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1. Großbritannien im Jahr 1968

„Everywhere I hear the sound of marching, charging feet, boy / ‘Cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, boy / But what can a poor boy do / Except to sing for a rock’n’roll band / ‘Cause in sleepy London town / There’s just no place for a street fighting man.“Diese Zeilen schrieb Mick Jagger, Frontmann der britischen Rockband „The Rolling Stones” im Jahr 1968, nachdem er an einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in London teilgenommen hatte, die gewaltsam endete. Im August erschien dann der Song „Street Fighting Man“, zu Deutsch „Straßenkämpfer“, über dessen Entstehungsjahr Jagger fast 30 Jahre später in einem Interview sagte: „Das war eine sehr seltsame Zeit in Frankreich. Und nicht nur da, sondern auch in Amerika wegen des Vietnamkriegs. […] London war im Vergleich dazu sehr ruhig.”

Diese Beschreibung des Jahres 1968 charakterisiert nicht allein die Situation in London, sondern trifft auf ganz Großbritannien zu. Die Sitzstreiks und Besetzungen, mit denen an einigen Universitäten für bessere Studienbedingungen demonstriert wurde, weiteten sich nie zu einer allgemeinen Kritik an der Obrigkeit wie etwa in Frankreich oder Westdeutschland aus. Der Einfluss der 1968 gegründeten trotzkistischen „International Marxist Group“ unter Leitung von Tariq Ali, der auch die britischen Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen anführte und der Jagger angeblich als Vorbild für seinen „Straßenkämpfer“ diente, war zu keinem Zeitpunkt mit dem des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds zu vergleichen. Die britische Revolution war eher eine kulturelle als eine politische und fand peu à peu im Laufe der „Swinging Sixties“ statt – nicht erst 1968 mit einem Knall. Sie äußerte sich vor allem in der Musik, der Mode und in einem neuen Lebensstil, der von Individualismus und Toleranz geprägt war.

Die innenpolitische Ruhe, die 1968 im Vereinigten Königreich herrschte, entsprach auch der Außenpolitik der Labour-Regierung unter Harold Wilson, die auf eine Balance zwischen Entspannung und Verteidigung gegenüber Moskau bedacht war. Überrascht vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag am 21. August 1968 fand die britische Regierung in einer Pressemitteilung zum Einmarsch zwar deutliche Worte: „Her Majesty’s Government regard the action taken by the Soviet Government and certain of her allies in invading Czechoslovakia as a flagrant violation of the United Nations Charter and of all accepted standards of international behaviour. […] It’s a serious blow to the efforts which so many countries have been making to improve relations between East and West.“[1]Als dramatische Unterbrechung der Entspannungsbestrebungen gegenüber Moskau stufte sie ihn aber nicht ein: Schon Ende Oktober erklärte die britische Regierung, dass die kritische Zeit nun vorbei sei und die Politik dem Ostblock gegenüber wie gehabt aufgenommen werde. Für die britische Politik war die tschechoslowakische Krise insofern ein „Glück im Unglück“, als unter ihren Vorzeichen der Kontakt mit Europa und der Zusammenhalt der kriselnden NATO gestärkt werden konnten. Nachdem britische Untersuchungen nach dem Einmarsch in Prag eine Bedrohung für Großbritannien oder die NATO ausgeschlossen hatten, war für sie die Gefahr, die von der Tschechoslowakei ausging, gebannt.

 

Verwendete Literatur:

Dockrill, Saki R., „Verteidigung und Entspannung: Großbritannien und die Tschechoslowakei“ in: Stefan Karner (Hrsg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Köln 2008.

Kundnani, Hans, “Great Britain: ‘No Place for a Street Fighting Man’” in: Philipp Gassert & Martin Klimke (Hrsg.), 1968. Memories and Legacies of a Global Revolt, Washington, D.C. 2009.

Wenner, Jann S., “Mick Jagger Remembers” in: Rolling Stone, 14.12.1995, www.rollingstone.com/music/news/mick-jagger-remembers-19951214, zuletzt abgerufen am 17.04.2018.

 

Quellen:

Bayrische Staatsbibliothek München: PREM 13 / 1993. Pressemitteilung der britischen Regierung zur Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei, 21.8.1968.

 

Endnoten:

[1] Bayrische Staatsbibliothek München: PREM 13 / 1993. Pressemitteilung der britischen Regierung zur Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei, 21.8.1968.


2. „The heart of Central Europe beats again“

Britische Zeitungen über den Prager Frühling

Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion traf die britische Regierung in der Sommerpause. Als die Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, waren einige britische Kabinettsmitglieder im Urlaub. Premierminister Harold Wilson hielt es nicht für nötig, dass das gesamte Kabinett bei der ersten Lagebesprechung anwesend sei, und schrieb an den Schatzkanzler und den Präsidenten des Handelsministeriums: „There is no (repeat no) need for you to return from your holiday for this purpose.“[1] Die britischen Auslandskorrespondenten in der Tschechoslowakei hatten in diesem Sommer im Gegensatz zu ihrer Regierung wahrscheinlich keine freie Minute – vor allem, seit sich die Lage von Juli an immer mehr zuspitzte. Im Folgenden soll die Berichterstattung der Zeitungen The Guardian und The Times über den Prager Frühling anhand von vier Ereignissen analysiert werden: dem Amtsantritt Alexander Dubčeks als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) am 5. Januar, der nach der Aufhebung der Zensur Anfang März entstehenden Öffentlichkeit, den Gesprächen Ende Juli und Anfang August in Čierna nad Tisou und Bratislava, vor denen die Sowjetunion die Schlinge um die Tschechoslowakei immer enger zog, und schließlich der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968. Doch zunächst einige Informationen über die Zeitungen.

