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Die Verflechtungen zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Münchner Räterepublik

Der Einfluss des Deutschen Reiches auf die Oktoberrevolution 1917

Am Ostermontag 1917 steigt Vladimir Ul’janov, besser bekannt unter dem Pseudonym Lenin, in Zürich in einen Zug, der anschließend verplombt wird. Darauf besteht er selbst, denn die Reise nach Petrograd führt durch das Deutsche Reich und Skandinavien. Die russische Bevölkerung soll später nicht glauben, er habe Hilfe vom deutschen Kaiserreich, dem Klassenfeind, erhalten. Mit ihm reisen seine Frau Nadežda Krupskaja, Tovia Aksel’rod und weitere Genossen in Richtung Petrograd. Nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II. planen sie in ihrem Heimatland Russland die Errichtung eines kommunistischen Staats. Die reibungslose Reise ermöglichen der inoffizielle Financier der Oktoberrevolution Aleksandr Helphand, genannt Parvus, der zuvor schon mit Lenin, Julij Martov und Aleksandr Potresov an der Zeitung Iskra gearbeitet hatte, und die deutsche Regierung.

Inmitten des Ersten Weltkriegs fallen die Interessen des Deutschen Reichs und die der russischen Revolutionäre zusammen. Die deutsche Regierung will den Krieg an der Ostfront möglichst schnell beenden und beginnt, den linken Flügel der russischen Revolutionsbewegung zu finanzieren. Die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze putschen sich in der Oktoberrevolution an die Macht und stimmen einem Waffenstillstand zu.[1]

Dabei vermittelt Parvus zwischen den beiden Parteien. Doch er setzt sich nicht nur für den Umsturz in Russland ein, sondern hat bereits die Weltrevolution im Sinn. Das Deutsche Reich hingegen unterschätzt die Bolschewiki und die weitreichenden Folgen seiner finanziellen Unterstützung. Mit dieser, so erhoffen es sich die Revolutionäre, soll sich der Kapitalismus sein eigenes Grab schaufeln. 40,5 Millionen Mark sollen nach Angaben des Spezialfonds für Propaganda und Sonderexpeditionen des Auswärtigen Amtes bis 1918 in die Russische Revolution investiert worden sein.[2] Diese Verbindung zwischen dem Deutschen Reich und den Revolutionären bleibt lange Zeit geheim.

Nach der Oktoberrevolution gründen die Bolschewiki die Nachrichtenagentur ROSTA (Rossijskoe Telegrafnoe Agentstvo, Russische Telegraphen-Agentur). In deren Berliner Büro treffen sich zum ersten Mal Tovia Aksel’rod und Evgenij Leviné, die später in der Münchner Räterepublik zentrale Rollen einnehmen werden. Zu ihren Aufgaben gehört es, die öffentliche Meinung in Deutschland zugunsten der Bolschewiki zu beeinflussen. Damit sollten sie im Deutschen Reich einen fruchtbaren Boden für den Kommunismus schaffen.[3] Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gründet sich Ende 1918 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Zwischen 1918 und 1923 versucht sie unter anderem durch die Münchner Räterepublik, die „Märzaktion“ 1921 und den „Deutschen Oktober“ 1923 die politische Macht in Deutschland an sich zu reißen, was jedoch misslingt.

 

Die Novemberrevolution in München 1918

In München beginnt die Revolution auf der Theresienwiese. Für den Nachmittag des 7. November 1918 hatten die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD) und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) zu einer Kundgebung für den Frieden und das Ende des Krieges aufgerufen. Diese ist eine der ersten Aktionen, die beide Parteien gemeinsam planen.[4] Bis 1916 hatten sie in der SPD zusammengearbeitet. Dann spaltete sich der linke Flügel im Streit um die Zustimmung zu den Kriegskrediten ab und nannte sich fortan USPD.

