren Teil des „Balkanismus“: Die Überlegenheit Westeuropas über den Balkan. Der Balkan in Form eines Mannes, dem der Wahnsinn noch aus den Augen springt, der aber durch die selbstverschuldete Gewalt überwältigt wurde. Die Mittelmächte werden mit einer Naturgewalt gleichgesetzt, die über dieses aufmüpfige Land im Südosten gekommen ist – nachdem der ‚Schwarze Peter‘ sie, seinem unzivilisierten Naturell entsprechend, beschworen hatte.

 

Fazit

Einer Verschwörung zum Opfer gefallen, die von einer Geheimorganisation eingefädelt wurde. Eine Ehefrau zweifelhaften Rufs, die ihre Chance ergreift, an die Macht zu gelangen, von den Bürgern aber gehasst wird. Ein Volk, gewaltbereit, geheimnisvoll und immer gewillt, ein gekröntes Haupt zu meucheln. Eine blutige Revolution und eine Tragödie innerhalb der eigenen Familie.

Agatha Christie verstand es, historische Ereignisse mit Fiktion zu vermischen. Dabei nutzte sie exakt den „Balkanismus“, den der Simplicissimus gegen Petar pflegte und propagandistisch einsetzte. Seine Inthronisierung, sein politisches Programm, ja, sein ganzes Leben bot, ohne die Hintergründe zu reflektieren, eine regelrechte Blaupause, um vorab gefasste Meinungen zu bestätigen.

Stereotype Darstellung fand dabei explizit, wie implizit statt. Diente Petar anfangs noch als Projektionsfläche für allgemeine Klischees über Serben, wurde die Schmähung mit dem Krieg persönlicher und griff das individuelle politische Programm des Monarchen auf. Typische Motive wie Unreinheit, Mittellosigkeit oder latente Gewaltbereitschaft wurden bedient, ehe sich die Darstellung dem politischen Klima des Konflikts anpasste. So wurde aus dem verarmten Läusejäger ein geschlagener und gebrochener Mann, der vor den Trümmern seines Traums stand und als Kriegsschuldiger abgestempelt wurde.

Was Petar wohl auf diese Stereotype geantwortet hätte? Das Blutvergießen an seinem Vorgänger hielt er für „weder vornehm, noch dem 20. Jahrhundert würdig“.[19] Unpassend, für einen Königsmörder, aber wen würde es wundern, wenn er als Serbe gelogen hatte?

 

Ednoten

[1] Christie, Agatha, Die Memoiren des Ministers: Detektivroman / Agatha Christie. Einzig berecht. Übers. aus d. Engl. von E. von Kraatz, Dresden 1927.

[2] Todorova, Maria, Imagining the Balkans, Oxford 2009.

[3] Heine, Thomas Theodor: Serbische Königskrönung, in: Simplicissimus, 7.7.1903, Jg. 8, Nr. 15, S. 113.

[4] „Peter Schlemihl“ ist ein Pseudonym Ludwig Thomas, der vor allem in München und dessen Umland sehr populär ist. Besonders in seinen letzten Jahren fiel Thoma durch antisemitische Äußerungen  auf, trotzdem sind mehre Schulen nach ihm benannt und seine Büste steht in der bayerischen Ruhmeshalle in München.

[5] Das äußerst brutale Attentat auf Aleksandar Obrenović und seine Ehefrau Draga Mašin wurde international verfolgt und löste Entsetzen aus. Nicht wenige sahen sich in ihren Vorurteilen bestätigt, bei den Serben handle es sich um Gewalttäter und Königsmörder. Siehe hierzu: Clark, Christopher, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2014, S. 23-100.  

[6] Schlemihl, Peter: Serbisches Heldenlied, in: Simplicissimus, 7.7.1903, Jg. 8, Nr. 15, S. 115.

[7] Gulbransson, Olaf: Monarchen als Jäger, in: Simplicissimus, 2.12.1907, Jg.12, Nr. 36, S. 574.

[8] Gulbransson, Olaf: Der serbische Tell, in: Simplicissimus, 9.11.1908, Jg.13, Nr. 32, S. 522.

[9] Der Balkan gilt heute noch als ‚Pulverfass‘, das beim kleinsten Funken zu explodieren drohe. Obwohl diese Annahme voll und ganz von alten Stereotypen steter Bereitschaft zur Gewalt, Unberechenbarkeit und Brutalität ausgeht, hat sie sich im allgemeinen Sprachgebrauch und der Wahrnehmung vieler Menschen fest eingebürgert und findet auch regelmäßig in der Presse Verwendung.

[10] Steiger, Edgar: Der Plagiator, in: Simplicissimus, 5.4.1909, Jg. 14, Nr, 1, S. 15. 

[11] Stereotype Darstellungen konnten jedoch auch positiv sein, so standen serbische Soldaten beispielsweise. im Ruf, besonders tapfere und mutige Kämpfer zu sein. Zu diesem weiterführenden Thema siehe: Vidojković, Dario, Von Helden und Königsmördern. Das deutsche Serbienbild im öffentlichen Diskurs und in der Diplomatie von 1878-1914, Wiesbaden 2015.

[12] Vgl. Schulz, Wilhelm: Nach dem Erfolg, in: Simplicissimus, 20.7.1914, Jg. 19, Nr. 16, S. 263.

[13] Petar Karađorđević galt als sehr nahbar und seinem Volk zugetan. Er hatte sich als Anführer verschiedener Guerilla-Einheiten einen Namen gemacht und suchte auch noch als König das Gespräch mit seinen Untertanen. Er stellte sich nicht über geltendes Gesetz und galt als sparsam und bodenständig. Siehe: Bjelajac, Mile: King Petar I Karađorđević, in: Radan, Peter and Pavković, Aleksandar (Eds.): The Serbs and their Leaders in the Twentieth Century, London 1997, S. 95-113.

[14] Blix, Ragnvald: König Peter der Belämmerte, in: Simplicissimus, 31.3.1915, Jg. 53, Nr. 19, S.67.

[15] „Kara“ bedeutet im Serbischen schwarz. „Schwarzer Peter“ kann auch als Anspielung auf das gleichnamige Kartenspiel verstanden werden, bei dem der Spielende verliert, der am Ende die Karte des ‚schwarzen Peters‘ auf der Hand hält.

[16] Gulbransson, Olaf: König Peter, in: Simplicissimus, 20.4.1915, Jg. 20, Nr. 3, S. 33.

[17] Heine, Thomas Theodor: Karageorgiewitsch, in: Simplicissimus, 30.11.1915, Jg. 20, Nr. 35, S. 410.

[18] Schulz, Wilhelm: Sintflut über Serbien, in: Simplicissimus, 9.11.1915, Jg. 20, Nr. 32, S. 373.

[19] Bjelajac 1997, S. 99.

Autor

Niklas Platzer


Erschienen am 20.11.2020