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Besonders im Bereich der Area Studies sehen sich junge Wissenschaftler:innen in der Qualifikationsphase mit dem Thema Interdisziplinarität konfrontiert. Auf der einen Seite sind sie im Zuge der Einführung interdisziplinär konzipierter Masterprogramme und Graduiertenschulen interdisziplinär sozialisiert worden, auf der anderen Seite stehen ihnen an der Universität nach ihrer wissenschaftlichen Qualifikation vor allem disziplinäre Karrierewege offen.[1] Dabei ist auch heute trotz zahlreicher Bestimmungs- und Systematisierungsversuche noch nicht eindeutig geklärt, was sich konkret hinter dem Begriff „Interdisziplinarität“ verbirgt.[2] Eine ähnlich ausführliche Beschreibung der Lage von Interdisziplinarität in Forschung und Lehre wie im Oxford Handbook on Interdisciplinarity[3] gibt es im deutschsprachigen Kontext nicht; dazu werden auch im erwähnten Handbuch die Perspektiven von Nachwuchswissenschaftler:innen eher nur gestreift als ausführlich behandelt. Zusätzlich zu begrifflichen Unklarheiten und der mangelnden Repräsentation künftiger Wissenschaftler:innen-Generationen fällt ins Auge, dass die Beziehung zwischen Interdisziplinarität und Area Studies unzureichend berücksichtigt wird. Dies trifft umso mehr für die deutsche Wissenschaftslandschaft zu, die zwar die Idee der Interdisziplinarität, aber nicht unbedingt die universitären Strukturen aus dem angloamerikanischen Raum importiert hat,[4] sodass praktische Handreichungen[5] mit strukturellen Hindernissen zu kämpfen haben. Im universitären Diskurs zum Modewort Interdisziplinarität – beispielsweise im Positionspapier vom Deutschen Wissenschaftsrat zu „Wissenschaft im Spannungsfeld von Disziplinarität und Interdisziplinarität“[6] – ist zudem die Stimme derjenigen unterrepräsentiert, die eine zunehmend interdisziplinär organisierte Ausbildung genossen haben: jene des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Diesen offensichtlichen hochschulpolitischen Themen gehen jedoch epistemologische Überlegungen voraus. Was ist Interdisziplinarität und wie wirkt sie sich auf die Erzeugung von Wissen aus? Ist Interdisziplinarität in der Teamarbeit mehrerer Wissenschaftler:innen verankert, oder kann man bei individuell agierenden Forschenden sogar von einer interdisziplinären scientific persona[7] sprechen? Warum sind gerade Area Studies besonders geeignet (oder anfällig?) für Interdisziplinarität? Wie sind die Beziehungen interdisziplinärer Forschung mit Ost(mittel)europabezug zu unterschiedlichen „Mutterdisziplinen“? Welche Möglichkeiten und Grenzen bieten sich für interdisziplinäres Arbeiten auf theoretischer und praktischer Ebene? Diese Fragen deuten bereits an, dass der Begriff „Interdisziplinarität“ in der Ost(mittel)europaforschung trotz (oder wegen?) seiner inflationären Verwendung in Antragstexten und Projektbeschreibungen tatsächlich ein weites Feld mit vielen Unklarheiten darstellt.
Das Ziel unserer Studie „Grenzgänger:innen“ war deswegen, die Perspektive von Studierenden und jungen Wissenschaftler:innen aus den Osteuropastudien auf Interdisziplinarität zu untersuchen. Sie befasste sich konkret mit
Die Erhebung fand über einen 10-15-minütigen Online-Fragebogen statt, der neben grundlegenden soziodemografischen Angaben detaillierte Angaben zum Studien- und Berufsverlauf erfasste und sich grob in die drei zuvor genannten Ziel-Themengebiete gliederte. Im Mittelpunkt der Befragung stand die subjektive Einschätzung von Interdisziplinarität, die in Form von offenen und geschlossenen Fragen erfasst wurde. Einen wesentlichen Teil bildete die Bewertung von bzw. Zustimmung zu Aussagen, die über eine verbal verankerte fünfstufige Likert-Skala (stimme nicht zu – eher nicht zu – teils-teils – eher zu – stimme voll und ganz zu) erfolgte. Um die konnotative Bedeutung von Interdisziplinarität zu erfassen, wurde außerdem ein semantisches Differenzial eingesetzt, bei dem die Befragten möglichst spontan den Begriff „Interdisziplinarität“ anhand vorgegebener bipolarer Adjektivpaare auf einer fünfstufigen Likert-Skala einstufen sollten. Im Ergebnis wurde daraus dann ein Polaritätsprofil erstellt.[8] Die weitere Auswertung der geschlossenen Fragen erfolgte über Häufigkeitsanalysen bzw. jene der offenen Fragen mittels qualitativer Inhaltsanalyse. Alle Interessierten haben im Anschluss an die Befragung ein Handout mit den zentralen Ergebnissen erhalten.
