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„Kamerad Zenzl“ – die politische Aktivistin Kreszentia Mühsam

Als 1905 die Revolution im russischen Zarenreich scheitert, fliehen zahlreiche ihrer Anhänger ins Ausland. Auch in München stranden etliche. Dort trifft Kreszentia Mühsam auf russische Emigranten, die mit schwermütigen Liedern ihrer getöteten und verbannten Kameraden gedenken.[1] Diese Erinnerung wird für sie zu einem häufigen Bezugspunkt in späteren Jahren, als die Münchner Räterepublik bereits blutig niedergeschlagen ist und ihr Ehemann Erich wegen seiner führenden Rolle zu 15 Jahren Haft verurteilt wird.

Kreszentia erlebt die revolutionären Umstürze hautnah mit, ist sie doch mit dem Schriftsteller und Mitglied des Zentralrats der Münchner Räterepublik Erich Mühsam verheiratet. Sie teilt seine Weltanschauung und ist selbst politisch aktiv. Nach der Niederschlagung der Räterepublik engagiert sich Kreszentia Mühsam für politische Gefangene und ist Mitglied der Kommunistischen Internationalen (Komintern). Die sowjetische Staatsform ist dabei das zu erreichende Ideal – die Begeisterung wandelt sich allerdings im erzwungenen Exil nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Als Hüterin des brisanten Nachlasses Erich Mühsams über die Münchner Räterepublik gerät Kreszentia 1936 ins Visier des NKVD (Narodnyj Komissariat Vnutrennich Del / Volkskommissariat für innere Angelegenheiten). Sie wird verhaftet, gefoltert, verbringt Jahre in GULag und Verbannung, ehe sie in die DDR übersiedeln darf.

 

Revolutionärer Geist in München

1884 wird Kreszentia Elfinger als Tochter verarmter Bauern in Haslach geboren. Um 1900 kommt Zenzl, wie sie auch genannt wird, nach München, wo sie als Dienstmädchen ihren Lebensunterhalt verdienen soll. Nach der Geburt ihres Sohnes[2] gibt ihr der behandelnde Arzt Goethes Faust und Heines Buch der Lieder zu lesen. Für Kreszentia ist es ein Moment der Offenbarung und sie beginnt, sich den Schwabinger Künstlerkreisen anzunähern, wo sie den Schriftsteller Erich Mühsam kennenlernt. Im Juli 1915 beziehen Kreszentia Elfinger und Erich Mühsam die erste gemeinsame Wohnung in der Görresstraße 8 in München.[3] Am 15. September 1915 erfolgt die standesamtliche Eheschließung, auch um der seit einiger Zeit drohenden Anzeige wegen Konkubinats zu entgehen. Ab Oktober in der Georgenstraße 105 wohnhaft, schart das Paar revolutionäre Kreise um sich. Der dänische Schriftsteller Martin Andersen Nexö beschreibt die Beziehung und die Atmosphäre in der Wohnung wie folgt:

„Von außen waren sie so verschieden wie überhaupt möglich: sie durch und durch Land und freier Himmel, er die Großstadt mit Ästhetik und Bücherlust. Und dennoch passten sie zusammen, bildeten ein seltenes Beispiel der Kameradschaft. Ihr Geist war ebenso revolutionär wie seiner. Aus der Küche warf sie wie helle Funken ihre Bemerkungen in die Diskussion, deren Teilnehmer waren revolutionäre Künstler, revolutionäre Arbeiter, dieser und jener aufrührerische Soldat. Unbewusst hatten sie um sich herum eine Welt geschaffen, in der man die Luft einer neuen Zeit schon atmete.“[4]

Das Ehepaar beteiligt sich an der Novemberrevolution 1918 in München. Kreszentia beschreibt die Ereignisse der Nacht vom 7. auf den 8. November in einem Brief an Andersen Nexö. Zusammen mit Erich Mühsam und zwei Russen[5], mit denen er im Frühjahr 1918 während seiner Festungshaft in Traunstein Bekanntschaft geschlossen hatte, nimmt Zenzl an einer politischen Versammlung auf der Theresienwiese teil. Nach den Reden von Kurt Eisner, Erhard Auer u. a. zieht die kleine Gruppe zur Türkenkaserne, die Soldaten gerade stürmen wollen, um das königliche Leibregiment zu überwältigen. Zenzl Mühsam berichtet:

