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Das Russische Reich, Ende des 19. Jahrhunderts: Vladimir Il’ič Ul’janov, besser bekannt unter seinem späteren Pseudonym Lenin, und Julij Martov, der spätere Sprecher der Fraktion der Menschewiki, entwickeln die Idee einer revolutionären Zeitung für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). In den Jahren 1900 bis 1902 ist München der Redaktionssitz der Iskra (dt.: der Funke). Hier entwickelt das Team um Lenin die Zeitung zu einem zentralen Medium der russischen revolutionären Bewegung.
„Eine Zeitung“, schreibt Lenin 1901 in der vierten Ausgabe der Iskra, „ist nicht nur ein kollektives Propagandainstrument oder ein kollektiver Agitator, sie ist auch ein kollektiver Organisator“.[1] Die Iskra soll also weit mehr Aufgaben erfüllen, als Nachrichten und ideologische Propaganda zu verbreiten – ihre Ziele sind klar politisch: Die Zeitung soll die verschiedenen Strömungen der marxistischen Arbeiterbewegung in Russland und die zersplitterte revolutionäre Bewegung vereinigen.[2] Andere linksorientierte Presseerzeugnisse sollen verdrängt werden, um die Iskra als einzige Zeitung der marxistischen Bewegung zu etablieren.
Neben der Iskra rufen Lenin und seine Mitstreiter auch die Zeitschrift Zarja (dt.: Morgenröte) ins Leben. Sie soll den wissenschaftlich-politischen Gegenpart zum Nachrichtenmedium Iskra einnehmen.
Die inhaltlichen Ziele der beiden Presseorgane formuliert Lenin folgendermaßen:
„In ihnen [Iskra und Zarja] muß den theoretischen Fragen, d. h. sowohl der allgemeinen Theorie des Sozialdemokratismus als auch ihrer Anwendung auf die russische Wirklichkeit, viel Platz eingeräumt werden [...]. Ferner machen wir uns die systematische Erörterung aller politischen Fragen zur Aufgabe: die sozialdemokratische Arbeiterpartei muß auf alle Fragen reagieren, die das Leben auf allen Gebieten aufwirft, auf Fragen sowohl der inneren als auch der internationalen Politik, und wir müssen bestrebt sein, zu erreichen, daß sich jeder Sozialdemokrat und jeder klassenbewußte Arbeiter in allen grundlegenden Fragen eine bestimmte Meinung bildet – ohne diese Bedingung ist eine breitangelegte und planmäßige Propaganda und Agitation unmöglich.“[3]
Ebenso soll die Arbeit an den Presseorganen zur Entwicklung eines Parteiprogramms für die SDAPR beitragen.[4] Auf der Themenliste stehen russische Geschichte, Gesellschaftsanalysen, Tagespolitik, Ökonomie und der Kampf der Bauern für die Abschaffung der Feudalwirtschaft und des Großgrundbesitzes.
Von der erfolgreichen Umsetzung dieser Ziele verspricht sich Lenin eine Mobilisierung der Arbeiterschaft:
„Eine solche Propaganda kann und muß, wenn sie von allen einzelnen Gruppen und allen erfahreneren Genossen unterstützt wird, dazu führen, daß aus jungen Sozialisten und Arbeitern tüchtige Führer der revolutionären Bewegung herangebildet werden, die imstande sind, alle Hindernisse, die das Joch des autokratischen Polizeistaates unserer Arbeit entgegenstellt, zu überwinden und allen Anforderungen der spontan zum Sozialismus und zum politischen Kampf drängenden Arbeitermasse zu genügen.“[5]
Vor der Herausforderung, die verschiedenen revolutionären Bewegungen zusammenzuführen, steht die Redaktion der Iskra ebenso intern, denn auch hier müssen verschiedene Positionen erst zusammenfinden. Lenin teilt seine Pläne bereits 1895 mit der Gruppe Befreiung der Arbeit (Osvoboždenie truda). Diese besteht im Kern aus Pavel Aksel’rod, Georgij Plechanov und Vera Zasulič, die sich bereits mit unterschiedlichen politischen Aktivitäten im Russischen Reich einen Namen gemacht hatten und nun in Genf im Exil leben. Sie zählen aufgrund ihrer Erfahrungen zur „älteren“ Generation der Redaktion. Zur „jüngeren“ Generation gehören die Aktivisten des Kampfbundes für die Befreiung der Arbeiterklasse (Sojuz bor’by za osvoboždenie rabočego klassa). Unter ihnen formen Lenin, Martov und Aleksandr Potresov eine Dreiergruppe, die den publizistischen Kern der Iskra bilden soll.[6]
Die Gründung der Iskra verläuft jedoch nicht spannungsfrei. Bereits bei Gesprächen in Genf 1895 kommt es zum Konflikt zwischen Lenin und Plechanov. Plechanov fordert den Posten des Chefredakteurs sowie mehr Stimmgewicht bei Entscheidungen, was Lenin als Verrat an seinem eigenen Führungsanspruch auffasst.[7] Der Konflikt führt beinahe zum Scheitern des Zeitungsprojekts und belastet die Arbeit der Redaktion auch in den folgenden Jahren.