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die einzelnen Themenbereiche des Fragebogens mit Beispielitems.[9]
Die Studie wurde über einschlägige Osteuropa-Institute sowie über die Junge DGO, Facebook und Twitter beworben. Insgesamt haben im Befragungszeitraum (5.11.2021 bis 3.12.2021) 55 Personen (58% weiblich, 36% männlich) zwischen 21 und 43 Jahren (MW: 28 Jahre, SW: 4.38) an der Befragung teilgenommen. Rund zwei Drittel der Befragten hatten ihren aktuellen Wohnort in Deutschland, ein Fünftel war in Österreich wohnhaft. 71% der Befragten besaßen zudem deutsche Staatsangehörigkeit, die Muttersprache war von 85% der Befragten deutsch. Diese Angaben waren insofern von Relevanz, als es sich bei der Studie konkret um die Erfahrungen und Einschätzungen in Bezug auf die deutsche bzw. deutschsprachige Wissenschaftslandschaft handeln sollte.
Der erste Teil der Umfrage widmete sich statistischen Fragen zu individuellen Karrierewegen in Bezug auf interdisziplinäre Studienverläufe. 85% der Befragten haben (auf unterschiedlichen Wegen) inter- bzw. multidisziplinär studiert.[10] Das heißt, sie haben mindestens zwei unterschiedliche Fächer parallel oder konsekutiv (multidisziplinäres Studium) bzw. ein genuin interdisziplinäres Studienprogramm wie „Osteuropastudien“ oder „Interdisziplinäre Polenstudien“ absolviert. Im diachronen Vergleich fällt auf, dass bei Studierenden, die ihr Studium im Jahr 2013 oder später aufgenommen haben, interdisziplinär denominierte Studiengänge an Bedeutung gewonnen haben (54% im Gegensatz zu 42% aller Befragten).
In Bezug auf die Universitätsstandorte zeigte die Umfrage, dass für das Aufbaustudium bzw. Master-Studium größere Universitäten wie die LMU München mit dem M.A.-Studiengang „Osteuropastudien“[11] und die FU Berlin mit dem Osteuropa-Institut als zentrale Anlaufpunkte für Studierende eine größere Anziehungskraft haben als im Grundstudium, wo eine größere Vielfalt an Studienorten herrschte. Das Ergebnis unterstreicht die Bedeutung der genannten Institutionen für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich der Osteuropastudien. Beide sind genuin interdisziplinär ausgerichtet, sodass Interdisziplinarität als prägend für die wissenschaftliche Sozialisierung eines bedeutenden Teils zukünftiger Osteuropa-Expert:innen gesehen werden kann.[12]
In Bezug auf die Promotion zeigte die Umfrage, dass sich nur eine Minderheit (21%) der befragten Promovierenden im Bereich der Osteuropastudien zwischen Studium und Promotion für einen disziplinären Wechsel entschieden haben und somit ein Promotionsfach wählten, das nicht ihrem vorherigen Studienschwerpunkt entsprach. Von diesen haben wiederum alle bereits im Studium interdisziplinäre Erfahrungen gesammelt. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass Interdisziplinarität nicht erst bei der Promotion beginnt und Promovierende, die interdisziplinär arbeiten, intensiv beraten werden sollten, wie es bereits vom Wissenschaftsrat gefordert wurde.[13] Hier ist Froese et al. zuzustimmen, dass Interdisziplinarität in der Qualifikationsphase auch Risiken für die Karriereplanung berge.[14]
Die mit Abstand am häufigsten genannte Motivation für einen Fachwechsel war eine Interessensverlagerung bei den Befragten (87%). Breitere Berufschancen im neuen Fach gaben dagegen beispielsweise nur 26% als Grund an. Andere Gründe wie falsche Erwartungen von Studium oder Berufsfeld waren sehr individuell und sind aufgrund der breiten Streuung zu vernachlässigen. Von 38 Befragten, die derzeit einer Hauptbeschäftigung nachgehen, gaben 21 (d.h. 55%) an, dass diese Tätigkeit ihrem Studium entspreche. Ganz oder teilweise entspricht die berufliche Tätigkeit dem Studium bei 84% der Befragten.