„Wir kamen gerade in diesem kritischen Moment, ich sprang auf das Verdeck des Autos, nahm die rote Fahne und schrie Hoch der Friede und die Revolution, die Soldaten kamen zurück […] und dann zogen wir Mühsam rauf, der eine wundervolle Rede an die Soldaten richtete, da stürmten die Soldaten aus der Kaserne, zerschlugen ihre Gewehre auf dem Pflaster, und mit Hurra verließen diejenigen die Kaserne, die ausbrechen konnten, es waren nämlich alle Soldaten in den Kasernen eingesperrt.“[6]

Der Sturz der Monarchie und die Ausrufung des Freistaates Bayern geht den Mühsams und ihren Gesinnungsgenossen nicht weit genug. Erich Mühsam proklamiert mit Ernst Toller und Gustav Landauer am 7. April 1919 die erste Münchner Räterepublik. Seine Rolle in der revolutionären Bewegung in Bayern ist ausgiebig beschrieben worden und seine Bedeutung u. a. als Mitglied des Revolutionären Zentralrats unumstritten.[7] Kreszentia begleitet ihn zu Kundgebungen und Versammlungen und erlebt die politischen Umwälzungen hautnah mit. Zenzls aktive Beteiligung bringt ihr Achtung und Respekt ein, Ernst Toller verleiht ihr den wertschätzenden Titel „Kamerad Zenzl“[8]. Doch sie gerät auch ins Visier der Feinde der Räterepublik und der Regierungstruppen. Als die „Weiße Garde“ in München einmarschiert, die erste Räterepublik im Zuge des Palmsonntagsputsches gewaltsam beendet und Erich Mühsam am 13. April verhaftet wird, findet sie Zuflucht bei Verbündeten. Doch die geplante Flucht aus der Stadt misslingt: Kreszentia Mühsam wird verhaftet und nur die Intervention des befreundeten Professors von Aster verhindert eine sofortige Erschießung. Erich Mühsam schildert die Ereignisse – von denen er erst Wochen später durch Zenzl in Kenntnis gesetzt werden kann – in seinem Tagebuch:

„Ein Verhör von vormittags um 11 bis nachts um vier Uhr vor preußischen Offizieren, während man sie die ganze Zeit im Glauben hielt, ich sei schon erschossen worden. Und an ihr selbst ist der Tod ganz ganz nahe vorbeigestreift, denn der ‚Bayerische Kurier‘ hatte an diesen Tagen einen Artikel gebracht, der ihr Frauentum in den Kot zog und die Behauptung enthielt, sie habe in Person aus dem Fenster unsrer Wohnung herausgeschossen.“[9]

Die Anklage, Frau Mühsam hätte mit russischen Bolschewiki aus ihrer Wohnung auf „weiße“ Truppen geschossen, kann nicht aufrechterhalten werden. Zenzl kommt frei, ist jedoch stadtbekannt und lebt in den folgenden Monaten und Jahren in ständiger Bedrohung durch radikalisierte politische Gegner.

 

Nach der Niederschlagung der Räterepublik: Münchner Netzwerke und transnationale Verbindungen

Im Juli 1919 wird Erich Mühsam wegen seiner führenden Rolle in der Münchner Räterepublik zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt – die Anklage lautet: Hochverrat. Kreszentia fungiert nun als Literaturagentin und Vertreterin ihres Mannes, kümmert sich jedoch auch um gleichgesinnte politische Gefangene. Zusammen mit Hilde Kramer besucht sie Tovia Akselʼrod, einstiges Mitglied der Münchner Räteregierung, im Gefängnis in Berlin-Moabit. Sie trifft sich ebenfalls mit dem Revolutionär Karl Radek, ein wichtiges Verbindungsglied zwischen deutschen und russischen kommunistischen Kreisen. Ihren Aufenthalt bei Erichs Familie in Berlin Ende Dezember 1919 bis Anfang Februar 1920 nutzt Zenzl, um Kontakte zu Rechtsanwälten, Verlegern und Unterstützern einer Amnestiekampagne zur Befreiung der Räterevolutionäre herzustellen.[10] Ihre politischen Aktivitäten sind vielfältig: Sie besucht eine syndikalistische Buchhandlung sowie eine Feier der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und liest deren Parteizeitung Rote Fahne.[11] Wieder zurück in München schreibt Zenzl einen Aufruf für die anarchistische Zeitschrift Kampf, um Geld für einen Kranz zu Ehren des ermordeten Gustav Landauer zu sammeln.[12] Mit Hilfe von Chiffren in der Briefkorrespondenz übermittelt sich das Ehepaar politisch brisante Informationen, wenn ein unbeobachteter Austausch bei Besuchen im Gefängnis verhindert wird.[13]