Schätzungen zufolge kommen zur Kundgebung etwa 60.000 Menschen – ein großes Echo, bedenkt man, dass damals ca. 600.000 Menschen in der Stadt leben. Mehr als 20 Redner sprechen gleichzeitig. Der MSPD-Vorsitzende Erhard Auer postiert sich auf der Treppe direkt unter der Bavaria, seine Mitstreiter stehen jeweils 50 Meter voneinander entfernt am Hang. Am nördlichen Rand der Theresienwiese spricht der Anführer der bayerischen USPD, der jüdische Journalist Kurt Eisner. Eine seiner Zuhörerinnen ist die Fotografin Germaine Krull. „Es wurde nicht einmal geflüstert, und als er seine Ansprache mit einem Aufruf zur Beendigung des Krieges schlo[ss], gab es einen gemeinsamen Aufschrei: ‚Waffenstillstand, Waffenstillstand!‘“[5], erinnert sie sich in ihren Memoiren. Anders als Auer beschränkt Eisner seine Forderungen nicht auf die Abdankung des Kaisers, Waffenstillstand, Demokratisierung und den Achtstundentag. Wie schon zwei Tage zuvor im Hackerkeller auf der Theresienhöhe, fordert er einen politischen Umsturz. Schließlich ruft einer seiner Gefolgsleute: „Es hat keinen Zweck mehr, viele Worte zu verlieren. Wer für die Revolution ist, uns nach.“[6]

Während Auer und seine Anhänger zum Friedensengel ziehen und ihre Demonstration dort auflösen, marschiert Eisners Gruppe mit dem Ruf „Es lebe die Revolution!“ über die Donnersbergerbrücke zu den Kasernen. Zenzl Mühsam ist gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Anarchisten Erich Mühsam, und zwei befreundeten Russen dabei. In einem Brief beschreibt sie später, wie aufständische Soldaten die Türkenkaserne stürmen und das königliche Leibregiment überwältigen wollen:

„Wir kamen gerade in diesem kritischen Moment, ich sprang auf das Verdeck des Autos, nahm die rote Fahne und schrie ‚Hoch der Friede und die Revolution‘, […] dann zogen wir Mühsam rauf, der eine wundervolle Rede an die Soldaten richtete, da stürmten die Soldaten aus der Kaserne, zerschlugen ihre Gewehre auf dem Pflaster und mit Hurra verließen diejenigen die Kaserne, die ausbrechen konnten.“[7]

In der ganzen Stadt tauchen im Laufe des Abends rote Fahnen auf. Sie wehen sogar von den Türmen der Frauenkirche. Bis 22 Uhr sind alle Kasernen besetzt, bis 2 Uhr alle wichtigen Gebäude. Währenddessen flüchtet König Ludwig III. mit seiner Familie aus der Stadt in Richtung Wildenwarth am Chiemsee. Im Mathäserbräu zwischen Stachus und Hauptbahnhof konstituiert sich ein Arbeiter- und Soldatenrat. Eisner ruft den Freien Volksstaat Bayern aus und macht sich selbst zum Ministerpräsidenten.[8] „Als ich schließlich todmüde und hungrig nach Hause kam, war ich überzeugt, dass der erste Akt der Revolution in Bayern vorüber war“, schreibt die Revolutionärin Hilde Kramer in ihren autobiographischen Aufzeichnungen.[9]

Einer, dem die Revolution nicht weit genug geht, ist der in München lebende Russe Max Levien. Der Anführer des Soldatenrats und der Münchner Spartakusgruppe, einer Splittergruppe der USPD, hatte bereits 1905 in der Russischen Revolution gekämpft.[10] Jetzt träumt er von einem Umsturz nach dem Vorbild der Oktoberrevolution. Im Dezember 1918 nimmt Levien am Gründungsparteitag der KPD teil und übernimmt anschließend die Führung der bayerischen Sektion.[11]