In einem zweiten Schritt fragte die Studie nach den subjektiven Assoziationen mit interdisziplinär betriebener Wissenschaft. Als Einstieg sollten die Befragten ihr Verständnis von Interdisziplinarität stichwortartig erläutern. Eine beispielhafte Definition lautete:
„Interdisziplinarität ist ein Prozess, geprägt vom stetigen Austausch mehrerer disziplinärer Zugänge und gegenseitiger Offenheit für die unterschiedlichen Zugänge mit dem Ziel, neue Fragen und methodische Zugriffe zu entwickeln, um ein umfassenderes Gesamtbild eines Untersuchungsgegenstandes freilegen zu können.“
Darin enthalten sind bereits zahlreiche Komponenten, die von einem Großteil der Befragten in gleicher oder ähnlicher Form genannt wurden. Ein wesentlicher Bestandteil des Verständnisses von Interdisziplinarität sei laut den Befragten die jeweilige Perspektive bzw. der Blickwinkel: So werden mehrere unterschiedliche, insbesondere „fremde“ Perspektiven eingenommen, um sich einem Gegenstand zu nähern („Einbeziehung fachfremder Perspektiven“). Dafür sei das Zusammenspiel bzw. die Kombination verschiedener Fächer notwendig, um über disziplinäre Grenzen hinaus zu forschen. Dabei wurde neben der Zusammenarbeit der einzelnen Disziplinen explizit auch die Bedeutung der Verknüpfung und Integration („Verflechtung mehrerer Wissenschaftsfelder“) hervorgehoben. Dies deckt sich mit dem Verständnis des Wissenschaftsrates, der gerade diese Synthese als konstitutiv für Interdisziplinarität ansieht.[15] „Um ein umfassenderes Gesamtbild“ leisten zu können, bediene man sich unterschiedlicher Theorien und Methoden („methodische Vielfalt“). Dies geschehe sowohl auf individueller Ebene, also einer forschenden Person,[16] als auch auf interpersoneller Ebene, indem die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Personen als zentral angesehen werden.[17] Interdisziplinarität wurde von den Befragten außerdem mit Vielfalt und Vielseitigkeit charakterisiert, wobei die Offenheit als affektive Komponente eine große Rolle spielt. Insgesamt wurde Interdisziplinarität also von den Befragten als eine Grundhaltung, gewissermaßen als ein Mindset beschrieben, das sich durch eine Offenheit, Multiperspektivität und als grenzüberschreitender Ansatz verbunden mit der Entlehnung „fremder Werkzeuge“ auszeichnet. Abb. 1 gibt als Wordcloud einen Überblick über die zentralen genannten Begriffe, wobei sich die jeweilige Größe aus der Häufigkeit der Nennungen ergibt.