Am 21. April 1920 schreibt Zenzl ihrem Mann, dass öffentlicher Protest momentan zwecklos sei und führt aus:

„Die Gewalt haben nun einmal Menschen, die eine Freude daran haben, die Menschen zu quälen, nur da schon die Menschen am Geschichtlichen hängen, dürften diese Leute sich nur einmal in die Geschichte der russischen Revolution von 1905 vertiefen, und sie würden sehen, was es für eine Wirkung hat, Gewalt vor Recht zu setzen. Es ist nun einmal so, das Mitleid erwacht dann in Tausenden, den Vorteil, wenn man es so ausdrücken kann, haben immer die Unterdrückten, nie hat ein Tyrann wirkliche Menschen als Anhänger. So, Erich, müssen auch wir diese Epoche überleben, und heute verstehe ich die russischen Studenten von 1906, die in ihrer Wohnung zusammensaßen und schwermütige Lieder zur Balalaika sangen, mir waren sie als junges Ding unheimlich, ja sie dachten eben an ihre Gefangenen in Sibirien und an jene, die sterben mußten.“[14]

Zenzl sieht die Situation in Bayern nach der Niederschlagung der Räterepublik an einem vergleichbaren Punkt der Geschichte wie das Russische Reich nach der gescheiterten Revolution 1905 und erhofft sich einen späteren Erfolg revolutionärer Ideen. Sowjetrussland, das als politischer Bezugspunkt und Maßstab dient, wird 1920 für Zenzl zum Ideal: „Rußland steht für mich außer Kritik.“[15] Begeistert liest sie Lenin aus nächster Nähe von Josef Eisenberger, der die Leistungen der Bolschewiki in Petrograd (heute St. Petersburg) beschreibt,[16] rezipiert revolutionäre Denker wie Pëtr Kropotkin[17], verfolgt Zeitungsmeldungen zu Entwicklungen in Sowjetrussland und verehrt die Kulturpolitik des sowjetrussischen Volkskommissars für Bildungswesen Anatolij Lunačarskij.[18]

In der Wohnung der Mühsams finden entlassene Revolutionäre einen ersten Unterschlupf nach ihrer Haft. Zenzl spricht auf Versammlungen und macht die Haftbedingungen publik, organisiert Hilfsaktionen für die Frauen politischer Gefangener. Ihr andauernder Einsatz für die Verbesserungen der Haftbedingungen machen sie zur „Mutter der politischen Gefangenen“[19]. Sie sammelt Spenden für die Opfer der Hungerkatastrophe in der Sowjetunion 1921/22.[20] Daraufhin lädt Elena Stasova – eine russische Revolutionärin, Vorsitzende der Internationalen Roten Hilfe (MOPR – Meždunarodnaja Organizacija Pomošči borcam Revoljucii), ehemalige Sekretärin Lenins und zu dieser Zeit die Verbindungsfrau der Komintern in Berlin – Zenzl Mühsam zum Internationalen Kongress der Roten Hilfe 1921 nach Berlin ein.[21]

Am 28. April 1921 schreibt Zenzl Mühsam an Lenin und bittet um Unterstützung: Sie erkundigt sich nach Möglichkeiten, Erich nach Sowjetrussland zu bringen und ihr finanzielle Mittel zukommen zu lassen, da die Wohnung des Ehepaares im Zuge der Niederschlagung der Räterepublik geplündert und verwüstet wurde. Ein weiteres wichtiges Thema des Briefes sind die Schriften ihres Mannes:

„Ich möchte auch von kompetenter Stelle erfahren, ob die Broschüre Einigung des Proletariats im Bolschewismus angekommen ist, ebenso die Arbeit über die bayerische Räteregierung und sein Arbeiterdrama Judas.[…] Die Broschüre Einigung des Proletariats habe ich rausgeschmuggelt, auch die Räteregierungsarbeit. Denunziert bin ich worden, und ich weiß nicht, ob ich meinen Mann wiedersehen kann. Ich will hier das nur alles anführen, damit Sie, Genosse Lenin, ein kleines Bild von dem erhalten, wie es bei uns zugeht. […] Der Genosse Petermeier kann über die ganze Lage und Gesinnung Auskunft geben.“[22]