In dieser Position übt Levien Druck auf die Regierung Eisner aus, der die Erwartungen anderer Bürger auch nicht erfüllen kann. Unter anderem, weil Eisner geheime Gesandtschaftsberichte veröffentlicht, die die deutsche Kriegsschuld beweisen sollen, stürzt seine USPD bei den Landtagswahlen im Januar 1919 in der Wählergunst dramatisch ab. Am 21. Februar 1919 will Eisner vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktreten. Dazu kommt es jedoch nicht, denn auf dem Weg in den Landtag wird er von dem Studenten Anton Graf von Arco auf Valley erschossen. Der junge Mann ist ein Gegner der revolutionären Bewegung und will sich mit dem Attentat auf den Politiker mit jüdischem Hintergrund unter anderem einen Platz in der völkisch-antisemitischen Thule-Gesellschaft sichern.[12] Heute erinnert am Tatort in der Kardinal-Faulhaber-Straße eine Bodenplatte mit den Umrissen von Eisners Leichnam an den Mord. Wenige Stunden nach dem Attentat auf Eisner schießt ein Mitglied des Arbeiterrats im Landtag auf Innenminister Erhard Auer, der bezichtigt wird, Drahtzieher des Mordes zu sein. Aus Angst tauchen andere Abgeordnete unter.[13] Der Landtag ist handlungsunfähig und tritt erst am 17. März 1919 unter der Leitung des Mehrheitssozialdemokraten Johannes Hoffmann wieder zusammen.[14]

 

Die „Schriftstellerrepublik“ und die „Russenherrschaft“ – zwei Münchner Räterepubliken

Nach der Ermordung Eisners verschlechtert sich die Stimmung in München zunehmend. Der Journalist und Zeitzeuge Victor Klemperer, der den linken politischen Kräften kritisch gegenübersteht, beschreibt die Situation in München folgendermaßen:

„Es wurde gestreikt, man unterdrückte die bürgerlichen Zeitungen, man schoß gelegentlich, man plünderte gelegentlich eine Villa; aber eine gewisse Bewegungsmöglichkeit der Gemäßigten und der Rechtsparteien bestand noch immer, eine wirkliche Diktatur des Proletariats war noch nicht erreicht, offener Krieg mit dem Reich oder, wie man sich ausdrückte, mit »Weimar« wurde noch nicht geführt.“[15]

Währenddessen entwickeln sich innerhalb des linken Parteienspektrums zwei politisch-ideologische Lager. Auf der einen Seite gruppieren sich die Kommunisten um die aus Russland stammenden Max Levien, Eugen Leviné und Tovia Aksel’rod. Alle drei haben einen jüdischen Hintergrund, der später von der antikommunistischen Propaganda in der Verschwörungsideologie des „jüdischen Bolschewismus“ aufgegriffen wird.[16] Sie hatten als Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei an der Russischen Revolution 1905 teilgenommen und in dieser Zeit Erfahrungen erworben, die sie 1919 in München einbringen. Auf der anderen Seite bildet sich eine Gruppe, die überwiegend aus Sozialisten und Anarchisten besteht. Unter ihnen sind die Schriftsteller Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam.[17] Sie rufen in der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 eine Räterepublik aus. Da die Neuigkeit möglichst rasch der Bevölkerung mitgeteilt werden soll, verfassen Erich Mühsam und Gustav Landauer verschiedene Entwürfe einer ersten Proklamation. Die Kerngedanken bleiben jedoch immer dieselben:

„Die Diktatur des Proletariats ist Tatsache! Eine Rote Armee wird sofort gebildet! Eine Verbindung mit Rußland und Ungarn wird sofort aufgenommen. Eine Gemeinschaft zwischen dem royalistischen Bayern und dem Kaiserdeutschland mit dem republikanischen Aushängeschild kann nicht mehr sein! Ein Revolutionsgericht wird jeden Versuch reaktionärer Machenschaften rücksichtslos ahnden. Die Lügenfreiheit der Presse hört auf. Die Sozialisierung des Zeitungswesens sichert die wahre Meinungsfreiheit des revolutionären Volkes.“[18]

