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Die Antwort des "Simplicissimus" auf die Kriegsschuldfrage – eine Betrachtung vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der Weimarer Republik

 

„Herr von Bethmann läßt erklären:
Rußland zeigt sich stark nervös.
Oestreich sagt: Was wärʼ jetzt bös
Mit dem Bären?
[…]

Zweierlei ist nun die Meinung:
Tritt am Ende gar ein Kampf
Oder nur Nervenkrampf
In Erscheinung?“[1]

Einleitung

Die einführenden Verse stammen aus dem Gedicht „Deutschland, Rußland und so weiter“ von Peter Scher, erschienen am 16. März 1914 im Simplicissimus. Es zeigt ziemlich klar: In Europa lag damals schon eine Kriegsstimmung in der Luft. Ob es zum Konflikt kommen würde, das konnte man da nur erahnen. Drei Monate später wurde aus dieser Vorstellung Realität.

Mit dem Ersten Weltkrieg begann für viele Menschen weltweit eine neue Zeitrechnung. Das Aufeinanderprallen der Großmächte – das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich auf der einen, sowie Russland, Frankreich, Großbritannien und später die Vereinigten Staaten auf der anderen Seite – entwickelte ein Ausmaß an Vernichtung und Zerstörung, das man vorher so nicht gekannte hatte. Trotz dieses Elends war die deutsche Bevölkerung davon überzeugt, die Kriegshandlungen ihres Reiches seien gerechtfertigt,[2] denn sie glaubte, man verteidige sich ja nur.

Dieser Irrglaube war das Ergebnis der deutschen Kriegspropaganda.[3] Zeitungen und andere Medien trugen ihren wesentlichen Teil dazu bei. Das zum Einstieg zitierte Gedicht steht exemplarisch für die Weitsicht des Simplicissimus im Weltgeschehen. Vor allem das Bildungsbürgertum des Deutschen Reiches schätzte die ausgeprägte Expertise und den nachdenklichen Witz im Schreib- und Zeichenstil der Zeitschrift. Wie wirkte die aufkommende Propagandastimmung auf den Simplicissimus? Im vorliegenden Essay soll untersucht werden, welche Rolle der Simplicissimus bezüglich der Kriegsschuldfrage einnahm. Um zu verstehen, wie die Kriegsausgaben zustande kamen, dienen auch Niederschriften als Quelle, die authentisch das Geschehen innerhalb der Redaktion zeigen. Zunächst folgt allerdings eine kurze Einführung, welche die Kriegsentstehung und die wissenschaftliche Diskussion zur Kriegsschuld auf das Wesentliche herunterbricht. Das ist wichtig, denn ohne dieses Hintergrundwissen, ist das Vorgehen und die Veröffentlichungen des Simplicissimus im Ersten Weltkrieg nur schwer nachvollziehbar.

 

Hintergrund – Deutschland zieht in den Weltkrieg – Was nun, Simplicissimus?

In einem schwer aufgerüsteten Europa war die Initialzündung für den Weltkrieg das Attentat des bosnisch-serbischen Nationalisten Gavrilo Princip. Der Mord an dem österreichisch-ungarischem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand löste eine internationale Krise aus. Es folgte, kurz zusammengefasst, ein Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien, dessen Bedingungen für Serbien kaum umzusetzen war. Zuvor hatte das Deutsche Reich bereits im Falle eines Krieges Österreich-Ungarn die volle und bedingungslose Unterstützung zugesichert – den sogenannten Blankoscheck. Serbien ging bis auf einen Punkt auf die Forderungen des Ultimatums ein; nicht genug für Österreich-Ungarn, man erklärte den Krieg. Russland, als Serbiens Schutzmacht, mobilisierte seine Truppen, um Österreich-Ungarn und Deutschland zuvorzukommen. Ebenso Frankreich, das durch ein Bündnis mit Russland nun auch am Krieg beteiligt war. Das Deutsche Reich wollte schnell reagieren und marschierte umgehend in Luxemburg und Belgien ein, um an Frankreich heranzurücken. Belgien und Luxemburg waren allerdings neutral, wodurch sich Großbritannien genötigt fühlte, zusammen mit Frankreich und Russland in den Kampf zu ziehen. Der Krieg war ausgebrochen.