The Guardian gilt als das unangepasste Gewissen Großbritanniens, eine Zeitung für die intellektuellen Freigeister mit internationalem Blick. Er wurde 1821 als die Wochenzeitung Manchester Guardian gegründet, gut dreißig Jahre später dann der Wandel zur Tageszeitung, die 1959 den Titel erhielt, unter dem sie zu einer der führenden britischen Zeitungen aufstieg: The Guardian. Die linksliberale Zeitung beschrieb sich 1966 als analytisch, sorgfältig, seriös, ehrlich und wahrheitsliebend und erwähnte stolz ihr gesellschaftliches Bewusstsein, das sich in Menschlichkeit und dem Blick auf soziale Probleme äußere. Außerdem hob The Guardian, der zu dieser Zeit eine Auflage von etwas mehr als 300 000 hatte, seine hohen grammatischen Standards hervor. Launig wurden Guardian-Leser etwa so beschrieben: „the Labour-voting middle-class […] with centre-left/left-wing politics rooted in the 1960s, working in the public sector or academia, sometimes eating lentils and muesli, living in north London (especially Camden and Islington), wearing sandals, sometimes believing in alternative medicine and natural medicine though more often atheistic or non-religious and rational“[2]; eine satirische Abkürzung für ihre Leser lautete „GROLIES – Guardian Readers Of Low Intelligence in Ethnic Skirt”[3].

The Times ist der konservative Counterpart zum Guardian. Sie ist seit ihrer Gründung 1785 die Zeitung des Establishments – für die Meinungsmacher der Regierung, den Adel und die führenden Wirtschafts- und Finanzkreise. Dem Vorwurf, nur ein Sprachrohr der Konservativen zu sein, widersprach der Herausgeber 1965: „For a newspaper to have a sense of responsibility doesn’t mean it should blindly accept the authority was always right […]. Responsibility was not a hesitation to be revolutionary, a preference for the official over the unofficial or for accepted ideas over those seemingly unacceptable. It was an honest searching for the truth.”[4]  1966 widmete die Times gut zwanzig Prozent ihrer Artikel der Auslandsberichterstattung. In den späten 1960ern lag die Auflage der Times bei mehr als 400 000. Die Zeitung ist bekannt für ihre durchdachten und interpretativen Beiträge und für ihre selektive, aber gründliche Berichterstattung. Es heißt über die Times, sie habe häufig einen beeindruckenden Instinkt dafür gehabt, welche Ereignisse oder Reden einmal wichtig werden würden. Ob dem auch im Falle des Prager Frühlings so war, soll die folgende Analyse zeigen.

 

Dubček – Hoffnung oder hoffnungsloser Fall?

„A Slovak takes over leadership“[5], titelte der Guardian einen Tag, nachdem Alexander Dubček am 5. Januar 1968 Antonín Novotný als Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei abgelöst hatte. Darüber ein Bild Dubčeks, dessen Mund ein Lächeln anzudeuten scheint und der gleich im ersten Satz als ein slowakischer Kommunist vorgestellt wird, der eine nationalistische Rebellion gegen Prag geführt habe. Dubčeks Amtsübernahme sei aber nicht nur ein Sieg für die Slowaken, sondern auch ein Sieg des fortschrittlichen Teils der Partei über die Konservativen. Es ist nicht verwunderlich, dass gleich der erste Guardian-Artikel aus der Feder von Victor Zorza stammte. Zorza schrieb jahrzehntelang über sowjetische und andere kommunistische Regierungen, für seine Berichterstattung über den Prager Frühling wurde er 1968 in Großbritannien als „Journalist of the Year“ ausgezeichnet.

The Times sah in Dubček als neuem Generalsekretär noch mehr als einen Freidenker und eine Hoffnung für die Slowaken. Es sei zwar noch zu früh, Schlüsse zu ziehen, aber nach den Spannungen und den Enttäuschungen der vergangenen Monate könne dieser Mann eine neue Ära der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei einläuten. Ein Kommentator der Times warnte jedoch davor, zu viel von Dubček zu erwarten. Er habe schließlich in Russland gelernt und mit denselben Problemen zu kämpfen wie sein Vorgänger; wenigstens sei er aber jung mit seinen 46 Jahren und habe sich für ein neues Wirtschaftssystem ausgesprochen. Diesen „Atem der Freiheit“ meinte der Times-Korrespondent Richard Davy schon Ende Februar zu spüren und sah darin den ersten Versuch, ein kommunistisches System zu demokratisieren und menschlicher zu machen. Es bleibe abzuwarten, wie das funktioniere, aber „the original heart of central Europe is beginning to beat again in place of the Russian transplant“[6].