Zenzl Mühsam schmuggelt die im Gefängnis verfassten Texte heraus und schickt einige von ihnen nach Sowjetrussland. Die Arbeit über die bayerische Räterepublik[23] ist „zur Aufklärung an die Schöpfer der russischen Sowjetrepublik zu Händen des Genossen Lenin“[24] bestimmt. Karl Petermeier, während der Räterepublik Adjutant des Stadtkommandanten von München, bringt Zenzls Brief sowie den Gedichtband Brennende Erde persönlich nach Sowjetrussland. Dieser Gedichtband enthält die Räte-Marseillaise und 1919. Dem Andenken Gustav Landauers und ist Zenzl gewidmet. Diese Widmung beschreibt die Rolle und die Bedeutung Zenzl Mühsams vielleicht am besten: „Dem treuesten Kameraden, dem tapfersten Kampfgenossen, der Gefährtin in Glück und Not – meiner Zenzl zugeeignet.“[25]

1923 wird die Lage in Bayern immer prekärer – rechte und antisemitische Hetze und polizeiliche Überwachung gefährden die bekannte Aktivistin. Kreszentia Mühsam zieht nach Berlin und verstärkt ihre Bemühungen für politische Gefangene: „Am 11.10. muss ich in Köpenick sprechen vor ungefähr 5.000 Arbeitern, Pieck und ich werden reden. […] Wenn Erich nicht kommen sollte, dann reise ich mit Toller durch ganz Deutschland, wir beide sind eine leise Sensation. Also das wird für die Gefangenen ausgenützt.“[26] Am 20. Dezember 1924 kommt Erich Mühsam im Zuge einer Amnestie vorzeitig frei und siedelt ebenfalls nach Berlin über.

 

Flucht, Exil und Großer Terror – die Sache mit dem Nachlass Erich Mühsams

Auch an ihrem neuen Wohnort schart das Ehepaar linksoppositionelle Kreise um sich. Erich Mühsam ist daher nach der Machtergreifung Hitlers 1933 einer der ersten Inhaftierten. Kurz vor seiner Ermordung am 10. Juli 1934 erzwingt Zenzl einen Besuch im KZ Oranienburg. Seine letzten Worte, die er ihr zuflüstern kann, lauten: „Mach das Ausland mobil! Wir sind alle in Gefahr.“[27] So berichtet es zumindest Kreszentia, die nach Prag flieht und dort Der Leidensweg Erich Mühsams verfasst, eines der ersten Zeugnisse der Grausamkeiten in deutschen Konzentrationslagern. Der ehemalige Chefredakteur der Roten Fahnein Berlin Werner Hirsch und Erich Wollenberg, der die bayerische Rote Armee im Kampf um die Verteidigung der Münchner Räterepublik mitanführte, unterstützen sie dabei, jedoch gibt es Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden. Der Druck wird schließlich durch ihre in die 1920er Jahre zurückreichende Verbindung mit Elena Stasova ermöglicht, die Zenzl eine Veröffentlichung im MOPR-Verlag in mehreren Sprachausgaben anbietet.

Ihre Lage ist dabei nicht einfach, sie gerät zwischen die Fronten verschiedener linker Gruppierung, deren fehlende Unterstützung während Erich Mühsams KZ-Haft Zenzl scharf kritisiert.[28] Sie wehrt sich gegen eine posthume Vereinnahmung ihres Mannes und tobt angesichts des Nachrufs durch den Dichter Johannes R. Becher,[29] der nationalsozialistische Sprache und die Lüge eines Selbstmords reproduziert:

„Sie haben auf ihre Weise
Sich tüchtig angestrengt,
Damit der ‚Rote Jude‘
sich endlich selbst erhängt.“[30]

Der Auftrag ihres Mannes und die Rettung seines Nachlasses werden zum wichtigsten Lebensziel seiner Witwe – und zum Politikum:

„Den Interessen der Komintern konnte es wenig dienlich sein, Mühsams detaillierte Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der Münchner Räterevolution und seine Kritik an dem Wirken kommunistischer Funktionäre in dieser Zeit dem politischen Gegner zu überlassen. Auch Mühsams umfangreiche Korrespondenz mit der Parteiprominenz und sämtlichen Fraktionen der linken Bewegung schien bestens geeignet, den parteiinternen Überwachungs- und Disziplinierungsapparat mit weiteren Informationen anzureichern, die in einer neuerlichen Welle von ‚Säuberungen‘ Belastungsmaterial gegen unliebsame Parteigenossen liefern konnten.“[31]

Elena Stasova bemüht sich, Kreszentia Mühsam für sich zu gewinnen und sie zu einer Einreise in die Sowjetunion zu bewegen. Sie stellt umfangreiche Veröffentlichungen des Nachlasses in Aussicht, und aus Mangel an Alternativen entscheidet sich Zenzl im August 1935 für diese Option – gibt den Nachlass jedoch vorher in sichere Verwahrung. In Moskau knüpft Mühsam an alte Bande mit ehemaligen Münchner Revolutionären an, trifft Hermann und Else Taubenberger, Willi Budich, Karl Petermeier und andere.[32] Ein Film über Erich Mühsam soll hier gedreht werden, unter Mitarbeit von Alexander Granach, Budich, Willi Bredel und Werner Hirsch. „Mitspielen werden Kameraden aus der Bayerischen Räterepublik“[33], berichtet Zenzl dem Ehepaar Milly Witkop und Rudolf Rocker, die als Anarchosyndikalisten 1933 in die USA geflohen waren, in einem Brief. Dazu kommt es jedoch nicht. Als der Nachlass im April 1936 in Moskau eintrifft, wird Kreszentia Mühsam wegen vermeintlicher „konterrevolutionärer Aktivitäten und trotzkistischer Verbindungen“, vor allem in Verbindung mit Erich Wollenberg[34], verhaftet. Es beginnt eine 19-jährige Odyssee mit wiederholten Verhaftungen, kurzzeitigen Freilassungen, Folter, GULag[35] und Verbannung, ehe Zenzl 1954 mit mittlerweile 70 Jahren in die DDR ausreisen darf.

Der Nachlass scheint direkt nach seinem Eintreffen in Moskau vom NKVD um die Tagebucheinträge von 1916-1919 erleichtert worden zu sein.[36] Jedenfalls fehlen diese Jahre bei der Überstellung nach Ost-Berlin an die dortige Akademie der Künste 1956 und sind bis heute verschollen. Zenzl Mühsam kämpft weiterhin für eine komplette Veröffentlichung des Nachlasses und weigert sich, die Rechte daran zu übereignen. Sie gerät ins Visier der Staatssicherheit der DDR, wird überwacht und kontrolliert.[37] 1962 überschreibt Kreszentia Mühsam auf dem Totenbett – vermutlich schon nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte – die Rechte am Nachlass der Akademie der Künste, die bis heute im Besitz der Unterlagen ist. Mittlerweile steht der Veröffentlichung Erich Mühsams Schriften nichts mehr im Wege. Doch die Tagebücher 1916-1919 als höchst interessantes Dokument der revolutionären Umstürze in Deutschland und der Münchner Räterepublik sind weiterhin verschollen.

 

Zenzl - im Schatten Erich Mühsams? Einige kritische Anmerkungen zum Forschungsstand

Der Schwerpunkt bisher erschienener biografischer Texte liegt auf der Zeit nach 1934. Kreszentia Mühsams Politisierung vor 1918 ist kaum nachzuvollziehen, da sie selbst keine Tagebücher oder Memoiren aus dieser Zeit hinterlassen hat, und erst ab 1914 in den Tagebucheinträgen Erich Mühsams vermerkt wird – zum Teil auch retrospektiv, allerdings unter anderen Gesichtspunkten. Ihre Aktivität während der Münchner Räterepublik und danach ist ebenfalls weniger detailliert dokumentiert als ihre Zeit im Exil – was auch auf verschwundene Dokumente (die Tagebücher Erich Mühsams von 1916 bis 1919, Briefe in die Festungshaft nach 1920[38]) und die Briefzensur zurückzuführen ist.