Im Weiteren sollten die Teilnehmenden stichwortartig Gründe für bzw. gegen Interdisziplinarität notieren. Dabei überwogen laut den Befragten eindeutig die Vorteile von Interdisziplinarität, denn auf fünf Pro-Argumente wurden nur drei Contra-Argumente eingebracht; insgesamt werde Interdisziplinarität als „Bereicherung“ erlebt. Auffallend ist, dass die Vorteile von Interdisziplinarität besonders im Zusammenhang mit den Adjektiven „breiter“, „besser“ und „neu“ genannt wurden. Dies bedeutet beispielsweise
Letzteres verweist auf das Innovationspotenzial und den Fortschritt, den Interdisziplinarität laut den Befragten mit sich bringe bzw. bringen könne. Einer der größten Vorteile wurde jedoch in der „Überwindung von Fächergrenzen“ gesehen verbunden mit dem „Herauskommen aus dem eigenen, engen Sichtfeld“ („Tunnelblick überwinden“). Durch das “Denken ‚out of the box‘“ werde „Fachidiotie vermieden“ und es eröffnen sich mehrere verschiedene Blickwinkel mit einem erweiterten Horizont („Weitblick“). Ein weiterer großer Vorteil von Interdisziplinarität ergebe sich aus den vielfältigen Soft Skills, die die Personen dadurch entwickelten. Dazu gehörten laut den Befragten etwa kognitive Flexibilität, Kompetenz zu situativer Adaption, Problemlösefähigkeit, Selbstreflexion, Lernfähigkeit und Lerntransfer, Mediations-, Interaktions- und Teamkompetenz. Gerade in unserer dynamischen, modernen VUCA-Welt[18] sind diese Kompetenzen mehr gefragt denn je, im Diskurs über Interdisziplinarität spielen sie jedoch bisher eine geringere Rolle. In Hinblick auf die beruflichen Perspektiven, aber auch die Profilbildung von interdisziplinären Studiengängen sollte diese Kompetenzorientierung zukünftig noch deutlicher als Stärke von Interdisziplinarität kommuniziert werden.
Trotz der zahlreichen Chancen existieren auch einige Gründe, die gegen Interdisziplinarität sprechen. Während beispielsweise die breitere fachliche Aufstellung grundsätzlich als ein weiterer Vorteil angesehen wird, berge dies laut den Befragten gleichzeitig den größten Nachteil: Denkbar seien ein „Verlust von Tiefgang“ sowie die unsaubere bis „falsche Anwendung von Theorien und Methoden“ aufgrund mangelnder Expertise. Interdisziplinarität erscheine dann „oberflächlich“ und „beliebig“. Dies werde besonders dann zum Problem, wenn aufgrund der Interdisziplinarität der Fokus bzw. das Ziel aus den Augen verloren und das Arbeitsfeld nicht klar genug definiert werde. Vieles werde dann „gestreift, aber nicht richtig“; die positiv bewertete breite Aufstellung gehe dann zulasten der einschlägigen Expertise („nicht die nötigen Fähigkeiten fürs Kernfach“). In Bezug auf die Rezeption von Interdisziplinarität stoße man zudem oft auf Unverständnis bei der älteren Generation (Stichwort „belächelt“) und es falle schwer, den Kommunikationspartner:innen die Vorteile verständlich zu machen. Dies betreffe etwa schlechtere Karriereperspektiven, die Benachteiligung bei Förderanträgen sowie die potenzielle Rezeption der eigenen Forschung. Auch die fächerübergreifende Zusammenarbeit, die zwar grundsätzlich einen Vorteil darstellt, könne erschwert werden, da der gemeinsame Nenner („Konsens“) oder überhaupt die Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei ausgewiesenen Expert:innen fehle. Für die forschende Person stelle zudem die mangelnde Selbstverortung einen Nachteil von Interdisziplinarität dar, da man in keiner Fachrichtung mehr verwurzelt sei und so „zwischen den Stühlen stehe“. Zudem sei Interdisziplinarität mit großem zeitlichen und organisatorischen Aufwand verbunden: für die Betroffenen daher „stressig“, für den Markt insgesamt „weniger effizient“. Das bedeutet, dass die Befragten zwar grundsätzlich viele Vorteile von Interdisziplinarität sehen, aber diverse Herausforderungen und (strukturelle) Hürden erleben bzw. sich ihrer bewusst sind.
Auch das semantische Differential (Polaritätsprofil) mit verschiedenen Adjektivpaaren zur Bewertung von Interdisziplinarität (vgl. Abb. 2) unterstreicht die grundsätzlich positive Wahrnehmung von Interdisziplinarität als wichtig, anregend und innovativ. Dies deckt sich mit den Beobachtungen des Wissenschaftsrates, wonach Interdisziplinarität mit „asymmetrische(n) Zuschreibungen, die von normativen Annahmen“ ausgingen, verbunden sei. So werde dem „Regelfall“ Disziplinarität der positiv(er) konnotierte „Sonderfall“ Interdisziplinarität entgegengesetzt.[19] Gleichzeitig zeichneten die Befragten ein differenzierteres Bild, da sie Interdisziplinarität darüber hinaus tendenziell als eher chaotisch und oberflächlich einstuften, was auf (eher negative) subjektive Erfahrungen zurückgehen könnte (siehe oben).