Die Kommunisten beteiligen sich nicht an der Räterepublik, da ihnen keine führende Rolle zukommt und die Räteregierung nicht von den Arbeitern gewählt wurde.[19] Leviné verhöhnt sie sogar als „Scheinräterepublik“.[20] Die erste Räterepublik, die später auch als Schriftstellerrepublik[21] bezeichnet wird, besteht nicht einmal eine Woche. Die nach Bamberg geflohene Regierung Hoffmann erkennt die Räterepublik nicht an und entsendet die Republikanische Schutztruppe nach München. In der Nacht auf den 13. April 1919 verhaftet diese Einheit die Anführer und Unterstützer der Räterepublik im Zuge des sogenannten Palmsonntagsputschs. Die mit der Räterepublik sympathisierende Bevölkerung wehrt sich gegen die Entmachtung der Räte und marschiert in einem Demonstrationszug von der Theresienwiese zum Hauptbahnhof. In einer Straßenschlacht zwischen Arbeitern und der Republikanischen Schutztruppe behaupten sich schließlich die Arbeiter.[22] Unterdessen findet im Hofbräuhaus eine Versammlung der Kasernen-, Betriebs- und Angestelltenräte statt, die die Schutztruppe einberufen hatte. Als ihre Anführer zu den Kämpfen gerufen werden, nutzen die Kommunisten die Chance. Sie initiieren die Wahl eines Aktionsausschusses der Betriebs- und Soldatenräte Münchens unter der Leitung Levinés, der die bisherige Räteregierung ablöst.[23] Diese kommunistische Räteregierung wird von Teilen der Bevölkerung als „Russenherrschaft“ verunglimpft. Denn ihre ursprünglich aus Russland stammenden Führer orientieren sich am sowjet-russischen Vorbild. „Die proletarische Revolution ist von Osten gekommen. Im Osten ist das Glück, im Osten ist die Sonne aufgegangen“[24], sagt Leviné in einer seiner ersten Reden. Der erste Funkspruch der kommunistischen Räterepublik geht an Lenin nach Moskau und teilt mit, dass „die Scheinräterepublik unter dem Ansturm der kapitalistischen Regierung Hoffmann zusammenbrach und eine wirkliche proletarische Herrschaft errichtet ist, durch die Handlung des Proletariats selbst.“[25]

Diesen Worten folgen Maßnahmen wie die Einführung von sogenannten Hauskomitees, das Verbot der bürgerlichen Presse, die Konfiszierung von Privateigentum und Verhaftungen.[26] Zur militärischen Verteidigung wird eine bayerische Rote Armee, deren Gründung bereits in der Proklamation der ersten Räterepublik veranlasst worden war, nun zu einer Einheit formiert. Diese soll nach dem Vorbild der sowjet-russischen Roten Armee aufgebaut werden. Zu den Soldaten gehören neben ehemaligen Berufssoldaten auch Bauern und das städtische Proletariat. Eine entscheidende Bedingung für den Eintritt in die Rote Armee ist die „Zugehörigkeit zu einer sozialistischen oder freigewerkschaftlichen Organisation der klassenbewußten Arbeiterschaft“[27]. Die sogenannten Rotgardisten unterstehen der militärischen Führung des Oberbefehlshabers Rudolf Eglhofer und werden zur Verteidigung der kommunistischen Räterepublik gegen die Regierungstruppen eingesetzt.[28] Beflügelt von militärischen Erfolgen in Karlsfeld und Allach erobern die Rotgardisten unter der Führung von Ernst Toller, der inzwischen Abschnittskommandeur der Roten Armee ist, Dachau an der nordwestlichen Front. Unter den Mitgliedern des militärischen Stabs befinden sich auch Hermann Taubenberger und Erich Wollenberg, zwei überzeugte Kommunisten, die nach der Münchner Räterepublik in die Sowjetunion flüchten.[29] Wollenberg, der in seinen Aufzeichnungen Als Rotgardist vor München die Entwicklungen an der Front protokolliert, notiert nach der Eroberung die ersten Fehlentscheidungen Tollers: „In Dachau setzte sich die Rote Armee fest, ohne den Versuch zu machen, durch Verfolgung des fliehenden Feindes den Sieg auszunützen.“[30]