München wird 1899 als Standort der Redaktion festgelegt. Die bayerische Hauptstadt stellt einen der wenigen Orte dar, der über ein geeignetes Netzwerk zur politischen Agitation verfügt. Zugleich ist die Gefahr, von den Behörden entdeckt zu werden, in München weitaus geringer als beispielsweise im Zarenreich, wo die Revolutionäre bereits bekannt sind. Die räumliche Distanz zu Plechanov und Aksel’rod, die in der Schweiz geblieben sind, soll außerdem die Spannungen innerhalb der Redaktion reduzieren. Auf Empfehlung August Bebels, Mitbegründer der organisierten deutschen Sozialdemokratie und Bekannter Lenins, wird der Standort München außerdem mit der Aussicht auf Unterstützung seitens der deutschen Sozialdemokraten gewählt.[8] Diese bieten nicht zuletzt ihre Hilfe bei der Unterbringung der Exilanten an und stellen Kontakte zu Druckereien her. Mit Ausnahme der ersten Nummer, die in Leipzig gedruckt wird, werden alle Ausgaben bis Juni 1902 in einer Druckerei der Münchner Sozialdemokraten und in Aleksandr Parvus’ Privatwohnung produziert.[9]
Trotz dieses großen Netzwerks ziehen es die Mitglieder der Iskra vor, als eingeschworene Gruppe unter sich zu bleiben, wie sich Lenins Ehefrau Nadežda Krupskaja später erinnert: „Das lokale Leben fesselte unsere Aufmerksamkeit nur wenig. Wir nahmen nur als Beobachter daran teil. Wir gingen zwar manchmal auch in Versammlungen, aber sie waren im Allgemeinen nur wenig interessant.“[10]
Dies ist auch dem hohen Maß an Geheimhaltung geschuldet, auf das die Redaktion in München angewiesen ist, um von deutschen und russischen Behörden unbehelligt zu bleiben. Sämtliche Korrespondenz Lenins läuft über eine Kontaktperson in Prag, um seinen Aufenthaltsort zu verschleiern.[11] Decknamen und Deckadressen werden in unregelmäßigen Abständen geändert, alle Redaktionsmitglieder besitzen gefälschte bulgarische Pässe.[12] Als Redaktionssitz dienen Privatwohnungen. Die Tarnung der Redaktion funktioniert so gut, dass sie sogar ihren eigenen Mitgliedern Probleme bereitet: Als Lenins Ehefrau Nadežda Krupskaja nach dem Ende ihrer Verbannung 1901 zur Iskra-Gruppe in München stoßen will, kann sie ihren Mann zunächst nicht finden, da sie den aktuellen Decknamen nicht weiß.[13]
Lenin fungiert vor allem als ideologischer Kopf und Autor zahlreicher Beiträge für die Iskra und sorgt gemeinsam mit Aleksandr Potresov für die Finanzierung der Zeitung. Unterdessen kümmert sich Martov um die Öffentlichkeitsarbeit in Europa und die Agentennetze der Redaktion in Süddeutschland. Seine Wohnung in der Occamstraße 1 wird als Treffpunkt mit auswärtigen Besuchern genutzt. Für den Druck der ersten Ausgaben und als Redaktionstreffpunkt stellt Parvus seine Wohnung in Schwabing zur Verfügung. Er organisiert zudem den Schmuggel der Zeitung nach Russland.