Während es hier um die konnotative Wahrnehmung des Begriffs Interdisziplinarität ging, sollten im Folgenden verschiedene Aussagen zur Bedeutung von Interdisziplinarität im Allgemeinen bewertet werden.[20] Rund 84 % der Befragten stimmten eher (51%) bzw. voll und ganz (33%) zu, dass Interdisziplinarität wichtig für ihre Ausbildung sei. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass Interdisziplinarität ein zentraler methodischer Bestandteil ihres (Promotions-)Studiums sei. Fast Dreiviertel der Befragten (73%) stimmten eher (38%) bzw. voll und ganz (35%) zu, dass Interdisziplinarität zudem wichtig für ihren (späteren) Beruf sei. Das bedeutet, dass Interdisziplinarität innerhalb der Stichprobe eine große Bedeutung für Ausbildung und Beruf zukommt. Grundsätzlich wirke sich Interdisziplinarität laut zwei Drittel der Befragten außerdem förderlich, aber nicht hinderlich für die eigene wissenschaftliche, aber auch die berufliche Karriere aus. Sie verhindere zudem laut der Mehrheit (57%) nicht die Entwicklung fachlicher Exzellenz. Wie bereits zuvor genannt, kommt der interpersonellen Zusammenarbeit eine große Bedeutung zu: So stimmte mehr als die Hälfte der Befragten (53%) eher (33%) bzw. voll und ganz (20%) zu, dass Interdisziplinarität nur im Teamwork möglich sei. Während die bisher genannten Aussagen tendenziell eindeutig bewertet wurden, war bei den kritischen Aspekten von Interdisziplinarität insgesamt eine breitere Streuung zu beobachten, was auf die Bedeutung bisheriger (sehr) individueller Erfahrungen hinweist. Die Hälfte der Befragten (51%) gab jedoch an, sich für ihre interdisziplinäre Arbeit (eher) nicht rechtfertigen zu müssen. Ob Interdisziplinarität, wie eingangs behauptet wurde, als wissenschaftliches Modewort einzustufen sei, wurde ebenfalls uneindeutig beantwortet.
Im letzten Teil der Befragung ging es wiederum um die Bewertung von Aussagen zur Wahrnehmung von Interdisziplinarität in Zusammenhang mit Area Studies im Allgemeinen und der Osteuropaforschung im Speziellen.[21] Interdisziplinarität wurde von einer großen Mehrheit der Befragten (80%) als zentral für Area Studies angesehen, da Regionen nur aus verschiedenen Disziplinen verstanden werden können. Dabei sollte die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen laut Dreiviertel der Befragten grundsätzlich verbessert werden, gleichzeitig funktioniere diese bei 60% der Befragten im eigenen Fach schon gut. Auch bezüglich der Reputation gaben ähnlich viele an, dass Interdisziplinarität innerhalb des eigenen Fachs angesehen sei. In Bezug auf den Bestand sowie den Bedarf von Institutionen (Studiengängen und Forschungszentren) ergab sich wiederum eine breitere Streuung der Antworten, was auf eine größere Unsicherheit unter den Befragten hinweist. Tendenziell wurde jedoch ein größerer Bedarf im Vergleich zum aktuellen Bestand wahrgenommen.