Und wie verarbeitete der Simplicissimus all das? Als Randnotiz zunächst: In zwei Karikaturen spielte er auf die Julikrise an, in welcher die im letzten Absatz genannten Ereignisse abspielten. Da war das Bild „Im Balkan-Blutmeer“[4] [s. Abbildung 1], ein Holzschiff mit der Flagge der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, das durch tiefrote Wellen manövriert. Darunter der Untertitel „Steuermann über Bord“ – was man als indirekte Anspielung auf das Attentat in Sarajevo verstehen kann. Provokativer äußerte sich der Simplicissimus in der folgenden Ausgabe, als er zeigte, wie die serbischen Ratten in der Karikatur „Die slawische Gefahr“[5] [s. Abbildung 2] den österreich-ungarischen Doppelkopfadler, bräsig sitzend auf seinem Thron, unterwandern und überfallen. Diese beiden Thematisierungen blieben Ausnahmen. Denn, wer die Juliausgaben las, bekam keinesfalls das Gefühl, ein Weltkrieg würde bald anstehen.

Und dann verstummte der Simplicissimus. Zwei Titel, Nummer 18 und 19 aus den ersten beiden Augustwochen, veröffentlichte die Redaktion nicht, ehe sie sich mit der Ausgabe 20 mit folgendem Text an die Leser wendete:

„An unsere Leser

Die Nummern 18 und 19, die schon vor der Mobilmachung in Druck gegangen waren, haben wir – soweit es sich ermöglichen ließ – zurückgehalten. Es geschah dies nicht aus Besorgnis vor irgendwelchen Zensurschwierigkeiten – zu solchen lag keinerlei Anlass vor –, sondern lediglich aus dem Gefühl heraus, daß es in diesen Tagen der deutschen Erhebung eine Kritik innerpolitischer Vorgänge selbstverständlich nicht mehr gibt. – Die beiden Nummern werden nach dem Friedensschluß unsern Abonnenten zugestellt, ebenso sämtliche Kriegsflugblätter.
Von jetzt ab erscheint der Simplicissimus wieder wöchentlich. Etwaige Unregelmäßigkeiten in der Zustellung werden unsre Leser in dieser Zeit gewiß entschuldigen.“[6]

Was in der Redaktion wirklich geschehen war, lässt sich aus diesen Zeilen nicht wirklich herauslesen. Hermann Sinsheimer, Chefredakteur des Simplicissimus von 1924 bis 1929, schrieb über diese Zeit des Kriegsausbruchs in seiner Biografie. Das Geschehene hat er nicht selbst erlebt, ließ es sich aber übereinstimmend und glaubhaft von damals Anwesenden berichten.

Der damalige Chefredakteur Ludwig Thoma sei plötzlich bereit gewesen, den Simplicissimus aufzulösen. „Er war, wie die übergroße Mehrheit der Deutschen, davon überzeugt, Deutschland sei überfallen worden und es sei ein Defensivkrieg und ein Krieg um seine Existenz, den es zu führen habe und dem sich kein Deutscher entziehen durfte – somit gäbe es keinen Raum und keine Aufgabe mehr für ein satirisches Blatt der Opposition gegen die herrschenden Gewalten in Deutschland.“[7] Thomas Theodor Heine und Kollegen konnten ihn letztendlich noch vom Weitermachen überzeugen, nun allerdings mit dem Credo: Gerade jetzt brauche Deutschland ein international so angesehenes Blatt wie den Simplicissimus, um im In- und Ausland die Kriegsführung zu unterstützen – ein solches „Einschwören“ von Bevölkerungs- und Gesellschaftsteilen in Krisenzeiten ist nichts ungewöhnliches; dieser rally-round-the-flag-effect oder auch die Stunde der Exekutive ist in Zeiten der Corona-Pandemie so aktuell wie nie.[8]

Doch zurück in den August 1914, zur Veröffentlichung der Ausgabe 20. Von nun an stand der Simplicissimus da als meinungsstarkes Magazin der einfachen Antworten: Die Feinde, das sind die anderen. Die Opfer, das sind wir.