 

Wahrheit als Waffe

„Eastern Europe is beginning to stir“[7], schrieb Zorza schon Ende Februar im Guardian in einem Artikel über jene Prager Journalisten, die gegen die Zensur aufbegehrten, welche am 4. März schließlich aufgehoben wurde. Die Ereignisse in Prag erinnerten Zorza immer mehr an die Freiheitsbewegung in Polen und Ungarn 1956. Er glaubte aber, dass die Tschechoslowakei Erfolg haben kann, wo die anderen gescheitert sind – weil sie aus Fehlern lernen könne, weil ihre demokratische Tradition weiter zurückreiche und vor allem, weil sich die Zeiten gewandelt hätten. Mitte März schrieb er, dass die friedliche Revolution in der Tschechoslowakei nun den Zeitpunkt erreicht habe, an dem sich 1956 János Kádár in Ungarn an die Sowjetunion wandte, auf dass sie das kommunistische System mit Panzern rette. Auch die alte Garde in der Tschechoslowakei warnte nach Aufhebung der Zensur vor Anarchie und radikalen Äußerungen in Zeitung, Hörfunk und Fernsehen. Dubček selbst bat die Presse, einen Gang zurückzuschalten, nicht zu schnell zu weit zu gehen. Noch im selben Zeitungsartikel wird er aber wie folgt zitiert: „Let the struggle of ideas commence.“[8]

Die Wahrheit sei Dubčeks Waffe gegen die konservativen Parteigenossen, schrieb die Times zwei Tage nach der Aufhebung der Zensur. Die Informationsfreiheit war für das Blatt nicht nur ein Zugeständnis an die Intellektuellen. Sie setze dort an, wo das alte System gescheitert sei: bei falschen und unterschlagenen Informationen, der fehlenden Glaubwürdigkeit der Presse und verfälschten Statistiken. Doch nicht alle Tschechoslowaken wüssten mit dieser neuen Freiheit umzugehen. Als Dubček wenige Tage später von einem Parteigenossen um Rat gefragt wurde, antwortete er laut Times: Das ist Ihr Aufgabengebiet, Sie entscheiden. Zurück blieb ein verwirrter Funktionär. Der Auslandskorrespondent Richard Davy kommentierte die Situation in Prag Mitte März 1968 so: Das Land habe das Gefühl, im Schnellzug zu reisen – aber mit ungewissem Ziel. Dubček habe die Bremsen gelöst, und niemand wisse, ob er den Zug unter Kontrolle habe. Trotzdem seien die Kräfte der Reformer groß genug, um die Tschechoslowakei immer weiter zu einer hoffnungsvolleren Form des Sozialismus zu verändern. Diese Entwicklung beschrieb die Times am 22. März 1968 unter dem Titel „Czech experiment with democracy can be made to work“[9].

„Praguematic“

‘D‘ day minus four“[10] nannte der Guardian den 12. Juli 1968 für viele besorgte Tschechoslowaken. Die Russen zögen nach den Warschauer Pakt-Manövern nicht ab, seien aber schon lange nicht mehr willkommen. Und wenn sie nicht in ein paar Tagen weg seien, schrieb der Times-Autor, dann würden ihre „Gastgeber“ wohl denken, dass sie Opfer des größten Betrugs geworden seien, seitdem die Nationalsozialisten ins Sudetenland einmarschierten. Als einzige britische Zeitung druckte der Guardian Mitte Juli das „Manifest der 2000 Worte“ und setzte direkt daneben eine Karikatur: Mutter Russland im wallenden Blümchenkleid und mit dem Gesicht Leonid Brežnevs, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, unter dessen Rockschöße sich verängstigte Kinder ducken. Brežnev schickt sich an, mit einem Schmetterlingsnetz die Tschechoslowakei einzufangen, die als Kind dargestellt ist, das einem Schmetterling nachjagt – dem Traum vom Kommunismus mit menschlichem Antlitz? Aber die Revolution, die diesen Traum verfolgt, sei in der Krise, kommentierte der Guardian. Das neue Regime habe viele Hürden zu nehmen: Werde es am Versuch, Kommunismus und Demokratie zusammenzubringen, scheitern? An den wirtschaftlichen Lasten? Werde es Arbeitslosigkeit geben, die die Arbeiter aufrüttele und sie fragen lasse: Was springt für mich dabei raus?  In den folgenden Julitagen zog auch Victor Zorza seine bisherige Annahme zurück, es sei unwahrscheinlich, dass die Sowjetunion in der Tschechoslowakei interveniere. Nun schrieb er: Die Russen haben die Macht, den Warschauer Pakt so zu interpretieren, dass sie einmarschieren können. Alles was noch fehle, sei der Wille – und den schienen sie gerade zu entwickeln.

