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Netzwerken für die Monarchie – Die Münchner Jahre des Georgij (Georg) Nemirovič-Dančenko

Georgij Nemirovič-Dančenko kommt am 20. Juli 1889 in St. Petersburg zur Welt. Die russländische Hauptstadt zählt zum damaligen Zeitpunkt knapp eine Million Einwohner, unter denen die Familie Georgijs zu den Privilegierteren gehört. Der Vater Vladimir (1858-1943) stammt aus einer adligen ukrainisch-armenischen Familie, hat an der Moskauer Universität studiert, sich aber im Anschluss für eine künstlerische Karriere entschieden. Bei der Geburt seines zweiten Sohnes Georgij erfreut er sich bereits als Theaterkritiker und Romanautor einer gewissen Bekanntheit. Erst zu sowjetischen Zeiten wird er sich jedoch einen Namen als Dramaturg machen.[1] Georgijs Mutter, Katharina (geb. Junge), kommt aus einer assimilierten deutschen Familie.

Zusammen mit seinem älteren Bruder verlebt Georgij eine ruhige und sorgenfreie Kindheit. Obgleich kein Teil des Hochadels, gehört seine Familie doch zu jener Bevölkerungsgruppe, die dank ihrer Bildung, ihres Vermögens und ihrer Abstammung wie geschaffen für eine Laufbahn im Staatsdienst zu sein scheint. Das enge, sich aber lockernde Korsett des zarischen Staates bietet diesen Familien weiten Raum zur Entfaltung ihrer beruflichen Ambitionen und verspricht ein gesichertes Auskommen. Nicht untypisch für viele seiner gleichaltrigen Standesgenossen, strebt daher auch Georgij eine Karriere im Staatsdienst an und entscheidet sich für ein Studium der Rechtswissenschaften. In seiner Heimatstadt immatrikuliert er sich an der prestigeträchtigen Kaiserlichen Schule für Jurisprudenz. Die Hochschule, an der neben zahlreichen Ministern auch der Komponist Pëtr Čajkovskij studiert hat, gilt als eine der Kaderschmieden des Reiches. Eine dementsprechend glänzende Zukunft scheint dem angehenden Juristen bevorzustehen, als er 1910 als Jahrgangsbester seinen Abschluss macht.[2]

Unmittelbar im Anschluss erhält der Universitätsabsolvent eine Anstellung im Reichsrat, dem wichtigsten Beratungs- und Verwaltungsgremium des Zaren.[3] 1914 erfolgt die Ernennung zum Hofrat. Der ausbrechende Weltkrieg beeinträchtigt dabei den Aufstieg des jungen Verwaltungsjuristen nicht. Dies gilt auch in privater Hinsicht. So ehelicht Nemirovič-Dančenko im zweiten Kriegsjahr, im November 1915, die sechs Jahre jüngere Anna Uljanska, eine Gutsbesitzertochter aus Charkov (ukr. Charkiv) in der Sloboda-Ukraine.[4]

Februar- und Oktoberrevolution durchkreuzen indes die Pläne für eine sichere Zukunft des Mittzwanzigers, der 1917 mit der Energieversorgung der Region Odessa betraut ist.[5] Mit dem Sturz des Zaren und der Machtergreifung der Bolschewiki versinkt die alte Welt in einem Scherbenhaufen. Nicht wenige Staatsdiener verbleiben zwar unter den neuen Regierungen auf ihren Posten, Nemirovič-Dančenko jedoch tritt offen in Opposition und schließt sich den in Südrussland aktiven „Weißen“ an. General Vrangel’, der die monarchistischen Kräfte auf der Krim und in der Ukraine befehligt, ernennt ihn zum Pressechef seiner Regierung. Persönlich sind sich beide indes nicht bekannt und vieles deutet daraufhin, dass Nemirovič-Dančenko in der von Militärs dominierten Regierung recht isoliert ist.[6] In seinen später erscheinenden Erinnerungen V Krymu pri Vrangelě (Auf der Krim bei Vrangel’) wirft der Pressechef seinem Vorgesetzen vor, ihn wiederholt bei der Arbeit behindert zu haben. So habe ihn Vrangel’ zurechtgewiesen und die Einstellung der Zeitschrift Russkaja Pravda (Die Russische Wahrheit) verfügt, nachdem dort antisemitische Beiträge veröffentlicht worden waren.[7] Auch habe der Oberbefehlshaber den propagandistischen Wert der Presse verkannt.[8]