Möchte man aber der Kriegsschuldfrage auf ihren wirklichen Grund gehen, darf man keinesfalls eine einfache Antwort erwarten. Wer dahinter einen Kampf der europäischen Großnationen um Macht und Einfluss sieht, was natürlich nichts Ungewöhnliches wäre, macht es sich zu einfach. Vielmehr geht es um ein Netz aus Bündnissen, um militärische Selbstüberschätzung und um eine angespannte Stimmung zwischen den Ländern Europas.

Die Ereignisse in den frühen 1910er-Jahren überschlugen sich wortwörtlich, sodass sich Historiker bis heute uneins sind, welcher Faktor welchen Einfluss auf den Kriegsausbruch hatte. Es ist nicht einmal klar, wann genau die Erzählung der Vorgeschichte ihren Anfang nimmt. 1914? Mit den Balkankriegen in den beiden Jahren zuvor? Oder gar schon im späten 19. Jahrhundert? In der Nachkriegszeit sorgte die Fischer-Kontroverse für eine hoch emotionale Diskussion. Der deutsche Historiker Fritz Fischer hatte akribisch die Entstehung des Ersten Weltkrieges aufgearbeitet und zog die Schlussfolgerung: „Die deutsche Reichsführung [trägt] einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.“[9] Dabei blieb es nicht. Diese erregte Diskussion unter den Historikern bekam nach weiteren Recherchen immer wieder neue Ansätze, die zu einem anderen Ergebnis führten. Zumindest gibt es derzeit den Konsens, dass das Deutsche Reich nicht die Alleinschuld trug, wie es die Alliierten im Versailler Vertrag nach der Kapitulation niederschrieben. Dieser sogenannte Kriegsschuldartikel, Nummer 231 des Vertrags, beschäftigte das deutsche Volk noch lange. Das Thema war und blieb über die Zwischenkriegszeit hinaus hoch emotional. 2012 erschien abermals ein Werk, das eine neue umstrittene Gesprächsgrundlage lieferte. Der australische Historiker Christopher Clark betonte die Rolle Serbiens als Störenfried in der Vorkriegsgeschichte und bezeichnete das Deutsche Reich letztendlich als einen Täter von vielen. 

„The outbreak of war in 1914 is not an Agatha Christie drama at the end of which we will discover the culprit standing over a corpse in the conservatory with a smocking pistol. There is no smoking gun in this story; or, rather there is one in the hands of every major character. Viewed in this light, the outbreak of war was a tragedy, not a crime. Acknowledging this does not mean that we should minimize the belligerence and imperialist paranoia of the Austrian and German policy-makers that rightly absorbed the attention of Fritz Fischer and his historiographical allies. But the Germans were not the only imperialists and not the only ones to succumb to paranoia.”[10]

 

Einfache Antworten für schwierige Fragen

Hierbei ist zu beachten, der Begriff der „Kriegsschuldfrage“ existierte damals in diesem Kontext noch gar nicht. Doch er spielte durchaus eine Rolle, wenn auch unterschwellig. Für uns ist deshalb interessant, welche stereotypen Feindbilder der Simplicissimus im Jahr 1914 schuf. Wer war der Aggressor und damit der Initiator des Ersten Weltkrieges?

Mit verunglimpfenden Bildern anderer Staaten arbeitete das Blatt schon vor dem Krieg. Nur stellten die Zeichner ebenso deutsche Personen und Figuren grotesk dar und äußerten vielseitig Kritik. Schließlich war der Simplicissimus bislang für seine Meinungsvielfalt unter seinen Redaktionsmitgliedern bekannt. „[…] Gegenüber  den westlichen oder zentraleuropäischen Ländern bestand doch große Toleranz, und noch wurden die Fehler mehr im eigenen Land als bei den    anderen gesucht.“[11] Dieses Qualitätsmerkmal ging mit Kriegsbeginn verloren. Schon in der ersten Ausgabe der neuen Zeit, der Nummer 20, unterstrich die Zeitschrift ihre neue Haltung. Auf dem Cover[12] [s. Abbildung 3] sticht ein Ritter in den deutschen Reichsfarben, umgeben von tiefroten Flammen, einen russischen Bären, eine Ratte mit der französischen phrygischen Mütze und einen Alligator (Großbritannien) nieder. Darunter steht der Absatz:

„Und wenn die Welt voll Teufel wär‘
Und wollt‘ uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nit so sehr –
Es muß uns doch gelingen!“

Dieses Bild ist nicht nur eine offensichtliche Kriegsmetapher. Es handelt sich um eine Strophe aus dem bekannten Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott“, der Text stammt von Martin Luther, das Anfang des 20. Jahrhunderts – zumindest beim protestantischen Teil der Bevölkerung – zum allgemeinen Bildungsgut gehörte. Durch diese religiöse Untermauerung erhält der Ritter geradezu eine „Sakralisierung“ als Kreuzritter mit göttlicher Mission. Diese Figur soll eine deutsche Überlegenheit symbolisieren. Das ist nicht nur in seiner Darstellung zu sehen, sondern auch in der der anderen Großnation, welche auf dem Bild zu sehen sind. Die Entente, dargestellt als niederträchtige Tiere, richtet er hin. Gerade der angefügte Text, im Konjunktiv geschrieben, lässt sich als eine Warnung an Frankreich, England und Russland verstehen, sich besser nicht mit dem erhabenen Deutschland anzulegen. Das Setting aus Flammen und die „Welt voller Teufel“ im Text verdeutlichen die neue Linie des Simplicissimus, der ab sofort mit einer schwarz-weiß-Denkweise die Welt eindeutig in gut und böse einteilt.

Auf der nächsten Seite der Ausgabe marschieren auf einem Bild österreichisch-ungarische Soldaten, darunter ein Truppenlied, in dem sie die Landesverteidigung besingen. Die Schluss-Seite des Heftes zeigt einen gutgekleideten Briten, Pfeife rauchend, die Hände blutverschmiert, um ihn herum Schädel, welche genauso vor Blut triefen. Der Titel nennt ihn zynisch den „Hüter des Völkerrechts“ und der Brite spricht zum Leser: „Der Krieg ist ein Geschäft wie jedes andere.“ Generell treten die Briten in den Karikaturen immer wieder in der Rolle des gefühlskalten, aber sonst zivilisierten Strippenziehers im Krieg auf.

Betrachten wir die osteuropäischen Staaten, sehen wir ganz andere Rollen. Russland tritt wie schon so oft in der Vergangenheit als unzivilisierter Grobian auf. Ob als „fetter Kosakenonkel“,[13] als versoffene Schiffsfahrer im selben Heft (S. 346), als trottliger Schrottsammler[14] oder als Nervensäge.[15] Die Eigenschaft der Gerissenheit, wie sie häufig bei den Briten zu finden ist, schreibt der Simplicissimus seinen russischen Figuren nicht zu. Anderen, kleineren Nationen Osteuropas geht es da ganz ähnlich.

Nach der baldigen Eroberung durch Österreich-Ungarn galt Serbien als Nation, deren Institutionen vor dem Ende standen. Insbesondere durch den Mord Gavrilo Princips an Franz Ferdinand hatte sich das Stereotyp des Königsmörders verfestigt, das den Serben schon länger anhing. Erneut taucht auch wieder das Bild der Ratten in Bezug auf Serbien auf,[16] die wie ihr König Petar das sinkende Schiff verlassen wollen.