Eine Miniglosse mit dem Titel „Praguematic“ im Guardian beschrieb die Wirren des Juli. Prag, Dienstagnacht: Es gibt wilde Gerüchte in der politisch ohnehin aufgewühlten Stadt, dass das sowjetische Politbüro aus Moskau einfliegt. Darauf folgen verzweifelte Versuche, an Informationen zu kommen, schließlich ein Anruf bei der tschechoslowakischen Nachrichtenagentur: Was ist das für eine Geschichte? Kommen die Russen? „Lustig, dass Sie das fragen“, antwortet der gleichmütige Nachrichtenmann. „Gerade hat das Zentralkomitee der Partei angerufen und wollte wissen, was es damit auf sich hat.“ Der Guardian hatte die Revolution in der Tschechoslowakei noch nicht aufgegeben, Ende Juli konstatierte er, dass Prag keine Hilfe brauche, solange es beim „Krieg der Worte“ bleibe: Dubček habe die Wahrheit, Gerechtigkeit und Logik auf seiner Seite. Ende Juli, während der Gespräche in Čierna nad Tisou, zierte eine kleine Karikatur einen mit Pseudonym veröffentlichen Gastbeitrag eines tschechoslowakischen Journalisten: Der große sowjetische Bruder (wahrscheinlich in der Person des Außenministers Gromyko) verletzt sich bei einem Tritt gegen eine kleine Eiche, die auf Tschechisch „Dubček“ heißt. Nach den Treffen von Čierna nad Tisou und Bratislava legte sich die Angst der Tschechoslowaken vor einer Invasion, sie fassten wieder Vertrauen in Dubček, der versprach: Unsere Unabhängigkeit ist nicht in Gefahr. Und die Tschechoslowaken glauben ihm, schrieb der Guardian: „Mr Dubček, it is felt, believed what he said today, and he is by reputation an intelligent, cautious, and honest man and certainly no actor. If there is to be any betrayal, he will have been betrayed, too.“[11] Aber Zorza blieb skeptisch, Anfang August fragte er in einem Kommentar: War das Treffen in Čierna nad Tisou, dessen Beschlüsse in Bratislava bekräftigt wurden, eine Falle? Die Pressefreiheit wieder zu beschränken, um die Sowjetunion zu beruhigen, sei ein zu hoher Preis. Wenn sich die Journalisten dem aber nicht beugten, hätte der Kreml einen Grund zu intervenieren; ein Teufelskreis.

Es führe kein Weg mehr zurück in der Tschechoslowakei, kommentierte Richard Davy in der Times am 19. Juli 1968, nun da es Pressefreiheit gebe, Reisen ins Ausland möglich seien und der Sicherheitsapparat verkleinert werde: Dubček wisse das, er sage auch den Russen klar, dass die von ihnen gewünschte Wiederherstellung der alten Ordnung einen Aufstand provozieren würde. Diese Selbstsicherheit bezieht er laut Davy nicht zuletzt aus seiner großen Beliebtheit in der Bevölkerung. „Dubček, a leader who laughs“[12] titelte die Times am 20. Juli. Die Tschechoslowaken seien begeistert von ihrem Führer, der in der Öffentlichkeit scherzt und lacht, der nicht mehr so kühl und fern wirkt wie Novotný und stattdessen mitten in der Nacht aufsteht, um zu jungen Kommunisten und Arbeitern zu sprechen. Dubček ist für kommunistische Verhältnisse menschlich, für die Times nach westlichen Standards aber immer noch zugeknöpft: Niemand habe je seine Frau interviewt oder seine Kinder fotografiert. Eine tschechoslowakische Umfrage – schon das eine Neuheit in einem kommunistischen Land, konstatierte die Times – zeigt, dass 78 Prozent der Bevölkerung Dubček trauen. Aber am 29. Juli kamen auch bei der Times Zweifel auf, Furcht vor einer Invasion. Wenn Dubček nicht eine der neuen Freiheiten zurücknehmen wolle, wie könne man Russland dann noch die „gute Führung“ beweisen, die eine Invasion verhindere?

 

Ironie des Schicksals

Eine traurige und verbitterte Menschenmenge versammelte sich laut Guardian nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 im Zentrum Prags, die meisten seien jung. Ein anderer Autor verglich den Zustand der weinenden Menschen mit der Verzweiflung der Prager nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1939. Die gesamte Titelseite des Guardian vom 22. August war mit Berichten über die Invasion gefüllt, die Überschriften spiegelten das Entsetzen wider: „Get out and stop the bloodshed“[13], „Jackboots again over Eastern Europe“[14]. Ein Kommentar wertete den Einmarsch als Beweis dafür, dass es einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz nicht geben könne, und beklagte, dass auch nach 50 Jahren der Kommunismus der Sowjetunion noch immer für Panzer und Kampfstiefel stehe. Zorza hingegen schrieb, der Wille zur Freiheit lasse sich auf Dauer nicht unterdrücken. Er werde sich in den kommunistischen Ländern trotz des Einmarsches Bahn brechen, und nur ein neuer stalinistischer Terror könne diese Bewegung zerstören.

Die niederschmetternden Überschriften waren schon sechs Tage später – wenn auch verhalten – positiven Titeln gewichen: „A victory for the Czechs – on points“[15]. Dubček gibt bekannt, man habe eine Übereinkunft erzielt, wie der Rückzug der Warschauer-Pakt-Truppen zu erreichen sei, und fordert die Nation auf, diesen Abmachungen nicht zu misstrauen. Zorza vom Guardian war sich sicher, dass Dubček noch ein Ass im Ärmel habe, das deute sich auch in seiner Bemerkung an, man wolle sich nicht passiv in die Lage schicken. Die Wiedereinsetzung Dubčeks als Erstem Sekretär wertete Zorza als Erfolg: Eigentlich hätten die Reformer gesiegt, es dauere nur, bis das sichtbar werde. Er sah Dubček als genau den Taktiker, den die Tschechoslowakei brauche: Idealismus allein helfe im Umgang mit der Sowjetunion nicht.