Vrangel’s Herrschaftsgebiet auf der Krim ist zu diesem Zeitpunkt bereits akut durch den Vormarsch der Bolschewiki gefährdet. Den überlegenen Kräften der Roten Armee haben die „Weißen“ wenig entgegenzusetzen. Ein Großteil der prozarischen Militärs und Beamten setzt sich deshalb bereits Mitte des Jahres 1920 ab und sucht in Konstantinopel, dem Deutschen Reich oder anderen europäischen Staaten Zuflucht. Unter den Flüchtlingen befindet sich auch Vrangel’s Pressechef, der in Rom Unterschlupf findet. Nach einem kurzen Intermezzo in der italienischen Hauptstadt siedelt Nemirovič-Dančenko zusammen mit seiner Frau Anna nach München über. Deutschland ist zum damaligen Zeitpunkt ein bevorzugtes Ziel der prozarischen Emigration. Neben Berlin etabliert sich dabei München als eines der Zentren der antisowjetischen Emigranten. Bereits Ende des 19. Jh. hat die Isarstadt zahlreiche Bürger des Zarenreiches angezogen. Nach dem Scheitern der sowjetisch inspirierten Räterepublik im Frühjahr 1919 geht von der nun antikommunistisch orientierten Landeshauptstadt indes ein zusätzlicher Reiz für die russländischen Monarchisten aus.

Als Nemirovič-Dančenko am 25. Februar 1921 in München eintrifft, leben dort mittlerweile zahlreiche Flüchtlinge aus dem Russischen Reich. Unter ihnen befinden sich viele Deutschbalten, aber auch Angehörige des höheren russischen Adels, die sich ein eigenes Milieu mit Vereinen, Zeitschriften und Unternehmen schaffen. Besonders beliebt sind bei den russländischen Exilanten die Maxvorstadt und Schwabing – der niedrigen Mieten wegen. Zusammen mit seiner Frau bezieht der einstige Pressechef ein Zimmer in der Pension Lörsch, in der Schellingstr. 37, wenige Gehminuten vom Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität entfernt. Von der offiziellen Vertretung der „Weißen“, der Russischen Delegation in Berlin,[9] erhält der Neumünchner am 15. März 1921 einen eigenen Personalausweis.[10] Das mit einem Lichtbild versehene Dokument zeigt einen hageren Mann mit grauen Augen, hoher Stirn, dunkelblonden Haaren und einem dezenten Schnurrbart. Als Geburtsdatum gibt der Ausweis fälschlicherweise den 7. Juli 1889 und das Alter seines noch nicht zweiunddreißigjährigen Trägers mit 33 an. Unter der Rubrik „Staatsangehörigkeit“ findet sich noch der Eintrag „russisch“. Als Berufsbezeichnung des ehemaligen Beamten, der eingedeutscht nun Georg heißt, erscheint die Bezeichnung „Schriftsteller“.

