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Hus und die Hussiten wurden in der russischen historischen Tradition stets geliebt und häufig romantisiert. Wie konnte es aber dazu kommen, dass sich die russische Gesellschaft so für einen böhmischen Häretiker und dessen Anhänger begeisterte? Die Gründe für dieses Phänomen variieren je nach Epoche.
Den ersten gezielten Versuch, die Hussiten für die russische historische Identität zu vereinnahmen, machten die Slawophilen Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie sahen den Sinn des Hussitentums vor allem in der Rückkehr zu gemeinsamen Grundlagen des östlichen Christentums, die im Großmährischen Reich von Cyrill und Method erfolgreich verbreitet worden waren und seither im tschechischen Volk angeblich nie ganz verschwunden waren.
Auch die russische positivistische Historiografie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des Fin de siècle übernahm die Idee der „immanenten Verwandtschaft“ zwischen Hussiten und Russen. Diese verbarg sich nun allerdings hinter der Formel einer „historischen Schicksalsgemeinschaft der slawischen Völker“. Die Idee einer übernationalen slawischen Identität rief politische Bewegungen der unterschiedlichsten Couleur ins Leben. Gemeinsam war ihnen fast allen, dass sie auf dem einen oder anderen Weg nach der „Befreiung der Slawen“ von „fremder Vorherrschaft“ strebten. Gerade hierbei erschien das Hussitentum als sehr hilfreich.
Seinen ersten Höhepunkt erreichte die Vorstellung von den Hussiten als heldenhaften Befreiern einer gesamtslawischen Nation vom fremden Joch verständlicherweise in den Jahren des Ersten Weltkriegs. So wurde der 500. Todestag von Jan Hus 1915 mit wesentlich größerem Aufwand begangen als sein 500. Geburtstag im Jahre 1869. Die Botschaft der Feierlichkeit wurde damals mehrmals klar artikuliert: Hus habe die Versklavung der slawischen Völker durch den ewigen Feind des Slawentums bekämpft – die Deutschen. Die heldenhaften Hussiten hätten erfolgreichen Widerstand gegen die deutsche Aggression geleistet und eine Art slawischen Schutzwall gegen den unmenschlichen „Teutonismus“ gebildet, sie seien also zugleich auch ein Bollwerk der Moral gegen die Prinzipienlosigkeit und den aggressiven Egoismus der Feinde gewesen.
In der Folge des Zweiten Weltkriegs gelangte das „antideutsche“ Hussitenkonzept zu seinem zweiten und letzten Höhepunkt. So lesen wir in einem Buch von 1955, der wichtigste Grund für den Aufstand in Böhmen sei die Unterdrückung des Landes durch die Deutschen gewesen. Die damalige direkte militärische Aggression der deutschen Feudalherren sei am heldenhaften Widerstand der Tschechen gescheitert. In dieser Interpretation hatten die Hussiten das Land von der vollständigen Assimilierung praktisch im allerletzten Moment gerettet. Dabei hätten die Massen der deutschen Werktätigen allerdings stark mit den Hussiten sympathisiert, einige deutsche Bauern oder arme Handwerker hätten sich – zusammen mit Slowaken, Polen und sogar Russen – der hussitischen Gruppierung der Taboriten angeschlossen und mit diesen die Feudalherren aller Nationalitäten bekämpft.
Die „antideutsche“ Deutung trat in der sowjetischen Historiografie nach den 1950er Jahren schnell in den Hintergrund. Die nationale Komponente des Hussitentums begann die Autoren sogar zu stören, man versuchte sie jetzt zu minimalisieren und „auszubalancieren“. Die marxistische Fragestellung setzte auch voraus, dass man die Ereignisse im spätmittelalterlichen Böhmen vor allem als Ausbruch des sozialen Protests der unterdrückten Massen der Werktätigen beschreiben müsse. Das zentrale Stichwort der sowjetischen „sozialen“ Interpretation des Hussitentums in den 1950er Jahren – und zum Teil noch wesentlich später – war dabei der „Bauernkrieg“.