Währenddessen arbeiten die Unterstützer der ersten Räterepublik mit den Kommunisten der zweiten Räterepublik jedoch weiter zusammen. Allerdings kommt es zunehmend zu Differenzen über die Gestaltung der Politik. Unter anderem entzündet sich ein Streit um den Umgang mit Privatvermögen. Aksel’rod verlangt die Sprengung von Bankschließfächern, um deren Inhalt für die Finanzierung der Roten Armee zu verwenden. Emil Maenner, USPD-Mitglied und Volksbeauftragter für Finanzen, widersetzt sich.[31]

Inzwischen diskutieren die Anführer der Räterepublik auch über die viel dringendere Frage, ob Verhandlungen mit der Regierung Hoffmann in Bamberg aufgenommen werden sollen. Deren Truppen, von den Rotarmisten als „Weiße Garde“ bezeichnet, belagern die Stadt im Norden. Auch aus anderen Teilen Deutschlands marschieren Truppen auf. Durch die militärische Blockade ist die Versorgung mit Lebensmitteln erschwert. Viele Bauern weigern sich, die Räterepublik durch Lieferungen zu unterstützen.[32] Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Thule-Gesellschaft Propaganda gegen die Räte macht. In den konservativen Zeitungen im Münchner Umland steht beispielsweise die Falschmeldung, Landauer hätte in München den Kommunismus der Frauen eingeführt. Im katholischen Bayern ist die Empörung über die unmoralischen Kommunisten daher groß.[33]

Um eine Hungersnot durch die Lebensmittelblockade sowie unnötige Kämpfe zu verhindern, befürwortet Toller Verhandlungen mit der Regierung Hoffmann. Dem gebürtigen Posener Toller geht die Radikalität der KPD-Führung zu weit, wie seine folgende Äußerung zeigt: „Wir Bayern sind keine Russen!“[34] Er, Maenner und andere geben ihre Ämter auf, weil die Kommunisten Gespräche mit der Regierung ablehnen.

Leviné stellt die Frage nach Verhandlungen daraufhin am 27. April 1919 in der Betriebsrätesitzung zur Abstimmung. Als sich die überwiegende Mehrheit für Gespräche mit der Regierung Hoffmann ausspricht, erkennen er und die verbliebenen Mitglieder des Aktionsausschusses die übergeordnete Stellung der Betriebs- und Soldatenräte an. Anders als ihre russischen Vorbilder entscheiden sie sich gegen eine Gewaltherrschaft und treten zurück.[35] Friedlich verlaufen die nächsten Tage dennoch nicht. Levien hatte argumentiert, dass nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts in Moskau 3000 Bourgeois erschossen worden seien. Solange dies nicht auch in Deutschland der Fall sei, könne von Revolution keine Rede sein. Am 30. April 1919 erschießen Rotgardisten im Hof des Luitpoldgymnasiums schließlich zehn Mitglieder der völkisch-antisemitischen Thule-Gesellschaft. Wer letztendlich den Auftrag für diese Tat gab, ist bis heute nicht endgültig geklärt.[36]

An der militärischen Front muss die Räterepublik vier Tage später eine weitere Niederlage verzeichnen, die das Schicksal der kommunistischen Räterepublik entscheidet. Die Rote Armee wird im Norden zurückgedrängt. Am 2. Mai 1919 nimmt die „Weiße Garde“ schließlich die Stadt ein und zerschlägt die verbliebenen Einheiten der bayerischen Roten Armee. Bis heute lässt sich nicht genau ermitteln, wie stark diese tatsächlich war, da die meisten Dokumente der Räterepublik nach ihrer Niederschlagung vernichtet worden sind. Schätzungen zufolge sollen zwischen 10.000 und 30.000 Rotgardisten am Kampf um die Stadt beteiligt gewesen sein.[37]

Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass Lenin nur einen Tag zuvor bei seiner Festrede zum 1. Mai auf dem Roten Platz in Moskau erstmals die Münchner Räterepublik erwähnt hatte. Nach der militärischen Kapitulation fliehen die Münchner Räte. Viele werden gefasst, verhaftet und verurteilt. Aksel’rod und Levien werden nach kurzer Haft nach Russland überstellt. „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub“[38], sagt der Anführer der Kommunistischen Räterepublik Eugen Leviné bei seiner Gerichtsverhandlung wegen Hochverrats. Diese Worte werden später in zahlreichen Erinnerungen an Leviné verklärt. Seine letzten Worte vor der Hinrichtung lauten: „Es lebe die Weltrevolution!“[39]

Der aus Russland stammende Journalist Michael Smilg-Benario (1895-1977) ist ein aufmerksamer Beobachter der Geschehnisse in München 1919. In seinen Schriften zieht er oft Vergleiche zwischen der Münchner Räterepublik und der Russischen Revolution 1917. Sie resultieren aus den Erfahrungen, die er als überzeugter Revolutionär in Russland gemacht hatte. Nachdem er als ranghohes Mitglied in der Verwaltung der Bolschewiki gearbeitet hatte, floh Smilg-Benario vor der Gewalt des sowjetischen Systems nach München. Dort schreibt er in seinen Büchern und Artikeln gegen die Verwirklichung des Kommunismus nach sowjetischem Vorbild an. In seinem Aufsatz Drei Wochen Münchner Räterepublik fasst er die kurze Dauer der Münchner Räterepublik zusammen:

„München war die einzige Stadt Deutschlands, in der die ‚Diktatur des Proletariats‘ zeitweilig verwirklicht worden ist. Beinahe vier Wochen bestand die Münchner Räterepublik. Eine Regierung löste die andere ab. Neue Persönlichkeiten tauchten auf und verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Die Ereignisse flogen wie Bilder in einem Lichtspiel mit fabelhafter Geschwindigkeit am Zuschauer vorüber. Mit ungeheurem Enthusiasmus proklamiert, schien es, daß sich ihr allmählich auch das ganze Land anschließen würde. Aber schon nach zwei Wochen ihres Bestehens wurde es klar, daß früher oder später die Räterepublik an innerer Fäulnis zusammenbrechen müsse.”[40]

Mit seiner zusammenfassenden Einschätzung bringt Smilg-Benario den Charakter der Münchner Räterepublik auf den Punkt: es war eine schnelllebige, ereignis- und folgenreiche Zeit. Mit dem Zusammenbruch der Räterepublik wechselt sich das politische Klientel in der Stadt: Kommunisten und linke Sympathisanten verlassen sie, während sich rechte Gruppierungen in München in Stellung bringen.  

 

Endnoten

[1] Altrichter, Helmut: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst. Paderborn 2017.

[2] Koenen, Gerd: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945. München 2005, S. 76f.

[3] Zarusky, Jürgen: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeptionen 1917-1933. München 1992.

[4] Mitchell, Allan: Revolution in Bayern 1918/1919. Die Eisner-Regierung und die Räterepublik. München 1967, S. 80-92.

[5] Krull, Germaine: La vie mène la danse. Nachlass Germaine Krull, Fotografische Sammlung im Museum Folkwang. Essen 1981, S. 48.

[6] Köglmeier, Georg: Die Zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19. Legitimation – Organisation – Funktion. München 2001, S. 40.

[7] Hirte, Chris / Otten, Uschi (Hgg.): Zenzl Mühsam. Eine Auswahl aus ihren Briefen. Lübeck 1995.

[8] Mitchell, Allan: Revolution in Bayern 1918/1919, S. 80-92 [vgl. Anm. 4].

[9] Günther, Egon: Hilde Kramer. Rebellin in München, Moskau und Berlin, Autobiographisches Fragment 1900-1924. Berlin 2011, S. 50.

[10] Gusenbauer, Ernst: Das Modell der Rätedemokratie und die Münchner Räterepublik des Jahres 1919. Berlin 2004, S. 101.

[11] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19, S. 109 [vgl. Anm. 6].