Innerhalb kürzester Zeit gelingt es Nemirovič-Dančenko, sich ein Netzwerk aufzubauen, welches es ihm ermöglicht, tatsächlich als Journalist und Redner seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dabei pflegt er Kontakt mit rechten Intellektuellen und Gruppierungen unterschiedlicher Couleur. Neben russländischen Monarchisten und deutschbaltischen Zirkeln gehören auch revisionistische, nationalistische Kreise zu Nemirovič-Dančenkos Umgang.[11] Bereits Ende April 1921 hält er im Festsaal des Hofbräuhauses einen Vortrag zum Thema Ist Deutschland mit schuld am Kriege?.[12] Vor über 1.100 Zuhörern legt der Referent dar, dass der russische Generalstab den Zaren getäuscht habe und nur dessen Intrigen Russland zum Kriegseintritt bewogen hätten. Nemirovič-Dančenko spart zudem nicht mit Kritik an den anderen Ententemächten. So sei die Hauptlast des Krieges von Russland getragen worden, während Großbritannien und Frankreich sich auf einen Stellungskrieg beschränkt hätten. Russland sei fraglos der natürliche Verbündete Deutschlands gewesen und der Niedergang des Zarenreiches sowie der Aufstieg der Bolschewiki einzig der Perfidie Londons zuzuschreiben. Dabei zieht der Redner auch antisemitische Register und fordert die Beseitigung des „jüdischen Kapitalismus“, wozu ein Bund zwischen Deutschland und Russland nötig sei. Das Fazit Nemirovič-Dančenkos, Deutschland sei unschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, fällt beim Publikum erwartungsgemäß auf fruchtbaren Boden. Der russländische Exilant spricht nämlich auf Einladung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Mit den Worten, dass sich nun immer klarer Deutschlands Schuldlosigkeit am Kriegsausbruch herausstelle, resümiert denn auch Adolf Hitler den Vortrag. Hitler ist damals bereits das unbestrittene Gesicht der NSDAP. Zum Parteivorsitzenden steigt er allerdings erst einige Monate später auf.

Ob Nemirovič-Dančenko darüber hinaus Umgang mit Hitler pflegt, ist nicht bekannt. Unter seinen Bekannten zählen jedoch einige zu den Mitgliedern und Sympathisanten der neuen Bewegung.[13] Einer von ihnen ist der deutschbaltische Exilant Max Erwin von Scheubner-Richter (1884-1923). Der gebürtige Rigaer kennt Nemirovič-Dančenko bereits aus dessen Zeit als Vrangel’s Pressechef.[14] In der bayerischen Hauptstadt fungiert Scheubner-Richter als Vorsitzender zahlreicher Gruppen und Vereine, u.a. auch der Neuen Deutsch-Russischen Gesellschaft.[15] Vor deren Mitgliedern hat Nemirovič-Dančenko schon Ende März 1921 im Bürgerbräukeller in ähnlicher Weise über die Schuldlosigkeit Deutschlands am Weltkrieg referiert und dabei die Beachtung der Lokalpresse gefunden.[16] Ein Artikel in den nunmehr rechtskonservativen[17] Münchner Neuesten Nachrichten charakterisiert den Redner als „glühenden [russischen] Patrioten“, dessen Aufruf für gute Nachbarschaft zwischen Deutschland und Russland sowie das gemeinsame Einschreiten gegen „fremde Kapitalinteressen“ auf massiven Zuspruch der Anwesenden gestoßen sei.[18] Möglich, dass der junge „weiße“ Exilant seinen Vortrag bei den Nationalsozialisten der Empfehlung Scheubner-Richters verdankt.

Dem umtriebigen Scheubner-Richter verdankt Nemirovič-Dančenko allemal eine Verbesserung seiner materiellen Lage. So gewinnt dieser ihn als Mitarbeiter für die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, eine einflussreiche deutsch-russische Organisation, deren Mitglieder zwischen 20.000 und 50.000 Mark an jährlichen Beiträgen zu entrichten haben.[19] Zur Vereinigung gehört eine eigene Zeitschrift mit dem Titel Aufbau. Zeitschrift für wirtschafts-politische Fragen Ost-Europas (später: Wirtschafts-politische Aufbau-Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland), deren Schriftleitung Nemirovič-Dančenko seit Juni 1921 wahrnimmt.[20] Daneben fungiert der junge Petersburger als Ukraineexperte der Vereinigung. Zu deren Mitarbeitern zählen u.a. die beiden Deutschbalten Arno Schickedanz und Alfred Rosenberg. Für Rosenberg, Schickedanz und Nemirovič-Dančenko sowie zwei weitere Mitarbeiter reicht die Leitung der Aufbau-Vereinigung am 31. August 1921 ein Gesuch auf Ausstellung eines Waffenscheines ein.[21] In der Antragsbegründung beruft man sich auf die antibolschewistische Aktivitäten der drei Aufbau-Mitarbeiter und die für sie damit einhergehende Bedrohungslage. Im Falle Nemirovič-Dančenkos gibt die Polizei bereits eineinhalb Wochen später grünes Licht. Der Schriftleiter sei „im deutschfreundlichen Sinne tätig und [der] Missbrauch von Waffe und Schein nicht zu befürchten“.[22]