Rumänien wäre ein weiteres Beispiel. Es galt zunächst, vor allem durch das deutschstämmige Königshaus, als nahbar. Doch mit dem Kriegsbeginn bröckelte das positive Bild im Simplicissimus. Mit der Kriegserklärung gegen Österreich-Ungarn und Deutschland, gilt das Land als Verräter, unter anderem dargestellt als faule Hyäne.[17]

Der Nationalgedanke der Autoren und Zeichner des Simplicissimus hatte schnell eindrückliche Ausmaße angenommen. Das zeigt ein Treffen des Schriftstellers Erich Mühsam mit Ludwig Thoma im September 1914. In Mühsams Tagebuch steht, wie kriegerisch Thoma gestimmt gewesen sei. Er wolle selber als Sanitäter in den Krieg ziehen. Mühsam beschwert sich in seinen Schriften weiter über den „Hurrapatriotismus“.[18] Der Simplicissimus hatte sich sichtbar dem Leitspruch Wilhelms II. untergeordnet: „Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“[19]

Jegliche Geschehnisse des Krieges, welche den Verteidigungsmythos weiter stützen, waren dankbare Themen für den neuen Simplicissimus. In „Die Schuldfrage“[20] [s. Abbildung 4] wird die Kriegsschuldfrage jetzt auch wörtlich erwähnt. Hier geht es um den ehemaligen russischen Kriegsminister Vladimir Suchomlinov, welcher sich 1917 bei einem Landesverratsprozess dafür verantworten musste, ohne höhere Weisung 1914 die allgemeine Mobilmachung angeordnet zu haben.[21] Ein fein gekleideter Herr, wohl ein Brite, spricht auf dem Bild zum vorbeilaufenden Suchomlinow in Gefangenanzug und Ketten: „Aber Suchomlinow, wie konnten Sie zugeben, daß wir schuld am Kriege sind? Sie können Ihre Entscheidung nur wieder gut machen, wenn Sie aussagen, daß Sie von Deutschland bestochen wurden.“

Mit dem Kriegsende entwickelt sich die Kriegsschuldfrage zu dem Streitthema schlechthin. Ein Beispiel aus dem Dezember 1918, ein Monat nach dem Waffenstillstand, zeigt, wie flapsig der Simplicissimus noch auf die Diskussion blickt. In einem Sechsbildercomic[22] zeichnet Olaf Gulbransson den Streit zwischen dem ersten Ministerpräsidenten Bayerns, dem Sozialisten Kurt Eisner, und dem russischen Bolschewisten Leonid Trotzki. Der Simplicissimus witzelt hierbei über den Konflikt innerhalb der internationalen Linken, die die Weltkriegsschuld für ihr Land beanspruchen wollten. Das Scheitern des alten monarchischen Systems rechtfertigte die Arbeiter-Revolutionen, die etwas zeitlich versetzt in Russland und Bayern stattfanden.

Die strikten Forderungen des Versailler Vertrages verschärften den Ton der Zeitschrift in der Betrachtung der Kriegsschuldfrage. Um souverän zu bleiben, war Deutschland gewissermaßen gezwungen, die Alleinschuld am Krieg vertraglich anzuerkennen. Ansonsten drohte die Entente, das ehemalige Reich zu besetzen. Der Simplicissimus arbeitete das mit reichlich Pathetik auf. In „Versailles“[23] [s. Abbildung 5] tritt Deutschland, personifiziert als Mann mit freiem Oberkörper, an die Guillotine der Allliierten, welche daneben stehen und noch hämisch sagen: „Auch Sie haben noch ein Selbstbestimmungsrecht: wünschen Sie, daß Ihnen die Taschen vor, oder nach dem Tode ausgeleert werden?“ Ebenso der berühmte „Friedenskuss“[24], bei dem der Teufel den Friedensengel in den Hals beißt und aussaugt, steht meines Erachtens für eine neue Erzählweise des Simplicissimus von der deutschen Opferrolle.

Die Klärung der Kriegsschuldfrage war mit dem Versailler Vertrag lange noch nicht beendet. Immer wieder flammte die Kritik danach auf, dass das Ausmaß der Strafe ungerechtfertigt sei. 1923 zeichnet Wilhelm Schulz in „Danzig und Schleswig“[25]eine gehängte Justitia, die scheinbar von zwei Dieben bestohlen wird. „Wenn die Gerechtigkeit am Galgen hängt, werden die kleinen Diebe mutig“, steht in der Unterzeile und spielt damit auf den Verlust Nordschleswigs an Dänemark und die Abtrennung Danzigs vom deutschen Reichsgebiet im Zuge des Versailler Vertrags an.