Die Times druckte zum Einmarsch ein Foto, das Dubček und Brežnev händeschüttelnd in Bratislava zeigt, daneben die Überschrift: „Russians march into Czechoslovakia“[16]. Die Ausgabe hatte vier Extraseiten, auf denen nur aus der Tschechoslowakei berichtet wird. Ein Augenzeuge beschreibt die Gewalt in Prag: Der Autor schildert, wie einem jungen Mann von Soldaten der Kopf weggeschossen wird. Die Times druckte die Stellungnahmen aus Moskau und Prag nebeneinander. Die einen behaupten, sie seien gerufen worden, die anderen widersprechen, daneben ein Foto von den Warschauer-Pakt-Mitgliedern in Bratislava, Dubček steht entspannt neben Ulbricht. The Times druckte noch einmal eine Karikatur, die schon am 23. Juli erschienen war. Sie zeigt Dubček, der mit einer Gartenschere am Grab Stalins steht. Aus dem Grab wächst ein Dornzweig, der sich um Dubček schlingt. Ist Dubčeks Kommunismus dem Tod geweiht?

Es sei eine tragische Ironie, kommentierte Richard Davy, dass Dubček und seine Mitstreiter aus tiefstem Herzen davon überzeugt gewesen seien, dem Kommunismus zu dienen und ihn so zu verändern, dass er noch dem Westen als Vorbild hätte dienen können. Er beschrieb Dubček als slowakischen Nationalisten, als sanften und vernünftigen Mann mit orthodoxem Hintergrund. Als Erster Sekretär habe er sich zunächst plötzlich in einem radikalen Reformprogramm wiedergefunden, das er sich dann aber immer mehr zu eigen gemacht habe. Die widerspenstigen Tschechoslowaken gäben sich auch nach der Intervention nicht geschlagen, schrieb die Times. Sie starteten Plakatkampagnen gegen die Russen, schmierten Hakenkreuze auf die Panzer und verglichen die Soldaten mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg: Wie lange können die Sowjets das noch dulden? Wer gibt zuerst auf? Für die Times sah es am 24. August 1968 nicht danach aus, als wäre es die Tschechoslowakei.

 

Zwei britische Pole – ein westeuropäischer Blick?

Die vorliegende Analyse betrachtet den Prager Frühling aus dem Blickwinkel zweier britischer Zeitungen mit verschiedener politischer Ausrichtung. Auch wenn sich die Berichterstattung des Guardian und der Times in einigen Fällen sehr unterscheidet – ihre Wahrnehmung der Reformen in der Tschechoslowakei ähnelt sich. So zuversichtlich wie Dubček nach seiner Wahl zum Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei im Januar 1968 von der Titelseite des Guardian lächelte, so zuversichtlich war auch der altgediente Guardian-Korrespondent Victor Zorza. Mit dem slowakischen Rebellen Dubček konnte für ihn die neue Zeit beginnen. Die Times hingegen war hin- und hergerissen. Trotz aller Bedenken fühlte aber auch Times-Korrespondent Richard Davy das Aufbrechen der alten Strukturen und den „Wind of Change“, der gut zwanzig Jahre später noch viel besungen werden würde. Osteuropa erwache, bemerkte auch The Guardian kurz vor der Aufhebung der Zensur in der Tschechoslowakei am 4. März 1968 und beschrieb Dubčeks Spagat zwischen Reform und Mäßigung. Dass nicht nur Dubček, sondern auch die Tschechoslowaken mitunter überfordert seien von der neuen Freiheit und Öffentlichkeit, konstatierte The Times im März. Aber vorwärts, Hauptsache vorwärts! Die Autoren beider Zeitungen waren zuversichtlich, dass die Veränderungen in die richtige Richtung gehen. Die bewegten Juliwochen waren für den Guardian dann ein Dämpfer in der Reformbegeisterung, die Revolution stecke in einer Krise, werde eingeholt von den Geistern der Vergangenheit. Die Times gab sich kämpferischer, erst Ende Juli erreichten die Zweifel über einen guten Ausgang auch sie. Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei in der Nacht vom 20. auf den 21. August war für einen Autoren des Guardian der Kommunismus mit menschlichem Antlitz gescheitert. Noch in derselben Ausgabe hielt aber Victor Zorza dagegen, spann Zukunftsvisionen für die Reformer. The Times stellte die Nachrichten von Tod und Besatzung den Fotos der Warschauer-Pakt-Repräsentanten bei den Gesprächen Ende Juli und Anfang August gegenüber und zeigte so die verfahrene Situation. Ein Hoffnungsschimmer blieb für die Times aber auch nach der Aufhebung fast aller Reformen Ende August: die Widerspenstigkeit der Tschechoslowaken gegenüber den Eindringlingen.

 

Verwendete Literatur:

„Doctor slang is a dying art“, news.bbc.co.uk/2/hi/health/3159813.stm, zuletzt abgerufen am 06.06.2018. 

The Guardian (England), in: Harold A. Fisher & John Calhoun Merrill (Hrsg.): The World‘s Great Dailies: Profiles of 50 Newspapers, New York 1980, 143-150.

„The Guardian“, en.wikiactu.com, zuletzt abgerufen am 06.06.2018.

The Times (England), in: Harold A. Fisher & John Calhoun Merrill (Hrsg.): The World‘s Great Dailies: Profiles of 50 Newspapers, New York 1980, 320-329.

 

Quellen:

Bayrische Staatsbibliothek München: PREM 13/1993. Privatnachricht des britischen Premierministers an den Schatzkanzler und den Präsidenten des Handelsministeriums, Serial No T168/68, 21.08.1968.

The Guardian

The Times

 

Endnoten:

[1] Bayrische Staatsbibliothek München: PREM 13 / 1993. Privatnachricht des britischen Premierministers an den Schatzkanzler und den Präsidenten des Handelsministeriums, Serial No T168/68, 21.8.1968.