Als Berater seines Vorgesetzten Scheubner-Richter spielt Nemirovič-Dančenko eine zunehmend wichtigere Rolle. Darüber hinaus berät er den exilierten General Vasilij Biskupskij, einen der bekanntesten Vertreter der „weißen“ Emigration in Bayern und stellvertretenden Vorsitzenden der Aufbau-Vereinigung. Zusammen mit Biskupskij und anderen Mitarbeitern der Aufbau-Vereinigung nimmt Nemirovič-Dančenko am Monarchischen Kongress in Bad Reichenhall teil (29. Mai bis 5. Juni 1921). Zu der Zusammenkunft ist die Crème de la Crème der „weißen“ Emigration aus aller Welt angereist. Über hundert Vertreter von 24 verschiedenen Organisationen beraten hier über die Zukunft Russlands, aber auch die Nachfolge in der Romanov-Dynastie.[23] Die Finanzierung übernimmt dabei maßgeblich Scheubner-Richter.[24] Nemirovič-Dančenko hält vor den versammelten Exilaktivisten eine Rede, in der er den Krieg zwischen Deutschland und Russland als „gegenseitigen Selbstmord“ bezeichnet. Beide Staaten müssten stattdessen Hand in Hand zusammenarbeiten, um den Bolschewismus zu besiegen.[25]

Bei der Aufbau-Vereinigung setzt man zu jener Zeit die Hoffnungen auf die Person des Großfürsten Kirill, der als künftiger Zar Russlands betrachtet wird. Bei den Monarchisten ist Kirill nicht unumstritten, da er nach der Februarrevolution der Regierung Kerenskij seine Aufwartung gemacht hat. Frankophile Kreise verübeln dem Kronprätendenten zudem seine ausgeprägte Deutschland-Affinität und sehen daher im Großfürsten Nikolaj Nikolajevič die bessere Wahl. Die Aufbau-Korrespondenz dagegen unterstützt Kirills Bemühungen zum unbestrittenen Führer der Exilanten aufzusteigen, und stellt seinen Verlautbarungen eine Plattform zur Verfügung. Nicht zufällig bekommt sie deshalb den Spitznamen „Organ der Kirill-Unterstützer“. Der Thronprätendent wohnt seit August/September 1921 im fränkischen Coburg, wo seine Familie ein Anwesen besitzt. Von dort reist er regelmäßig nach München, um Kontakte zu pflegen und für seine Sache zu werben.

Auch Nemirovič-Dančenko setzt sich für den Thronanspruch des vermögenden Großfürsten ein. Im Gegensatz zu vielen Exilanten, die ihren unentgeltlichen Einsatz für Kirill als Selbstverständlichkeit betrachten, scheint der junge Journalist später für seine Tätigkeiten durch den Fürsten entlohnt zu werden. Dies legen zumindest die Aussagen des ehemaligen Rittmeisters Michael Olive nahe.[26] Zusammen mit seiner Frau Anna engagiert sich Nemirovič-Dančenko überdies in der Russischen Monarchistischen Vereinigung in Bayern, einer ca. 60 Personen umfassenden royalistischen Gruppierung, der vorwiegend Generäle und Gutsbesitzer angehören. Der junge Petersburger nimmt hier die Aufgabe eines Schriftführers wahr.[27]