Abschließend sei hier noch eine Ausgabe zu nennen, in der die ungeklärte Kriegsschuldfrage beinahe traumatische Züge annimmt. Man befasste sich erneut mit dem Thema Mitte 1924 und widmete ihm eine gesamte Ausgabe.[26] Der Titel „Die Kriegsschuldlüge“ verrät eigentlich schon alles. Auslöser für dieses Heft, das sich allein mit diesem Thema beschäftigt, dürfte die von der staatlichen Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen veröffentlichte Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage. Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung gewesen sein, welche, wie der Name schon erahnen lässt, sich mit der Ermittlung der deutschen Unschuld im Ersten Weltkrieg befasste.

Das Titelblatt[27] [s. Abbildung 6] trägt dieselbe Überschrift wie die Karikatur aus der Ausgabe fast fünf Jahre zuvor. „Versailles“ zeigt wieder das personifizierte Deutschland als spärlich bekleideten Mann. Dieses Mal steht er aber nicht vor der Guillotine, sondern liegt auf einer Art Streckbank. Unter seinem Rücken und seinen Kniekehlen sind stachelige Rollen, deren Spitzen sich ins Fleisch des Mannes bohren. Der Foltermeister spricht zu vier beistehenden Personen, welche sich nicht genauer identifizieren lassen, und sagt ihnen: „Sie hören – er bekennt sich schuldig!“ Dieses unter Qualen erzwungene Schuldeingeständnis ist eine neue Erzählweise. Dieses Mal stirbt Deutschland nicht, wie in der „Versailles“-Karikatur 1919, sondern es leidet vielmehr und spricht das aus, was seine Folterer hören wollen.

Was damit gemeint ist, schreibt auf der Folgeseite der Autor oder die Autorin „hesi“ ausführlich. „Gegen die Kriegsschuldlüge“, so lautet auch die Überschrift. Auf zwei Seiten verteilt schreibt er/ sie, dass Deutschland kein verurteilter Schuldiger sei, sondern nach wie vor nur Angeklagter. Deshalb sei es Recht und Pflicht, sich dagegen zu wehren. Der/ Die Schreiber/in versteht sich als Stimme des Volkes und nicht als die „der Diplomaten und Bürokraten“, welche in der Kommunikation mit den Alliierten zur Vorsicht mahnen. Den Krieg habe man nicht gewollt, man wollte nur die Unversehrtheit Deutschlands bewahren. Österreich und Russland werden gelobt, da sie ihre Kriegsdokumente offengelegt haben. Frankreich wird hingegen wegen fehlender Transparenz verurteilt. Doch müsse diese Lüge ein für alle Mal geklärt werden – „Der Kampf gegen diese Lüge ist daher für Deutschland eine nicht weniger elementare Notwendigkeit wie der Kampf gegen Hunger oder die Zerstückelung des Reiches.“

Anders als in der Kriegszeit ist nun Frankreich und nicht England das Hauptproblem, so zeigen es die weiteren Karikaturen und Texte der Ausgabe. Russland wirkt nach wie vor wie ein schwaches, minderintelligentes Mitglied der Entente, das nur Befehle der anderen ausführt.[28]

Es zeigt sich, im Gegensatz zur Kriegszeit geht es hier scheinbar nicht mehr ausschließlich darum, einen reinen Verteidigungskrieg zu rechtfertigen. Eine gewisse Teilschuld wird Deutschland im Text zugestanden. Jetzt ginge es um eine Aufklärung, so der/ die Autor/in, um Deutschland von der Qual des Alleinschuldigen zu befreien.