Das Konzept des „Bauernkrieges“ brachte sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich. Zu den Vorteilen zählten vor allem zwei Aspekte: Erstens war der Begriff dem sowjetischen Leser vergleichsweise gut bekannt und seine Ausdehnung auf den tschechischen spätmittelalterlichen Aufstand brachte das Hussitentum dem sowjetischen historischen Bewusstsein näher, machte es verständlich und nutzbar. Zweitens ließen sich unter dem Terminus „Bauernkrieg“ mehrere Bauernaufstände in verschiedenen Ländern des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa unter ein gemeinsames methodologisches und ideologisches Dach bringen. Mit Hilfe einer polemischen Broschüre von Friedrich Engels über den Bauernkrieg von 1525 in Deutschland (1850) konnten alle Historiker der sozialistischen und volksdemokratischen Länder eine allgemeine und zugleich methodologisch „richtige“ Perspektive auf ähnliche Erscheinungen in ihren nationalen Geschichten einnehmen.
Zu den Nachteilen dieser Konzeption gehörte die Tatsache, dass man seit den späten 1950er Jahren nicht nur mit der sozialistischen Tschechoslowakei, sondern auch mit der DDR als einem wichtigen Verbündeten zu rechnen begann. Die dortigen Historiker hatten ebenfalls einen eigenen „Großen Bauernkrieg“, der nicht weniger als der Hussitensturm propagandistisch für den sozialistischen Aufbau von Nutzen sein konnte und musste. Was war in dieser Situation für Moskau wichtiger: die deutsche Frage zu lösen oder die gesamtslawische Brüderlichkeit zu stärken?
Es scheint, dass die deutsche Frage diesen Wettbewerb gewann – zugunsten des deutschen Theologen, Reformators und Bauernführers Thomas Müntzer. Dies bedeutete natürlich nicht ein sofortiges Vergessen von Jan Hus, aber die Zahl der russischen Publikationen über die Hussiten fiel gegenüber der zu Fragen des deutschen Bauernkrieges rasch zurück. Diese nachlassenden historiografischen Bemühungen, die auch die Methodologie betrafen, wurden durch die Übersetzung wichtiger Werke tschechoslowakischer marxistischer Historiker ins Russische weitgehend kompensiert. Hier war in wenigen Jahren ein eigenes Konzept des Hussitentums entstanden, in dem nicht der „Bauernkrieg“ das zentrale Stichwort war, sondern die „frühbürgerliche Revolution“.
Die jüngere Generation sowjetischer Historiker, die ab den 1960er Jahren aktiv wurde, betrachtete das „Bauernkriegskonzept“ wohl als schweres Erbe des „Dogmatismus“ – das heißt des Stalinismus –, das mit Unterstützung der tschechoslowakischen marxistischen Geschichtswissenschaft so schnell wie möglich überwunden werden musste. Nach der militärischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 durch die Warschauer Vertragsstaaten nahm die explizite Orientierung auf die tschechoslowakische Interpretation des Hussitentums bei einigen Vertretern dieser Generation eine zusätzliche politische Dimension an und gewann eine reformorientierte, liberale Färbung.
Zudem galt inzwischen das „Bauernkriegskonzept“ nicht mehr als besonders wichtig für das sowjetische Bild der mittelalterlichen Geschichte. An seine Stelle war etwas ziemlich Vages getreten. Das Hussitentum, hieß es nun zunehmend, sei sehr kompliziert gewesen und beinhalte nationale, religiöse und soziale Komponenten in unterschiedlichen Anteilen. Für gewöhnlich wurden dieser historischen Erscheinung nun so viele Ursachen zugeschrieben und wurden so viele ihrer Facetten aufgezählt, dass sich die naive Frage etwa eines Studenten, was das Hussitentum eigentlich sei, kaum noch beantworten ließ. Gelegentlich bezeichnete man es sehr vorsichtig, aber zugleich anspruchslos als „Volksbewegung“, wesentlich öfter als „revolutionäre Bewegung“, gelegentlich sogar als „Revolution“ – obwohl sich der Eindruck aufdrängt, dass dieser Begriff den sowjetischen Historikern nicht besonders genehm war.
Die beiden Charakterisierungen des Hussitentums als „revolutionäre Bewegung“ oder „Revolution“ waren aus der Tschechoslowakei importiert, wo sie eine lange Geschichte besaßen. In Russland scheinen sowohl die Bezeichnung „revolutionäre Bewegung“ als auch der Begriff „Revolution“ im Zusammenhang mit dem Hussitentum eher bedenklich zu sein. Dort wird von jeder „echten“ Revolution durchaus im traditionellen „sowjetmarxistischen“ Sinn erwartet, dass sie die Gesellschaft von einer Stufe auf die nächste, höhere bringt. Die „Musterrevolution“ ist dabei oft unbewusst die „Große Französische Revolution“, die später ihre Nachfolgerin in der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ fand. Für die Tschechen spielten indessen die Ereignisse von 1848 die Rolle der „Musterrevolution“, die sich nahezu hinter allen Überlegungen über die „Hussitenrevolution“ entdecken lässt.