Gelegentlich erhebt der Redakteur der Aufbau-Korrespondenz Nemirovič-Dančenko auch in anderen Zeitungen seine Stimme. Unter dem Titel Das Zeitliche und das Ewige, der am 18. August 1921 in der nationalkonservativen München-Augsburger Abendzeitung erscheint, geht er auf den Zustand Sowjetrusslands ein.[28] Ausgehend von den Predigten des orthodoxen Metropoliten Antonius auf dem Kongress in Bad Reichenhall zeichnet er das Bild eines Russlands, das zu seinen geistigen Wurzeln und zu seiner angestammten Frömmigkeit zurückfindet. Die „oberflächliche Befriedigung der Gelüste“ durch die Bolschewiki, „die sich auf die Bajonette der Chinesen, Letten und entartete[n] jüdischen Intelligenz stütz[t]en“, hätten daran nichts geändert. Die Ablösung der Sowjets sei deshalb nur eine Frage der Zeit. Antijüdische Wendungen, wie sie sich in diesem Artikel finden, stellen im Werk des Journalisten keine Ausnahme dar. Gleichwohl nehmen sie in seinen Schriften eine nachrangige Stellung ein. Offen bleibt die Frage, wie Nemirovič-Dančenko zu einer derartigen Einschätzung der politischen Lage in Sowjetrussland gelangt. Möglicherweise lassen ihn Berichte aus der Ukraine oder Meldungen von Informanten aus der Roten Armee tatsächlich solche Schlüsse ziehen. Vielleicht ist es aber auch ein bloßes Wunschdenken, das sich hier artikuliert.

Zum Leidwesen Nemirovič-Dančenkos und der zarischen Exilanten wandeln sich im folgenden Jahr die politischen Rahmenbedingungen. Die geschwächte und weitgehend isolierte Weimarer Republik sucht nach politischen Partnern und findet diese in der ebenfalls isolierten Sowjetunion. Beide Staaten nehmen durch den Vertrag von Rapallo (16. April 1922) offiziell diplomatische Beziehungen auf. Vor allem wirtschaftlich und militärisch setzt nun eine enge Kooperation zwischen Berlin und Moskau ein. Damit geht der Bedeutungsverlust der Russischen Delegation in Berlin einher, die nun nicht mehr den Status einer diplomatischen Vertretung genießt. Nemirovič-Dančenko gilt nun als Staatenloser.[29]

Wiederholt kritisiert er deshalb die Annäherung zwischen Deutschem Reich und Sowjetunion, so etwa in einem Vortrag vor der Deutsch-Rußländischen Gesellschaft.[30] Die sowjetische Unterstützung habe sich bislang auf ein paar Getreidelieferungen und einige „papierene Noten“ beschränkt. Eine vorteilhafte Allianz könne es dagegen nur mit dem „wiedererstandenen Russland“ geben.[31] In der Deutsch-Rußländischen Gesellschaft übt Nemirovič-Dančenko ebenfalls den Posten des Schriftleiters aus, während sich die Leitung in den Händen des früheren Kavalleriegenerals Nikolaj Epančin und Scheubner-Richters befindet. Letzterer stirbt wenige Monate später, am 9. November 1923, beim „Marsch auf die Feldfernhalle“. Für die Aufbau-Vereinigung stellt dies eine empfindliche Zäsur dar. Denn nach dem Tod ihrer Integrationsfigur verliert sie massiv an finanziellen Zuwendungen und muss im Sommer 1924 die Herausgabe ihrer Zeitschrift einstellen.[32]