Jedoch gestaltet sich die Zusammenarbeit keineswegs reibungslos. Potresov ist krankheitsbedingt meist abwesend. Zudem strapazieren stundenlange Debatten und zahlreiche größere und kleinere Konflikte in den Redaktionssitzungen das Nervenkostüm der Beteiligten. Vor allem Lenin sieht die Arbeitslast auf seinen eigenen Schultern liegen:
„Das alte Sechserkollegium war so wenig arbeitsfähig, daß es im Laufe von drei Jahren kein einziges Mal in vollem Bestande zusammentrat [...]. Von den 45 Nummern der ‚Iskra’ ist keine einzige [...] von jemand anderem zusammengestellt worden als von Martow oder Lenin. Und außer Plechanow hat kein einziges Mal jemand eine wichtige theoretische Frage aufgeworfen. Axelrod hat überhaupt nicht mitgearbeitet [...]. Sassulitsch und Starower [Deckname für Potresov] beschränkten sich auf Beiträge und Ratschläge, ohne jemals ausgesprochen redaktionelle Arbeit zu leisten.“[14]
Um die Aufrechterhaltung der Harmonie in der Gruppe ist in erster Linie eine Frau bemüht: Vera Zasulič. Sie versteht es, zwischen Lenin und den übrigen Mitgliedern zu vermitteln. Ihre Mitarbeit bei der Iskra ist für die revolutionäre Bewegung in Russland von großer Bedeutung, denn in diesen Kreisen ist Zasulič eine Legende: Im Jahr 1878 hatte sie ein Attentat auf den unter Revolutionären verhassten General Fedor Trepov, den Gouverneur von St. Petersburg, verübt. Zasulič identifiziert sich stark mit der Arbeit an der Iskra, wie Krupskaja sich erinnert: „Sie [Zasulič] hielt sich mit uns in München und London auf, teilte mit der Redaktion der ‚Iskra‘ Leid und Freud, und die Nachrichten aus Rußland füllten ihr ganzes Leben aus.“[15] Diese emotionale Bindung an die Redaktion und die damit verbundene Angst vor deren Zerbrechen lässt sie gleichsam zu einer Mediatorin innerhalb der Gruppe werden.
Nadežda Krupskaja übernimmt unterdessen konspirative und organisatorische Aufgaben der Redaktion. Mit dem sozialistischen Untergrund Russlands unterhält sie außerdem einen regen Briefverkehr, was sie zu einem wichtigen Knotenpunkt der revolutionären Bewegung macht. Dazu trägt ihre Strategie entscheidend bei, den geheimen Inhalt der Briefe mittels einer speziellen Tinte, die erst durch eine chemische Reaktion sichtbar wird, zu verschlüsseln.[16] Auch beim Schmuggel der Zeitung selbst entwickelt Krupskaja geschickte Methoden: Sie stattet Korsetts mit Innentaschen aus, die bis zu hundert Ausgaben der Zeitung fassen können. Denn im Gegensatz zu Koffern, die stets an der Grenze kontrolliert werden, dürfen in Russland Leibesvisitationen nur mit Sondergenehmigung vorgenommen werden. Das Netzwerk, das den Schmuggel der Iskra ins Russische Reich ermöglicht, entsteht in Kooperation mit vertrauenswürdigen Anhängern der deutschen Sozialdemokratie und bringt die Zeitung über Galizien und Preußen, später sogar auf dem Seeweg über Marseille unter anderem bis in den Kaukasus.[17]
Die steigende Popularität der Iskra bringt jedoch auch unerwünschte Aufmerksamkeit mit sich. Die bayerische Polizei erfährt bald von dem politischen Einfluss und der revolutionären Agitation der Redaktion. Zudem befürchten die involvierten Druckereien, ihre eigene Sicherheit durch eine weitere Zusammenarbeit zu riskieren. So beschließen die Iskra-Mitglieder im Frühjahr 1902, die Zeitungsredaktion nach London zu verlegen. Dort treten bisher weitgehend unterdrückte Spannungen offen zutage: Beim zweiten Parteitag der SDAPR kommt es zum ideologischen Bruch der Partei in Menschewiki und Bolschewiki und damit auch zur Spaltung der Iskra-Redaktion. Lenin wird zum erbitterten Gegner der Zeitung, die schließlich ihr Erscheinen einstellen muss.