 

Fazit

Der Erste Weltkrieg war ein äußerst einschneidendes Ereignis für den Simplicissimus. Mit der neuen einheitlich patriotischen-nationalistischen Haltung wollten unter anderem die Chefredakteure Thoma und Heine die Existenz ihres Blattes in Kriegszeiten rechtfertigen. „Der Simplicissimus war von da an ein Propagandainstrument, nicht auf Staatskosten, sondern ganz privat und freiwillig.“[29] Den Gegnernationen hafteten äußerst negative Bilder an. Der kaltblütige Brite, der unzivilisierte Russe, der erbärmliche Serbe oder der verräterische Rumäne. Die nationalistische Haltung des Simplicissimus blieb nicht ohne Folgen, die Zeitschrift büßte ihr großes Renommee ein. So beschwerte sich der spätere Chefredakteur Hermann Sinsheimer: „ […] Das eine muß gesagt werden, daß die Art, wie der Simplicissimus seinen neuen Patriotismus zum Chauvinismus steigerte und vorbehaltlos alle auf deutscher Seite in Umlauf gesetzten Kriegslügen in Wort und Bild unterstützte, ihn zum Gespött in der ganzen Welt gemacht und ihm auch in Deutschland viele Anhänger entfremdet hat.“[30] Entsprechend überzeugt war die Redaktion von dem Mythos, Deutschland würde sich ausschließlich gegen Aggressoren von außen schützen.

Aus dieser Haltung heraus zeigte sich der Simplicissimus dann äußerst schockiert, als es im Versailler Vertrag hieß, Deutschland trage die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg. Die Unrechtmäßigkeit der „Kriegsschuldlüge“ betonte man immer wieder. Der Aufruf 1924 nach einer erneuten Untersuchung des Kriegsausbruchs deutet aber daraufhin, dass man zumindest in Teilen Deutschland eine gewisse Schuld zuspricht. Eine transparente Aufklärung sollte nun im Vordergrund stehen.

In den 1920er-Jahren hatte der Simplicissimus wieder seinen guten Ruf zurückgewonnen, ein Satire-Blatt zu sein, das nachdenklichen Humor verschiedenster Meinung repräsentierte. Dies funktionierte für einige Jahre, ehe im März 1933 die Sturmabteilung (SA) der Nationalsozialisten die Räume des Simplicissimus überfiel. Bald darauf wurde die Redaktion im großen Stil ausgetauscht, aus der Zeitschrift wurde erneut ein Propaganda-Instrument, die sich im Heft 3 des 38. Jahrgangs, Seite 26, mit folgendem Text äußerte:

„Erklärung! Schon einmal, beim Beginn und Verlauf des Weltkrieges, hat der ‚Simplicissimus‘, der als Kampfblatt gegründet wurde, bewiesen, daß er nicht bloß kritisch und negativ, sondern sehr nachdrücklich positiv sein kann: Wenn es sich nämlich um Deutschland handelt. So sind denn auch die Ereignisse der letzten Monate nicht spurlos an ihm vorübergezogen. Wieder handelt es sich um Deutschland, aber diesmal nicht um das alte, im Kampf mit einer ganzen Welt stehende, sondern um das nach langen Wehen und Wirrnissen jetzt zu sich selbst erwachte Deutschland.

Ihm und seinen großen Zielen im Inneren wie nach außen auf seine Art zu dienen, sieht der ‚Simplicissimus‘, nach einer grundlegenden Umbesetzung der Redaktion, als seine vaterländische Pflicht an.“[31]

 

Endnoten

[1] Scher, Peter: Deutschland, Rußland und so weiter, in: Simplicissimus, 16.3.1914, Jg. 18, Nr. 51, S. 863.

[2] Vgl. Mombauer, Annika: Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung, 2014, in: Bundeszentrale für politische Bildung (letzter Zugriff am 21.9.2020).

[3] Vgl. ebd.

[4] Siehe Abb. 1: Heine, Thomas Theodor: Im Balkan-Blutmeer, in: Simplicissimus, 13.7.1914, Jg. 19, Nr. 15, S. 248.

[5] Siehe Abb. 2: Heine, Thomas Theodor: Die slawische Gefahr, in: Simplicissimus, 20.7.1914, Jg. 19, Nr. 16, S. 249.

[6] Die Redaktion des Simplicissimus: An unsere Leser, in: Simplicissimus, 17.8.1914, Jg. 19, Nr. 20, S. 314.