Für Nemirovič-Dančenko bedeutet dies Arbeitslosigkeit. Da er keine neue Arbeitsstelle findet und überdies mittellos ist[33], versucht er, ausstehende Tantiemen für seine Bücher Auf der Krim bei Vrangel’ und Der Sommer des Herrn[34] im Ausland einzutreiben. Hierzu beantragt er beim französischen Konsulat ein Visum. Die Vertretung Frankreichs erteilt dieser Bitte indes eine Absage, da der Antragsteller zum einen russischer Journalist und zum anderen eine unerwünschte Person sei.[35] Ersteres ist wohl eher ein Vorwand, denn russische Journalisten leben mittlerweile zuhauf an der Seine. Allerdings hegen diese mehrheitlich Sympathien für ihr Gastland. Nemirovič-Dančenko dagegen ist für seine prodeutschen Standpunkte bekannt. Solche Neigungen machen ihn beim „Erbfeind“ zur Persona non grata. Denn unbemerkt sind seine politischen Stellungnahmen im Ausland nicht geblieben. So weist etwa der Prager Professor Vassilij Nemirovič-Dančenko im Dezember 1923 entschieden darauf hin, dass er mit „diese[m] ungen. Schriftsteller nichts Gemeinsames habe“.[36]

Möglich, dass Nemirovič-Dančenko erst zu dieser Zeit auf die Gehaltsliste der „Kirill-Fraktion“ kommt. Sieht man von seiner Tätigkeit als Herausgeber der monarchistischen Zeitschrift Grif ab, tritt er seitdem zumindest medial selten in Erscheinung.[37] Die Münchner Behörden interessieren sich dennoch weiter für den russländischen Oppositionellen. So fertigt die Zentralpolizeistelle ein Dossier über ihn an, in dem er als enger Mitarbeiter Scheubner-Richters, Anhänger der germanophilen Richtung und neben Biskupskij als Hauptvertrauter Kirills beschrieben wird.[38] Ein Vortrag Nemirovič-Dančenkos auf Einladung der Staatspolitischen Gesellschaft im Jahr 1927 wird deshalb nicht nur von der Presse, sondern auch von einem Vertreter der Kriminalpolizei verfolgt.[39] Vor 80-100 Gästen referiert der Monarchist über die Lage der Sowjetunion. Seinen überwiegend russischen Zuhörern zeichnet er dabei ein düsteres Bild der Gegenwart. Die Sowjetunion sei ein Land kurz vor dem Kollaps. Ihre Lebensdauer dürfte vielleicht noch sechs Monate, allenfalls aber zwei bis drei Jahre betragen. Angesichts dieses Zustandes sei eine Annäherung an die Sowjetunion heute töricht, da sie künftig eine erhebliche Hypothek für die deutsch-russischen Beziehungen darstellen werde. Nemirovič-Dančenkos Prognose bewahrheitet sich indes nicht. Krisen, Säuberungen und Missstände stellen auch in den kommenden Jahren das Fundament der „roten“ Herrschaft nicht in Frage.

Nach diesem Vortrag verflüchtigen sich die Spuren Nemirovič-Dančenkos in München. Anfang der 1930er Jahre zieht er nach Frankreich, wo seit einiger Zeit auch Großfürst Kirill lebt. Wahrscheinlich nimmt Nemirovič-Dančenko hier erneut seine Tätigkeit für den Kronprätendenten auf. Auch die Zeit in Frankreich hat jedoch nur Episodencharakter, denn bald darauf wandert der „weiße“ Aktivist nach Estland aus. In der estnischen Hauptstadt Reval/Tallinn verstirbt er kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Alter von 50 Jahren.