Der Aufenthalt der Iskra-Redaktion in München ist nur von kurzer Dauer und doch werden diese Jahre im Nachhinein von ihren Mitgliedern als eine „Goldene Zeit“ betrachtet. Denn allein im Zeitraum von Dezember 1900 bis November 1903 erscheinen 51 Nummern, 21 davon werden in München produziert. Mit einer Auflage von 6.000 bis 8.000 pro Ausgabe – rechnet man Nachdrucke in Russland ein, sogar 30.000 bis 35.000 – findet die Untergrundzeitung eine enorme Leserschaft.[18] In persönlichen Erinnerungen, beispielsweise denen Krupskajas, wird die Zeit in München verklärt:
„Diese Münchner Zeit blieb uns stets in angenehmer Erinnerung. Die darauffolgenden Jahre der Emigration waren für uns viel härter. In den Münchner Jahren waren die persönlichen Beziehungen zwischen Wladimir Iljitsch, Martow, Potressow, und Wera Sassulitsch noch nicht durch wesentliche Differenzen beeinträchtigt. Alle richteten ihre Kräfte auf das gemeinsame Ziel – die Herausgabe einer gesamtrussischen Zeitung. In der Arbeit für die ‚Iskra‘ schlossen sich die Kräfte zusammen.“[19]
Wie stark der Einfluss der Zeitung auf die revolutionäre Entwicklung im Zarenreich ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Die für eine Untergrundzeitung große Auflage und Verbreitung ist jedoch erstaunlich. Aus einer Korrespondenz zwischen Lenin und einem befreundeten Arbeiter geht hervor, dass die Zeitung unter russischen Arbeitern großen Anklang fand: „Was die ‚Iskra’ betrifft, so gefällt sie in Iwanowo-Wosnessensk der Arbeitermasse am besten, aber alle geben zu, daß die Darlegung in der ‚Iskra’ schwieriger ist, als in der ‚Rabotschaja Mysl’ [Arbeitergedanke], keiner konnte sagen, welcher Artikel der beste ist, man meint sogar, alles sei gut“.[20]
Doch noch aus einem weiteren Grund ist die Münchner Zeit für die Entwicklung der SDAPR wichtig: Denn hier arbeitet Lenin an seinem Werk Was tun? (Čto dělat‘?), das später zur ideologischen Grundlage der Bolschewiki werden sollte. Dafür recherchiert er in der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek zu München nicht nur zum Russischen Reich, sondern auch zu Eigentumsverhältnissen und Konflikten in ganz Europa.[21] In Was tun? entwickelt Lenin Gedanken weiter, die er zuvor in verschiedenen Aufsätzen in der Iskra – zum Beispiel Womit beginnen? (S čego načat‘?) aus dem Mai 1901 – in der Iskra veröffentlicht hatte. Zentrale Theorien seiner Ideologie, etwa die des „demokratischen Zentralismus“ oder der „Avantgarde des Proletariats“, sowie die Idee einer Kaderpartei von Berufsrevolutionären führt Lenin in diesem Werk aus. Was tun? ist eine der ersten Publikationen, die unter dem Pseudonym Lenin erscheinen.
Lenin selbst jedenfalls schreibt der Iskra eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Arbeiterpartei zu: „Keine andere Organisation außer der ‚Iskra‘ wäre unter unseren historischen Verhältnissen, im Rußland der Jahre 1900-1905, imstande gewesen, eine solche sozialdemokratische Arbeiterpartei zu schaffen, wie sie jetzt geschaffen ist.“[22]
[1] Iskra Nr. 4, Mai 1901, zit. n. Vodin, M.: Leninskaja Iskra (1900-1903 godu). Moskva 1964, S. 31.
[2] Lenin, Vladimir I.: Entwurf einer Ankündigung der Redaktion der „Iskra“ und „Sarja“, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4. Berlin 1955, S. 317-319.
[3] Ebd., S. 320.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 321.
[6] Hitzer, Friedrich: Lenin in München. Dokumentation und Bericht. München 1977, S. 184f.
[7] Ebd., S. 188f.
[8] Hitzer: Lenin in München, S. 188f. [vgl. Anm. 6].
[9] Baur, Johannes: Die russische Kolonie in München 1900-1945. Deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1998, S. 32.
[10] Krupskaja: Erinnerungen an Lenin, S. 77 [vgl. Anm. 8].
[11] Hitzer: Lenin in München, S. 189 [vgl. Anm. 6].
[12] Ebd., S. 205.
[13] Ebd., S. 202f.
[14] Lenin, W. I.: Schilderung des II. Parteitags der SDAPR. In: Ders.: Werke. Bd 7. September 1903-Dezember 1904. Berlin 1973, S. 5-21, hier S. 17.
[15] Krupskaja: Erinnerungen an Lenin, S. 61 [vgl. Anm. 8].
[16] Hitzer: Lenin in München, S. 214 [vgl. Anm. 6].
[17] Ebd., S. 222.
[18] Ebd., S. 226.
[19] Kruspkaja: Erinnerungen an Lenin, S. 76 [vgl. Anm. 8].
[20] Hitzer: Lenin in München, S. 222 [vgl. Anm. 6]
[21] Ebd., S. 245.
[22] Lenin, W. I.: Vorwort zum Sammelband „12 Jahre“. In: Ders.: Werke. Bd. 13. Juni 1907-April 1908. Berlin 1963, S. 86-105, hier S. 96 (Hervorhebungen von Lenin).
Oleg Friesen, Rita Gagica, Blerina Kelmendi, Pavle Sachenbacher
Bearbeitung: Judith Brehmer unter Mitarbeit von Olga Zoll