Obwohl sich junge Wissenschaftler:innen in der Qualifikationsphase besonders im Bereich der Area Studies mit dem Thema Interdisziplinarität konfrontiert sehen, werden ihre Perspektiven in den aktuellen Diskussionen kaum berücksichtigt. Ziel unserer Befragung war daher eine erste Bestandsaufnahme der individuellen Karrierewege sowie der subjektiven Einschätzung in Bezug auf die Wahrnehmung von Interdisziplinarität im Allgemeinen, dem eigenen Selbstverständnis sowie der Bedeutung von Interdisziplinarität für die Osteuropaforschung im Speziellen. Dabei haben sich insbesondere größere Universitäten wie die FU Berlin oder LMU München als Zentren der Interdisziplinarität herauskristallisiert. Außerdem ist eine zunehmende Bedeutung genuin interdisziplinärer (Master-)Studiengänge zu beobachten. Insgesamt verstehen die Befragten Interdisziplinarität als spezifische Perspektive bzw. gewisses Mindset verbunden mit einem „großem Werkzeugkasten“, der sich aus verschiedenen Feldern speist. Interdisziplinarität wird von der großen Mehrheit als äußerst positiv wahrgenommen, wobei besonders das Innovationspotenzial hervorgehoben wird. Die Förderung zahlreicher, in unserer dynamischen Welt sehr gefragten Soft Skills durch Interdisziplinarität sollte beispielsweise zukünftig noch stärker fokussiert bzw. kommuniziert werden. Gleichzeitig sind sich die Befragten den Herausforderungen und Gefahren von Interdisziplinarität wie einer potentielle Oberflächlichkeit, Beliebigkeit und methodischen Unschärfe bewusst. Auch bisherige eher kritische, eigene Erfahrungen spiegeln sich in den Ergebnissen wider. Doch insgesamt zeigt die Studie, dass aus einer „jungen Perspektive“ der Nutzen gegenüber dem Risiko eindeutig überwiegt und in Bezug auf die Osteuropaforschung der Bedarf tendenziell als größer wahrgenommen wird, als aktuell der Bestand ist. Die hohe Quote an Befragten mit Erfahrung in interdisziplinären Studienkontexten ermöglichte es, die Selbstwahrnehmung von interdisziplinär arbeitenden Nachwuchswissenschaftler:innen aussagekräftig zu beschreiben, wenngleich hierdurch die Perspektive der Fremdwahrnehmung zu kurz kommt. Hier wären weitere Untersuchungen angezeigt. Außerdem könnte eine Umfrage mit größerer Teilnehmendenzahl eine höhere Repräsentativität für den akademischen Betrieb im deutschsprachigen Raum erreichen. Wir plädieren zusammenfassend nicht für eine blinde, normative Präferenz der vermeintlich neuen Interdisziplinarität, wollen aber eine differenzierte Perspektive einbringen und weitere Diskussionen anregen, inwiefern Interdisziplinarität nicht nur einen Zeitgeist widerspiegelt, sondern den aktuellen Herausforderungen einer zunehmend verflochtenen Welt gerecht werden kann.
[1]Anna FROESE, Hendrik WOIWODE, Silvio SUCKOW: Mission impossible? Neue Wege zu Interdisziplinarität: Empfehlungen für Wissenschaft, Wissenschaftspolitik und Praxis, Berlin 2019.
[2]Thorsten PHILIPP: Interdisziplinarität, in: Ders., Tobias SCHMOHL (Hrsg.): Handbuch Transdisziplinäre Didaktik, Bielefeld 2021, S. 163-174.
[3]Robert FRODEMAN (Ed.): The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, Oxford 2017.
[4]Hans P. BAHRDT, Helmut KRAUCH, Horst RITTEL: Die wissenschaftliche Arbeit in Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 12 (1960) 1, S. 1-40.
[5]Siehe beispielsweise Mirjam BRASSLER: Praxishandbuch Interdisziplinäres Lehren und Lernen. 50 Methoden für die Hochschullehre, Weinheim 2020. Carmen SCHIER, Elke SCHWINGER (Hrsg.): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität als Herausforderung akademischer Bildung. Innovative Konzepte für die Lehre an Hochschulen und Universitäten, Bielefeld 2014.
[6]WISSENSCHAFTSRAT: Wissenschaft im Spannungsfeld von Disziplinarität und Interdisziplinarität. Positionspapier (Drs. 8694-20), Oktober 2020, https://www.wissenschaftsrat.de/download/2020/8694-20.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (06.12.2022).
[7]Lorraine DASTON, Otto H. SIBUM: Introduction: Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16 (2003) 1/2, pp. 1–8.
[8]Klaus MERTEN: Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2. Aufl., Opladen 1995, S. 247-251.
[9]Der vollständige Fragebogen ist auf Anfrage zu erhalten bei magda.eriksroed-burger(at)posteo.de oder matthias.melcher(at)lmu.de.
[10]Zur Unterscheidung von Multi- und Interdisziplinarität siehe auch: WISSENSCHAFTSRAT 2020, S. 70-71.
[11]Der Studiengang wird in Kooperation mit der Universität Regensburg durchgeführt, die Befragten ordneten sich jedoch ausschließlich der LMU München zu.
[12]Nähere Informationen zu den genannten Institutionen finden Sie unter www.osteuropastudien.uni-muenchen.de/index.html bzw. www.oei.fu-berlin.de/institut/index.html.