[12] Mitchell: Revolution in Bayern 1918/1919, S. 80-92 [vgl. Anm. 4].

[13] Ebd.

[14] Mertens, Ursula: Die Rätebewegung in Bayern (1918/19). Nürnberg 1984, S. 94f.

[15] Klemperer, Victor: Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Bonn 2016, S. 94.

[16] Dieckmann, Christoph: „Jüdischer Bolschewismus“ 1917-1921. Überlegungen zu Verbreitung, Wirkungsweise und jüdischen Reaktionen, in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.): Holocaust und Völkermord. Die Reichweite des Vergleichs. Frankfurt / Main 2012, S. 55-81, hier S. 57; Budnitskii, Oleg: The Jews and Revolution. Russian Perspectives, 1881-1918, in: East European Jewish Affairs, 38/3 (2008), S. 321-334.

[17] Viesel, Hansjörg: Literaten an der Wand. Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller. Frankfurt / Main 1980, S. 669.

[18] Viesel: Literaten an der Wand, S. 173 [vgl. Anm. 17].

[19] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19, S. 321 [vgl. Anm. 6].

[20] Leviné, Eugen: Auch eine Räterepublik!, in: Viesel: Literaten an der Wand, S.419 [vgl. Anm. 17].

[21] Kreiler, Kurt: Die Schriftstellerrepublik: zum Verhältnis von Literatur und Politik in die Münchner Räterepublik. Ein systematisches Kapitel politischer Literaturgeschichte. Berlin 1978.

[22] Mitchell: Revolution in Bayern, S. 277f. [vgl. Anm. 4]; Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19, S. 344-346 [vgl. Anm. 17].

[23] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19, S. 352f., 475, 478 [vgl. Anm. 6].

[24] Karl, Josef: Die Schreckensherrschaft in München und Spartakus im bayrischen Oberland. Nach amtlichen Quellen aufgezeichnet. München 1919, S. 192.

[25] Staatsarchiv München. Akten der Polizeidirektion München. Leviné-Niessen. 10110, S. 6.

[26] Baur, Johannes: Die russische Kolonie in München 1900-1945. Deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1998, S. 55.

[27] Roos, Walter: Die Rote Armee der bayerischen Räterepublik in München 1919. Heidelberg 1998, S. 109.

[28] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien, S. 358 [vgl. Anm. 6].

[29] Wollenberg, Erich: Als Rotarmist vor München. Berlin 1929, S. 26 ff.

[30] Ebd., S. 41.

[31] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien, S. 391 [vgl. Anm. 6].

[32] Sheppard, Richard: Die Protokolle von zwei Sitzungen des Revolutionären Zentralrats in München am 12. und 16. April 1919, in: Görres-Gesellschaft (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 33. Berlin 1992, S. 209-275, hier S. 253f.

[33] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien, S. 393 [vgl. Anm. 6].

[34] Baur, Johannes: Die russische Kolonie in München 1900-1945, S. 57 [vgl. Anm. 25].

[35] Köglmeier: Die Zentralen Rätegremien, S. 392f. [vgl. Anm. 6].

[36] Meyer-Leviné, Rosa: Leviné. Leben und Tod eines Revolutionärs. Frankfurt/Main 1974, S. 125f.

[37] Roos, Walter: Die Rote Armee der Bayerischen Räterepublik in München 1919. Heidelberg 1998, S. 127f.

[38] Kersten, Kurt: Der Tote auf Urlaub, in: Viesel: Literaten an der Wand, S. 462 [vgl. Anm. 17].

[39] Karl, Michaela: Die Münchener Räterepublik. Porträts einer Revolution. Düsseldorf 2008, S. 229.

[40] Smilg-Benario, Michael: Drei Wochen Münchner Räterepublik. Berlin 1919, S. 14 ff.

Autorinnen und Autoren

David Khunchukashvili, Natalja Kliewer, Maja Lisov, Carolin Piorun, Bojana Rikić, Philipp Türmer und Beate Winterer

Bearbeitung: Natalja Kliewer und Carolin Piorun