Schon allein deswegen war die Idee einer „Revolution“, die sich in einer bestimmten (zum Beispiel „feudalen“) „gesellschaftsökonomischen Formation“ vollzieht und nicht zu einer anderen, höheren Entwicklungsstufe führt, für die sowjetischen Historiker skurril. Die Kompromisswendung „revolutionäre Bewegung“, die in der Tschechoslowakei häufig und in der Sowjetunion gelegentlich benutzt wurde, wirkte auf sowjetische Leser eher gespenstisch: Wie kann „eine revolutionäre Bewegung“ ohne „Revolution“ entstehen und dann so lange dauern?
Selbst die stärker am offiziellen Marxismus orientierte Theorie der ostdeutschen Historiker, nach der die Reformation des 16. Jahrhunderts in Deutschland als eine „frühbürgerliche Revolution“ mit dem Bauernkrieg als Kulmination auftrat, wurde in der Sowjetunion nicht rezipiert. Innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft konkurrierte die frühbürgerliche Revolution auf deutschem Boden in den letzten Jahrzehnten mit der tschechischen „Hussitenrevolution“, die mindestens bis Mitte der 1960er Jahre in der Tschechoslowakei als „frühbürgerliche“ galt. Der Charakter der „Hussitenrevolution“ erschloss sich den sowjetischen Historikern aber noch weniger als der der unvollkommenen „frühbürgerlichen Revolution“ mit Thomas Müntzer an der Spitze.
Eine Alternative zu dem „revolutionisierenden“ (also ursprünglich dem tschechischen „national-marxistischen“) Bild des Hussitentums boten seit den 1990er Jahren Historiker, die näher zur Tradition der deutschen protestantischen Historiografie stehen und den Hussitensturm mit Hilfe des Schlüsselwortes „Reformation“ zu beschreiben versuchen. Sie definieren das Hussitentum vorsichtig und ausgewogen als „intellektuelle Bewegung“, die in eine starke sozial-politische und religiöse Bewegung mündete, welche ihrerseits Formen eines Bürgerkrieges annahm und eine Wechselwirkung zwischen dem Reich und Böhmen auslöste. Das Hussitentum wird zudem als Übergangserscheinung zwischen den mittelalterlichen Häresien und der Reformation des 16. Jahrhunderts charakterisiert, wobei die Frage danach, welche Elemente in ihm dominierten – die spätmittelalterlichen oder die „frühreformatorischen“ –, als scholastisch abgelehnt wird.
Der für die „klassische“ sowjetische Historiografie charakteristische linke Radikalismus bestimmte durchaus, wo die Akzente bei der Einschätzung verschiedener Strömungen innerhalb des Hussitentums gesetzt werden mussten. Natürlich galten die Sympathien der sowjetischen Historiker den „revolutionären Hussiten“, d. h. den Taboriten, wobei die Vertreter der „bürgerlichen Opposition“ oft als tatsächliche oder potentielle Verräter beschrieben wurden. Genau wie in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit erfreuten sich zuerst die Chiliasten-Pikarden-Adamiten mit Martin Húska an ihrer Spitze besonderer Beliebtheit. Im feudalen Böhmen, so die Deutung, war der Chiliasmus eine revolutionäre Ideologie, die die Massen zum Kampf gegen ihre Unterdrücker aufrief.
Allmählich aber büßte der „russische“ Blick auf das Hussitentum seinen früheren Radikalismus ein. Einerseits erschien noch in den 1970er Jahren eine Forschungsarbeit, in der die „gemäßigten“ Hussiten („die bürgerliche Opposition“) als „insgesamt fortschrittliche“ Bewegung präsentiert wurden. Andererseits wurde man spätestens in den 1980er Jahren wesentlich vorsichtiger mit Sympathieäußerungen gegenüber den Chiliasten-Pikarden. Anfang der 1990er Jahre konnte man gelegentlich sogar lesen, sie seien „Extremisten“ gewesen, die „Anarchie“ verbreiteten.