[7] Sinsheimer, Hermann: Gelebt im Paradies. Erinnerungen und Begegnungen, Berlin 2013, S. 284.

[8] Vgl. Lehming, Malte: Wie die Coronakrise die Herrschenden stärkt, 30.3.2020, in: Der Tagesspiegel (letzter Zugriff am 23.9.2020).   

[9] Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegspolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961, S. 97.

[10] Clark, Christopher: The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914, London 2012, S. 561.

[11] Raff, Thomas: Mit voller Lungenkraft blies er in die Kriegsposaune. Der „Simplicissimus“ im Ersten Weltkrieg, verschriftlichter Vortrag, 2015, in: Website von Thomas Raff (letzter Zugriff am 21.8.2020).

[12] Siehe Abb. 3: Heine, Thomas Theodor: Durch!!, in: Simplicissimus, 17.8.1914, Jg. 19, Nr. 20, S. 313.

[13] Thöny, Eduard: Lustige Jagd, in: Simplicissimus, 1.9.1914, Jg. 19, Nr. 22, S. 343.

[14] Autor unbekannt: Kunstfreunde, in: Simplicissimus, 27.10.1914, Jg. 19, Nr. 30, S. 409.

[15] Autor unbekannt: Vierbund - Vierverband, in: Simplicissimus, 30.11.1915, Jg. 20, Nr. 35, S. 420.

[16] Schulz, Wilhelm: Sintflut über Serbien, in: Simplicissimus, 9.11.1915, Jg. 20, Nr. 32, S. 373.

[17] Gulbransson, Olaf: Vierbund und Rumänien, in: Simplicissimus, 12.9.1916, Jg. 21, Nr. 24, S. 293.

[18] Vgl. Mühsam, Erich: Tagebucheintrag vom 3.9.1914, Heft XI. Eine Online-Edition von Hirte, Chris und Conrad Piens: http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/diaries.php (letzter Zugriff am 21.8.2020).

[19] Vgl. Wilhelm, Friedrich: Zweite Balkonrede, Berlin 1. August 1914, in: Die Balkonreden Wilhelms II., veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 22.7.2004 (letzter Zugriff am 22.8.2020).

[20] Siehe Abb. 4: Gulbransson, Olaf: Die Schuldfrage, in: Simplicissimus, 18.9.1917, Jg. 22, Nr. 25, S. 309.

[21] Vgl. Protokoll der Kabinettssitzung der Reichsregierung der Weimarer Republik vom 22.3.1919, in: Website des Bundesarchivs (letzter Zugriff am 22.8.2020).

[22] Gulbransson, Olaf: Trotzki und Eisner, in: Simplicissimus, 17.12.1918, Jg. 23, Nr. 38, S. 475.

[23] Siehe Abb. 5: Heine, Thomas Theodor: Versailles, in: Simplicissimus, 3.6.1919, Jg. 24, Nr. 10, S. 132.

[24] Heine, Thomas Theodor: Der Friedenskuss, in: Simplicissimus, 8.7.1919, Jg. 24, Nr. 15, S. 189.

[25] Schulz, Wilhelm: Danzig und Schleswig, in: Simplicissimus, 17.9.1923, Jg. 28, Nr. 25, S. 312.

[26] Simplicissimus-Verlag: Die Kriegsschuldlüge, in: Simplicissimus, 23.6.1924, Jg. 29, Nr. 13.

[27] Siehe Abb. 6: Schulz, Wilhelm: Versailles, in: Simplicissimus, 23.6.1924, Jg. 29, Nr. 13, S. 185.

[28] Vgl. ebd., S. 193.

[29] Telefoninterview mit Thomas Ralff, geführt am 19.8.2020.

[30] Sinsheimer, Hermann: Gelebt im Paradies. Erinnerungen und Begegnungen, Berlin 2013, S. 285.

[31] Redaktion des Simplicissimus: Erklärung!, in: Simplicissimus, 16.04.1933, Jg. 38, Nr. 3, S. 26.

Autor

Leon Wohlleben
 

Erschienen am 20.11.2020