[2] „The Guardian“, http://en.wikiactu.com/?page_id=101, zuletzt aufgerufen am 06.06.2018.

[3] „Doctor slang is a dying art“, http://news.bbc.co.uk/2/hi/health/3159813.stm, zuletzt aufgerufen am 06.06.2018. 

[4] The Times (England), in: Harold A. Fisher & John Calhoun Merrill (Hrsg.): The World‘s Great Dailies: Profiles of 50 Newspapers, New York 1980, 326.

[5]„A Slovak takes over leadership“ in: The Guardian, 06.01.1968, 1.

[6] „Breath of freedom in Czechoslovakia“ in: The Times, 23.02.1968, 8.

[7] „Prague journalists turn against union leaders“ in: The Guardian, 29.02.1968, 9.

[8] „Prague press told to go slow“ in: The Guardian, 18.03.1968, 9.

[9] „Czech experiment with democracy can be made to work“ in: The Times, 22.03.1968, 10.

[10] „Czechs wait for Russians to go“ in: The Guardian, 12.07.1968, 1.

[11] „No betrayal? – The Czechs recover their nerve“ in: The Guardian, 03.08.1968, 1.

[12] „Dubček, a leader who laughs“ in: The Times, 20.07.1968, 8.

[13] „Get out and stop the bloodshed“ in: The Guardian, 22.08.1968, 1.

[14] „Jackboots again over Eastern Europe“ in: The Guardian, 22.08.1968, 8.

[15] „A victory for the Czechs – on points“ in: The Guardian, 28.08.1968, 7.

[16] „Russians march into Czechoslovakia“ in: The Times, 21.08.1968, 1.

Glossar:

Brežnev, Leonid Il'ič

Leonid Il'ič Brežnev (1906-1982) – war von 1964 bis 1982 Erster Sekretär (ab 1966 Generalsekretär) der KPdSU. Unter seiner Führung setzte in der UdSSR eine verschärfte Reglementierung des kulturellen Lebens sowie eine vorsichtige Rehabilitierung Stalins ein. Außenpolitisch verstärkte Brežnev den Einfluss auf die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Staatenwelt, insbesondere in Europa. So wurde die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei mit der These der beschränkten Souveränität der Staaten (Brežnev-Doktrin) des sozialistischen Lagers gerechtfertigt.

Verwendete Literatur:

„Breschnew, Brežnev“ in: Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 3, Bed-Brn, Mannheim 1987.

Čierna nad Tisou

Čierna nad Tisou – ist eine slowakische Kleinstadt im Dreiländereck zwischen der Slowakei, der Ukraine und Ungarn. Vom 29. Juli bis zum 1. August 1968 fanden in der Grenzstadt zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion bilaterale Verhandlungen zwischen Vertretern des sowjetischen Politbüros und der tschechoslowakischen Regierung statt. Zu den Teilnehmern gehörten unter anderem Leonid Brežnev, Alexej Kossygin, Nikolaj Podgorny, Alexander Dubček und Ludvík Svoboda. Für die Sowjetunion waren die Verhandlungen der letzte Versuch, dem Prager Frühling und Dubčeks Reformkurs ohne Anwendung von Gewalt Einhalt zu gebieten. Den beiden Seiten gelang, in Čierna nad Tisou zumindest eine kurzfristige Einigung zu erreichen, die wenig später in Bratislava ratifiziert wurde.

Verwendete Literatur:

Schulze Wessel, Martin, Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Stuttgart 2018, 271-280.

D-Day

D-Day – bezeichnet den Stichtag eines militärischen Unternehmens. Das „D“ steht für das englische Wort „day“, D-4 meint etwa den vierten Tag vor dem Beginn einer Militäroperation, D+1 den Tag danach. Heute bezieht sich die Bezeichnung „D-Day“ meist auf die Landung alliierter Truppen in der Normandie während des Zweiten Weltkriegs.

Verwendete Literatur:

The Oxford Companion to World War II, Oxford 1995.

Dubček, Alexander

Alexander Dubček (1921-1992) – war ein tschechoslowakischer Politiker und eine der zentralen Figuren des Prager Frühlings. Dubček wuchs größtenteils in der UdSSR auf, wo sein Vater im Rahmen der „Internationalen Arbeiterhilfe“ als Tischler tätig war. In den 1930er Jahre machte er eine Ausbildung zum Schlosser. 1939 trat er der illegal gegründeten Kommunistischen Partei der Slowakei (Komunistická strana slovenska – KSS) bei und war im antifaschistischen Widerstand tätig. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann sein Aufstieg innerhalb der KSČ. 1958 vollendete er sein Studium an der Parteihochschule des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU in Moskau mit Auszeichnung. Danach studierte er an der juristischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava und beschloss sein Studium mit einer sozialwissenschaftlichen Dissertation.

Am 6. Januar 1968 wurde er zum neuen Ersten Sekretär des ZK der KSČ gewählt und avancierte in der ersten Hälfte des Jahres 1968 zur Symbolfigur des Prager Frühlings. Nach dessen Niederschlagung wurde er nach Moskau verschleppt und gezwungen das "Moskauer Protokoll", das alle Reformprozess in der ČSSR beenden sollte, zu unterschreiben.

Im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter distanzierte er sich nie von seinem Engagement für den Reformsozialismus. Aus der KSČ wurde er ausgeschlossen. Daraufhin war er als Aufsicht im Fuhrpark eines Forstbetriebs in Bratislava tätig, wo er bis zu seiner Pensionierung 1986 arbeitete.