Unter dem erneuerten marxistischen Paradigma wurden ab Ende der 1970er Jahre die Ursachen der hussitischen „Revolution“ (bzw. der „revolutionären Bewegung“) ganz im Sinne der tschechoslowakischen Historiografie hauptsächlich in der ökomischen Entwicklung gesucht, die Böhmens seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vor allem infolge der verspäteten Auswirkung der gesamteuropäischen Krise auf die böhmische Wirtschaft genommen hatte.
Die Interpretation des Hussitentums als eine soziale Revolution war aus dem Geist der tschechischen sozialistischen Reformbewegung – des „Prager Frühlings“ im Jahr 1968 – heraus entstanden und wurde in der folgenden Zeit der Restaurierung der Macht der kommunistischen Partei durch das Motiv der nationalen Befreiung ergänzt. Konnte aber eine solche Konzeption dem spätsowjetischen wie auch dem russischen Denken in der postsozialistischen Epoche nahe liegen?
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich für die Zeit nach 1969 und besonders in den 1980er Jahren eine wachsende Diskrepanz hinsichtlich der Wahrnehmung der Hussitenbewegung bei den tschechoslowakischen und dem Gros der sowjetischen Historiker feststellen lässt. In der Tschechoslowakei gewannen die Hussiten kontinuierlich an Bedeutung, selbst die „hussitische“ Epoche wurde immer breiter gefasst, bis sie sich auf etwa drei Viertel des 15. Jahrhunderts bezog. Die sowjetischen Historiker blieben dagegen bei ihrer ursprünglichen Meinung, dass die Niederlage der Taboriten in der Schlacht bei Lipan 1434 das Ende der Hussitenbewegung bedeutete und eine ganz neue Etappe der Geschichte der böhmischen Länder einleitete.
Auch kehrten sie, oder doch zumindest ein einflussreicher Teil der sowjetischen Historiografie, immer wieder zu der alten These zurück, die Hussitenbewegung sei teilweise eine Reaktion auf die weit fortgeschrittene „Germanisierung“ des Landes gewesen und habe die tschechische nationale und kulturelle Identität der böhmischen Länder gerettet. Im Unterschied dazu ging es den tschechoslowakischen Kollegen darum, zu vermitteln, dass die Hussiten nicht die nationale Rettung, sondern den nationalen Aufschwung markiert hätten. Hinter diesen Diskrepanzen in der Deutung erkennt man verschiedene politische Visionen, die mehr mit der damals aktuellen Situation in den betreffenden Staaten als mit wissenschaftlichen Einschätzungen der Prozesse im 15. Jahrhundert zu tun hatten…
Die heutige russische „Hussitologie“ (das Wort wurde in den 1970er Jahren aus der Tschechoslowakei entlehnt und gewinnt seit den 1990er Jahren immer mehr an Bedeutung) hat, meines Wissens nach, keine eigenen anspruchsvollen Konzepte anzubieten. Bisher bestand ihre Hauptleistung darin, eine ganze Reihe alter sowjetischer Konstrukte aus dem Weg geräumt und neueren tschechischen Interpretationsmodellen zur Durchsetzung verholfen zu haben. Wie es um das Verhältnis zwischen Alt und Neu derzeit steht, lässt sich am Beispiel des entsprechenden Kapitels der neuesten russischen „Weltgeschichte“ (Uvarov, Pavel (Hg.): Vsemirnaja istorija v šesti tomach [Weltgeschichte in sechs Bänden]. Bd. 2: Srednevekovye civilizacii Zapada i Vostoka [Mittelalterliche Zivilisationen des Westens und des Ostens]. Moskva 2012, S. 714-721) wohl am besten zeigen.
Hier bedrohen die Deutschen die tschechische oder gesamtslawische Identität schon gar nicht mehr, ganz im Gegenteil: Mitte des 14. Jahrhunderts habe das Böhmische Königreich die dominierende Position im gesamten Mitteleuropa einschließlich des Heiligen Römischen Reichs erlangt. Darüber hinaus habe es nach der führenden Position in der slawischen Welt gestrebt und in dieser Zeit den Höhepunkt seiner gesamten historischen Entwicklung erreicht. Sein wirtschaftliches Wachstum aber sei an die Grenzen der feudalen Wirtschaft gestoßen, was eine soziale Krise nach sich gezogen habe, die das Land daran gehindert habe, seine führende Position in der Region zu behaupten. Diese Krise habe alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betroffen, zunächst aber Politik und Religion.