[13]WISSENSCHAFTSRAT 2020, S. 72.
[14]FROESE et al. 2019, S. 24.
[15]WISSENSCHAFTSRAT 2020, S. 70.
[16]Siehe dazu den Beitrag von Johannes KLEINMANN in diesem Themendossier.
[17]Zu den Chancen und Herausforderungen im Rahmen eines Graduiertenkollegs siehe den Beitrag von Ramona BECHAUF in diesem Themendossier.
[18]Das Akronym VUCA steht für Volatilität (volatility), Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Ambiguität (ambiguity). Vgl. Oliver MACK, Anshuman KHARE et al. (Ed.): Managing in a VUCA World, Heidelberg/New York 2016.
[19]WISSENSCHAFTSRAT 2020, S. 69.
[20]Die vollständigen Ergebnisse sind auf Anfrage zu erhalten bei magda.eriksroed-burger(at)posteo.de
[21]Vergleiche dazu ausführlicher den Beitrag von Alexander LIBMAN in diesem Themendossier.
BAHRDT, Hans P. – KRAUCH, Helmut – RITTEL, Horst: Die wissenschaftliche Arbeit in Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 12 (1960) 1, S. 1–40.
BRASSLER, Mirjam: Praxishandbuch Interdisziplinäres Lehren und Lernen. 50 Methoden für die Hochschullehre, Weinheim 2020.
DASTON, Lorraine – SIBUM, Otto H.: Introduction: Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16 (2003) 1/2, pp. 1–8.
FRODEMAN, Robert (Ed.): The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, Oxford 2017.
FROESE, Anna – WOIWODE, Hendrik – SUCKOW, Silvio: Mission impossible? Neue Wege zu Interdisziplinarität: Empfehlungen für Wissenschaft, Wissenschaftspolitik und Praxis, Berlin 2019.
GRÄFRATH, Bernd – HUBER, Renate – UHLEMANN, Brigitte: Einheit. Interdisziplinarität. Komplementarität: Orientierungsprobleme der Wissenschaft heute, Berlin, Boston 1991.
JACOBS, Jerry A.: Interdisciplinary Hype, in: The Chronicle of Higher Education 56 (2009) 14, pp. 4-5, https://www.chronicle.com/article/interdisciplinary-hype (03.06.2022).
JUNGERT, Michael – ROMFELD, Elsa – SUKOPP, Thomas – VOIGT, Uwe (Hrsg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, Darmstadt 2010.
JOAS, Hans – KIPPENBERG, Hans G. (Hrsg.): Interdisziplinarität als Lernprozeß. Erfahrungen mit einem handlungstheoretischen Forschungsprogramm, Göttingen 2005.
KLEIN, Julie Thompson: Beyond interdisciplinarity: boundary work, communication, and collaboration, New York 2021.
LEAHEY, Erin – BECKMAN, Christine M. – STANKO, Taryn L.: Prominent but Less Productive: The Impact of Interdisciplinarity on Scientists’ Research, in: Administrative Science Quarterly 62 (1), pp. 105–139.
MACK, Oliver – KHARE, Anshuman et al. (Ed.): Managing in a VUCA World, Heidelberg/New York 2016.
MERTEN, Klaus: Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2. Aufl., Opladen 1995.
PHILIPP, Thorsten: Interdisziplinarität, in: Ders. – Tobias SCHMOHL (Hrsg.): Handbuch Transdisziplinäre Didaktik, Bielefeld 2021, S. 163–174.
SCHIER, Carmen – SCHWINGER, Elke (Hrsg.): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität als Herausforderung akademischer Bildung. Innovative Konzepte für die Lehre an Hochschulen und Universitäten, Bielefeld 2014.
WISSSENSCHAFTSRAT: Wissenschaft im Spannungsfeld von Disziplinarität und Interdisziplinarität. Positionspapier (Drs. 8694-20), Oktober 2020, https://www.wissenschaftsrat.de/download/2020/ 8694-20.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (06.12.2022).
Magdalena Eriksröd-Burger
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
magda.eriksroed-burger(at)posteo.de
Matthias Melcher
Ludwig-Maximilians-Universität München
matthias.melcher(at)lmu.de
Erschienen am 15. Mai 2023.