Dubček unterstützte 1989 die Protestbewegung und den demokratischen Umbruch. Dass danach keine zentrale Rolle mehr spielte, lag auch daran, dass seine Person in den Augen vieler Menschen zu stark mit dem Kommunismus verknüpft war. Dennoch wurde er Parlamentspräsident, trat allerdings im Juli 1991 zurück, da er die slowakischen Abspaltungsbestrebungen nicht unterstützte.

Dubček starb am 7. Oktober 1992 an den Folgen eines Autounfalls.

Verwendete Literatur:

„Dubček, Alexander“ in: Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv, zuletzt abgerufen von Bayerische Staatsbibliothek Bestandsentwicklung und Erschließung 2 am 31.8.2018.

Kádár, János

János Kádár (1912-1989) – war ein ungarischer Politiker und über 30 Jahre Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Kádár wurde im heutigen Rijeka geboren und schloss sich bereits mit 17 Jahren der kommunistischen Bewegung an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kádár Mitglied des ungarischen Politbüros und später Innenminister. 1951 wurde er seiner Ämter enthoben,  1952 aufgrund von Spionagevorwürfen zu lebenslanger Haft verurteilt. Erst ein Jahr später rehabilitierte ihn Imre Nagy. Kádár war maßgeblich an der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands im Jahr 1956 beteiligt, da er militärische Hilfe von der Sowjetunion erbat. Nach der vereitelten Revolution wurde Kádár als Generalsekretär eingesetzt, er blieb bis 1988 im Amt. Seine Regierungszeit war anfangs von Repressionen geprägt, später schlug Kádár einen deutlich liberaleren Kurs ein. Kádár gilt als Begründer des sogenannten „Gulaschkommunismus“, der wirtschaftlichen Reformen ab den 1960er Jahren, die Ungarn zu wachsendem Wohlstand bei politischem Stillhalten der Bevölkerung führte. Kádár verfolgte diesen Kurs bis in die 1980er Jahre, zeigte sich der Sowjetunion gegenüber aber stets loyal. Kádár trat im Mai 1988 vom Amt des Generalsekretärs zurück und starb ein Jahr später.

Verwendete Literatur:

Klimó, Árpád von, Ungarn seit 1945, Göttingen 2006.

Komunistická strana Československa

Komunistická strana Československa (KSČ) [Kommunistische Partei der Tschechoslowakei] – war in den Jahren 1948 bis 1989 alleinige Regierungspartei in der Tschechoslowakischen Republik. Die Partei gründete sich im Mai 1921 durch die Abspaltung von der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei (ČSSD). 1929 erfolgte die Stalinisierung. Während des Zweiten Weltkriegs war die KSČ verboten, arbeitete aber illegal weiter und stellte ein Zentrum der Widerstandsbewegung dar. Das brachte ihr nach Kriegsende viele Sympathien ein, so war sie die stärkste Kraft der 1945 gegründeten Nationalen Front und erhielt in den Wahlen von 1946 den größten Stimmenanteil. Im Februar 1948 setzte die die KSČ ihr Machtmonopol durch, es begann eine Phase der Verfolgung und Schauprozesse. 1968 strebte die KSČ unter der Führung von Alexander Dubček eine eigene Form des Sozialismus an. Die sowjetische Führung betrachtete dieses reformsozialistische Experiment als konterrevolutionär. Nach der militärischen Intervention im August 1968 wurde eine konservative, Moskau-treue Parteiführung unter Gustáv Husák eingesetzt, die einen Prozess der „Normalisierung“ einleitete. Das Machtmonopol der KSČ wurde am 17. November 1989 durch die Samtene Revolution beendet. Die heutige Nachfolgeorganisation der KSČ in Tschechien ist die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens KSČM.

Verwendete Literatur:

Malíř, Jiří & Pavel Marek (Hrsg.), Politické strany. Vývoj politických stran a hnutí v českých zemích a Československu 1861-2004 [Politische Parteien. Entwicklung der politischen Bewegungen in Böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei 1861-2004] Bd. 2. Brno 2005.

Manifest der 2000 Worte

Manifest der 2000 Worte – auch: „Zweitausend Worte, die an Arbeiter, Landwirte, Beamte, Künstler und alle gerichtet sind“ [Dva tisíce slov, které patří dělníkům, zemědělcům, úředníkům, umělcům a všem] war ein Manifest, das eine radikalere Fortsetzung der Reformbewegung forderte. Es sprach die Verbrechen offen an, die während des Stalinismus verübt worden waren und kritisierte die Kommunistische Partei (KSČ) für ihre zögerliche Haltung im Reformprozess. Verfasst wurde es auf Anregung von Mitarbeitern der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, u.a. Otto Wichterle, von dem Schriftsteller Ludvík Vaculík. Das Manifest erschien mit einer Liste von Erstunterzeichnern am 27. Juni 1968 nicht nur in der Zeitschrift Literární listy (Literarische Blätter), sondern auch in den Tageszeitungen Lidové noviny (Die Volkszeitung), Práce (Die Arbeit), Mladá fronta (Die Junge Front) und Zemědělské noviny (Landwirtschaftliche Zeitung) und löste vehemente Reaktionen in der Bevölkerung aus. Die KSČ lehnte es ab, auch weil die Reformer es als Gefahr für ihre Politik sahen. Die Gegner der Reform sahen das Manifest wiederum als konterrevolutionäres Dokument an. In den Augen der sowjetischen Führung offenbarte seine Veröffentlichung, dass die KSČ die Kontrolle über die öffentliche Meinung verloren hatte.