Das Phänomen der Hussiten wird wie folgt erklärt: Die Bewegung hatte ihren Ursprung an der Prager Universität und fußte zunächst auf den Ideen des englischen Kirchenreformers John Wyclif, wobei sich in ihrer Ideologie und ihren Aktivitäten religiöse und soziale Motive vermengten. Jan Hus legte ein neues demokratisches Konzept für die Kirche vor, erwies sich durch eine Universitätsreform aber auch als tschechischer Patriot. Zur populärsten Figur im Lande wurde er durch seine sozial-ethische Lehre. Die Forderungen der Hussiten richteten sich vor allem gegen die Kirche als Institution, die die Menschen klein hielt und erniedrigte, der Kampf dagegen vereinte die wichtigsten Kräfte Böhmens. Anfangs war die Hussitenbewegung allgemein christlich geprägt, doch gewann der nationale Aspekt allmählich die Oberhand, womit auch gewisse antideutsche Motive aufkamen.
Das Werk gelangt zu dem Schluss, dass der Hussitismus die erste Reformationsbewegung in Europa und zudem siegreich gewesen sei sowie die tschechische Gesellschaft insgesamt merklich demokratisiert habe. Doch diese Führungsposition habe die böhmischen Länder zugleich aus dem gesamteuropäischen Entwicklungskontext herausgerissen. Das „Land der Häretiker“ sei provinzialisiert und marginalisiert worden und seine Einwohnerschaft habe die gefährliche Form eines „zerspaltenen Volkes“ angenommen.
Welchen Eindruck macht dieses neue Bild des hussitischen Zeitalters wohl auf den russischen Leser? Mit dessen akuten Sorgen, Frustrationen und Hoffnungen korrespondiert es sicher kaum. Da es zurzeit mit keinem für die russische Gesellschaft wesentlichen „historischen Sinn“ besetzt ist, wird das Hussitentum allmählich zu einer ziemlich marginalen Erscheinung im Geschichtsbild. Zwar wirken in der einen oder anderen Publikation noch die alten, ursprünglich deutsch-protestantischen Assoziationen, die mehr mit Fragen der Moral als mit Geschichte und Politik zu tun haben: Jan Hus sei ein unbeugsamer Kämpfer für die Wahrheit gewesen, wie er sie verstand. Für sie wurde er zum Märtyrer. Die Hussiten waren dieser Lesart zufolge ähnlich unbeugsame Kämpfer für ihr Heimatland und soziale Gerechtigkeit. Die moralischen Tugenden (wie auch die Laster) sind aber wenig spezifisch, zumal man sie heute durchaus nach seinem eigenen Geschmack in allen möglichen historischen Epochen finden kann. Die hohe Moral der Hussiten allein kann ihnen daher keinen festen und sicheren Platz im russischen „historischen Bild“ garantieren. Dafür wäre mehr nötig.
Das Ende einer langen Liebesgeschichte?
Die russische historische Imagination hat also in den letzten knapp zwei Jahrhunderten eine Reihe verschiedener „Integrationsmodelle“ für das fremde Hussitentum getestet. Bis jetzt hat sich jedoch keines von diesen Modellen als fähig erwiesen, eine dauerhafte und erfolgreiche Integration der mittelalterlichen tschechischen Rebellen in das russische Bild von der Vergangenheit – und damit auch in die russische Identität – zu bewerkstelligen. Hier kommen wir zum Hauptergebnis dieses Beitrags: Die lange Auseinandersetzung mit dem Thema „Hussitentum“ erscheint momentan als ergebnislos. Die Hussiten gestatteten der russischen Gesellschaft keine klare und deutliche Verwertung, ideologische Anpassung und Aneignung.
Wie auch immer das Hussitentum künftig in Russland thematisiert werden wird, eines scheint schon heute klar zu sein: Ganz anders als 1915 wird es im Jahr 2015 in ganz Russland keine einzige nennenswerte – akademische, öffentliche oder gar staatliche – Veranstaltung geben, die dem 600. Todestag von Jan Hus gewidmet wäre. Und dieser Kontrast spricht für sich. Ist also Jan Hus für die Russen als Objekt einer wechselhaften Liebe inzwischen doch gestorben?
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