Im Laufe der frühen 1920er Jahre entwickelte sich München zu einer zentralen Anlaufstelle für russländische Exilanten. Dutzende Familien und Einzelpersonen führte ihr Weg in jene Stadt, die wenige Jahre zuvor noch Lenin beherbergt hatte. Die Wenigsten von ihnen traten öffentlich in Erscheinung. Georgij Nemirovič-Dančenko dagegen suchte und fand das Interesse der Öffentlichkeit. Rastlos setzte er sich für eine Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen ein. Ein Brückenbauer war er freilich nicht ohne Hintergedanken. Denn nur mit deutscher Unterstützung glaubte er, sein eigentliches Ziel erreichen zu können: die Wiedererrichtung des Zarenreichs. Dieser Aufgabe hatte er sein Leben verschrieben; ihr widmete er sich als Berater, Buchautor, Journalist, Redner und Vereinsmitglied. Rasch fand der vielseitig begabte Mann deshalb nicht nur in Exilantenkreisen Beachtung, sondern rief ebenso Interesse bei konservativen und nationalistischen Gruppen in Bayern hervor. Als Berater erhielt Nemirovič-Dančenko Zugang zu Größen wie Vasilij Biskupskij und Max von Scheubner-Richter, auf deren Denken er großen Einfluss ausübte. In den Kreisen der „Weißen“ übernahm er zwar wichtige, aber niemals Führungspositionen. Denn Vermögen, militärische Karriere und Herkunft bestimmten auch im Exil den gesellschaftlichen Status. Für Nemirovič-Dančenko bildeten sie eine vertraute und gleichsam undurchdringliche gläserne Decke. Als Berater blieb er deshalb im Halbschatten und eng mit dem Schicksal seiner Gönner verbunden. Dies zeigte sich im November 1923 nach dem unerwarteten Tod Scheubner-Richters. Ohne seinen Mentor stand der gebürtige Petersburger abermals vor dem Nichts. Notgedrungen verließ der studierte Jurist deshalb München. Eine weitere Odyssee begann, die für den „weißen“ Exilanten erst 16 Jahre später mit seinem Tod – unweit der alten Heimatstadt – enden sollte.

 

Endnoten

[1] Vladimir Ivanovich Nemirovich-Danchenko, in: Encyclopædia Britannica (2016), unter: www.britannica.com/biography/Vladimir-Ivanovich-Nemirovich-Danchenko, 09.09.2016.

[2] Kellogg, Michael: The Russian Roots of Nazism. White Émigrés and the Making of National Socialism, 1917- 1945. New York 2005, S. 118.

[3] Ebd.

[4] Polizeiliche Meldebögen, Stadtarchiv München (StaM), PMB N50.

[5] Baur, Johannes: Die russische Kolonie in München 1900-1945. Deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1998, S. 75.

[6] Nemirovič-Dančenko, Georgij: V Krymu pri Vrangelě: fakty i itogi [Auf der Krim bei Vrangel’. Fakten und Bilanzen]. Berlin 1922, S. 32f.

[7] Kellogg: The Russian Roots of Nazism, S. 118 [vgl. Anm. 2].

[8] Nemirovič-Dančenko: V Krymu pri Vrangelě, S. 41 [vgl. Anm. 6].

[9] Baur: Die russische Kolonie, S. 124 [vgl. Anm. 5].

[10] Russische Delegation in Berlin: Personalausweis Nr. 350, Staatsarchiv München (StA), PolDir 15537, Akten der Polizeidirektion München.

[11] Baur: Die russische Kolonie, S. 124 [vgl. Anm. 5].

[12] Auszug aus einem Bericht der Polizeidirektion vom 22.04.1921: Öffentliche Versammlung der Nationalsozialistischen-Deutschen-Arbeiterpartei im Hofbräuhaussaal am 20.04.1921, StA, PolDir 15537, Akten der Polizeidirektion München.

[13] Vgl. Kellogg: The Russian Roots of Nazism, S. 129 [vgl. Anm. 2].

[14] Baur: Die russische Kolonie, S. 258 [vgl. Anm. 5].

[15] Zur Bedeutung Scheubner-Richters für das Vereinswesen der Exilanten siehe: Baur, Johannes: Die Revolution und die „Weisen von Zion“. Zur Entwicklung des Rußlandbildes in der frühen NSDAP, in: Koenen, Gerd / Kopelew, Lew (Hgg.): Deutschland und die Russische Revolution 1917-1924. München 1998, S. 165-190, hier S. 170 und S. 173.