Verwendete Literatur:

Schulze Wessel, Martin, Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt, Stuttgart 2018.

Novotný, Antonín

Antonín Novotný (1904-1975) – war ein tschechoslowakischer kommunistischer Politiker, Generalsekretär der KSČ und von 1957 bis 1968 zugleich der Präsident der Tschechoslowakei. Er stammte aus einer Prager Arbeiterfamilie. 1921 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei. Von 1941 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war er im Konzentrationslager Mauthausen inhaftiert. Nach seiner Entlassung wurde er Mitglied des Zentralkomitees der KSČ und folgte Klement Gottwald 1953 im Amt des Ersten Sekretärs. In den 1960er Jahren wuchs die Kritik an seiner rigiden Politik und seiner Person. Am 5. Januar 1968 wurde er als Parteichef von Alexander Dubček abgelöst. Am 22. März musste er auch von seinem Präsidentenamt zurückzutreten. Sein Nachfolger war der General Ludvík Svoboda. Im Juni gab er unter Druck auch seine Position im Zentralkomitee der KSČ auf und zog sich aus dem politischen Leben zurück. Während der Normalisierung wurde seine Mitgliedschaft im Zentralkomitee zwar erneuert, Novotný erreichte aber keinen nennenswerten Einfluss mehr.

Verwendete Literatur:

Jan Rataj (Hrsg.), Československo v proměnách komunistického režimu [Die Tschechoslowakei im Wandel des kommunistischen Regimes]. Praha 2010.

Warschauer Pakt

Warschauer Pakt – gegründet am 14. Mai 1955 unter der Bezeichnung „Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ und auch Warschauer Vertragsorganisation genannt. Der Vertrag trat am 4. Juni 1955 in Kraft. In ihm sicherten ie kommunistischen Mitgliedsstaaten Albanien, Bulgarien, DDR, Polen, Rumänien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn einander gegenseitige militärische Unterstützung zu. Damit stellte der Warschauer Parkt eine Gegenallianz zur westlichen North Atlantic Treaty Organization (NATO) dar. Formaljuristisch waren alle Mitglieder gleichberechtigt, de facto hatte die Sowjetunion das militärische Oberkommando. Diese nutzte den Vertrag auch zur Stationierung von Truppen in den Mitgliedsstaaten, um die eigenen Interessen dort besser durchsetzen zu können. Der Warschauer Pakt bestand bis 1991.

Verwendete Literatur:

„Warschauer Pakt“ in: Brockhaus Online.

Ungarnaufstand

Ungarnaufstand – bezeichnet die am 23. Oktober 1956 begonnene Rebellion des ungarischen Volkes gegen die kommunistische Herrschaft. Sie hielt bis zum 10. November 1956 an. Die Anfänge der u.a. auch als „Ungarischer Volksaufstand“ bekannten Revolution reichten bis in das Jahr 1953, das Jahr des Todes Stalins, zurück. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Mátyás Rákosi, der in Ungarn seit 1949 eine stalinistische Diktatur errichtet hatte, musste das Amt des Ministerpräsidenten an den liberaler eingestellten Imre Nagy abgeben. Dieser führte eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Reformen durch, die den Lebensstandard in Ungarn erhöhten. Im Jahr 1955 unterlag Nagy im Machtkampf mit der stalinistischen Gruppe um Rákosi und wurde all seiner Ämter enthoben. Nachdem im Februar 1956 jedoch Chruščëvs Geheimrede bekannt wurde, in der er die stalinistischen Verbrechen kritisierte, wurden auch in Ungarn die Rufe nach einer Liberalisierung lauter. Zwar wurde Rákosi als Vorsitzender der Kommunistischen Partei abgesetzt, doch konnte dies die Unzufriedenheit im Land nicht mindern. Als Studenten auf einer genehmigten Demonstration am 23. Oktober 1956 in Budapest ihre Solidarität mit dem Arbeiteraufstand in Posen ausdrücken wollten, schlossen sich immer mehr Menschen an, um für Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und die Wiedereinsetzung Imre Nagys als Ministerpräsident zu demonstrieren. Am Abend standen 200 000 Menschen vor dem ungarischen Parlament und Imre Nagy wurde erneut zum Ministerpräsidenten berufen. In den folgenden Tagen griff der Aufstand auf das ganze Land übe. Der wiederernannte Ministerpräsident Imre Nagy bildete eine Mehrparteienregierung und erklärte die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Die Sowjetunion akzeptierte diese Entscheidung allerdings nicht. Am 1. November 1956 marschierte die Rote Armee in Ungarn ein und schlug den Aufstand nieder. In den folgenden drei Wochen kam es zu andauernden Kämpfen zwischen dem sowjetischen Militär und ungarischen Widerstandsgruppen. Mehr als 3000 Menschen starben bei den Kämpfen. Imre Nagy wurde am 22. November 1956 verhaftet und anderthalb Jahre später in Ungarn hingerichtet.

Verwendete Literatur:

Lachmann, Hannes, Die „Ungarische Revolution“ und der „Prager Frühling“. Eine Verflechtungsgeschichte zweier Reformbewegungen zwischen 1956 und 1968, Essen 2018.