[16] Deutschland schuldlos am Weltkriege, in: Münchner Neueste Nachrichten, 31.03.1921 (Nr. 135), S. 4.

[17] Hoser, Paul: Münchner Neueste Nachrichten, in: Historisches Lexikon Bayerns, unter: www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Münchner_Neueste_Nachrichten, 09.09.2016.

[18] Deutschlands Schuldlosigkeit am Kriege. Das kommende Rußland und wir, in: Münchner Neueste Nachrichten, 01.04.1921, Abendausgabe (Nr. 138), S. 3.

[19] Kellogg: The Russian Roots of Nazism, S. 123 [vgl. Anm. 2].

[20] Vermerk, 14.09.1921, StA, PolDir 15537.

[21] Abschrift: Aufbau. Wirtschaftliche Vereinigung; Antrag an das Polizeipräsidium (Abteilung für Waffenscheine), 31.08.1921, StA, PolDir 15537.

[22] Aktenvermerk: Kriminalbezirk München, 10.09.1921, StA, PolDir 15537; zur wohlwollenden Haltung der bayerischen Polizeibehörden siehe: Johannes Baur: Russische Emigranten und die bayerische Öffentlichkeit, in: Beyer-Thoma, Hermann (Hg.): Aus der Geschichte der Beziehungen Bayerns, Frankens und Schwabens mit Rußland, der Ukraine und Weißrußland. Wiesbaden 2000, S. 461-478, hier S. 471.

[23] Kellogg: The Russian Roots of Nazism, S.145 [vgl. Anm. 2].

[24] Ebd., S. 145f.

[25] Ebd., S. 148.

[26] Auszug aus der Einvernahme des verh. Rittmeisters Michael Olive, 11.08.1924, StA, PolDir 15537.

[27] Verzeichnis der Mitglieder der „Russisch Monarchistischen Vereinigung in Bayern“, Stand: 15.05.1923, StA, PolDir 15537.

[28] von Nemirowitsch-Dantschenko, Georg : Das Zeitliche und das Ewige, in: München-Augsburger Abendzeitung, 18.08.1921 (Nr. 343), S. 1.

[29] Vgl. Antrag auf Ausstellung eines Personalausweises vom 24.05.1924, StA, PolDir 15537.

[30] Deutschrussische Gegenwart u. Zukunft, in: Münchner Zeitung, 08.05.1923 (Nr. 125), zit. n. Aktenvermerk der Münchner Polizeidirektion, StaM, PolDir 15537.

[31] Münchner Zeitung, 08.05.1923 (Nr. 125), StA, PolDir 15537.

[32] Baur, Johannes: Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, 1920/21-1924, in: Historisches Lexikon Bayerns, unter www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wirtschaftliche_Aufbau-Vereinigung,_1920/21-1924, 09.09.2016.

[33] Entlassungsbestätigung [Aussteller: Otto v. Kursell], 27.08.1924, StA, PolDir 15537.

[34] Nemirovič-Dančenko, Georgij: Leto Gospodine. Symfonii [Der Sommer des Herrn. Symphonien]. München 1922; in zeitgenössischen deutschsprachigen Dokumenten wird dieses Buch unter dem Titel Gottes Jahr geführt.

[35] Antrag auf Rückerstattung einer erlegten Summe, 28.06.1924, StA, PolDir 15537.

[36] Übersetzung eines Leserbriefes der russischen Zeitung Rul vom 06.12.1923, 22.12.1923, StA, PolDir 15537.

[37] Baur: Die russische Kolonie, S. 122 [vgl. Anm. 5].

[38] Dossier der Zentralpolizeistelle München, 31.12.1925, StA, PolDir 15537.

[39] Bericht über einen Vortrag bei der Staatspolitischen Gesellschaft, 09.12.1927, StA, PolDir15537; Russisches, in: Augsburger Abendzeitung, 23.12.1927 (Nr. 347).

Autor

Matthias E. Cichon

Bearbeitung: Carolin Piorun