Diesem Umstand mag es geschuldet sein, dass viele biografische Darstellungen Zenzl Mühsams zuweilen dazu tendieren, zu Aktivitäten Erich Mühsams abzuschweifen.[39] Die Konzentration auf Zenzls Schicksal nach 1934 hat zur Folge, dass ein verkürztes Narrativ eines vielfältig politisch aktiven Lebens entsteht. Einer kritischen Anmerkung bedarf der Umstand, dass Aussagen Zenzls über Themen wie Liebe oder Haushalt häufig angeführt werden, während ihre Rezeption der anarchistischen Schriften Kropotkins oder Reflexionen der aktuellen politischen Ereignisse selten bis gar nicht reproduziert werden. Welches Bild entsteht von einer Frau, wenn wiederholt auf ihre Kochkünste verwiesen wird und es einem Autor eines Buches über stalinistische Verfolgung notwendig erscheint, in der Fußnote zu vermerken: „Auch im Prager Exil träumte Zenzl Mühsam davon, das Ehepaar Rocker und Emma Goldmann an der Adria bekochen zu können“[40]? Reinhard Müller nimmt hier offensichtlich Bezug auf die folgende Passage eines Briefes vom 15. April 1935: „Ich habe ihr [Emma] versprochen, daß ich nicht kompliziert sein will […] und daß […] ich so gut kochen werde, wie ich nur kann. Die Küche für die Kommune werde ich übernehmen. Ich freue mich, ans Meer zu kommen!“[41]

Nicht nur dieses angeführte Beispiel bewirkt ein verzerrtes Bild von Zenzl Mühsam – einer Frau, die man als geradlinige, kritische Netzwerkerin und Aktivistin für politische Gefangene charakterisieren kann, und die es nicht verdient, nur im Schatten ihres berühmten Mannes Erwähnung zu finden.

 

Endnoten

[1] Genaueres wie etwa konkrete Namen ließ sich nicht ermitteln.

[2] Siegfried Elfinger, Vater unbekannt.

[3] Mühsam, Erich: Tagebücher. Eintrag vom 03.07.1915. Eine Online-Edition von Hirte, Chris / Piens, Conrad, unter www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php, 08.04.2016.

[4] Zit. n. Hamann, Christoph: Die Mühsams. Geschichte einer Familie. Mit einem Beitrag von Uschi Otten. Teetz 2005, S. 171f.

[5] Die Recherche nach den von Zenzl angeführten Namen Dr. Munger (Arzt) und Rischkiwitsch (Chemiker) brachte keine Ergebnisse. Die Herausgeber der Briefe führen die Information an, dass Erich Mühsam in Traunstein „Kontakte mit ausländischen Gefangenen, darunter russischen Revolutionären, pflegte“, wozu auch Munger und Rischkiwitsch gehört haben könnten, vgl. Hirte, Chris / Otten, Uschi (Hgg.): Zenzl Mühsam. Eine Auswahl aus ihren Briefen. Lübeck 1995 S. 11,

[6] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 9 [vgl. Anm. 6].

[7] Vgl. Gerstenberg, Günther (Hg.): Erich Mühsam. Wir geben nicht auf! Texte und Gedichte. München 2003; Neubauer, Helmut: München und Moskau 1918/1919. Zur Geschichte der Rätebewegung in Bayern. München 1958, S. 50. Im Rahmen dieses Essays über Kreszentia Mühsam werden die Aktivitäten ihres Mannes – um thematisch fokussiert zu bleiben und den begrenzten Umfang optimal zu nutzen – nicht ausführlich behandelt.

[8] Vgl. Hamann: Die Mühsams, S. 172 [vgl. Anm. 4].

[9] Mühsam: Tagebücher, Eintrag vom 01.06.1919 [vgl. Anm. 3].

[10] Vgl. Hamann: Die Mühsams, S. 175 [vgl. Anm. 4]; Briefe aus diesem Zeitraum in Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 16-27 [vgl. Anm. 6].

[11] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 21-22 [vgl. Anm. 6].

[12] Ebd., S. 39.

[13] Gerstenberg: Wir geben nicht auf!, S. 60f. [vgl. Anm. 5].

[14] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 49 [vgl. Anm. 6].

[15] Ebd., S. 40.

[16] Ebd.

[17] Zu ihren Lektüren gehört ihren eigenen Angaben zufolge ein gewisser Popschin. Recherchen über den Autor haben nichts ergeben; Kreszentia Mühsam gibt Als wäre es nie gewesen von W. Popschin als Titel an. Ebd., S. 46.

[18] Ebd., S. 52.

[19] Gerstenberg: Wir geben nicht auf!, S. 10 [vgl. Anm. 5].

[20] Ebd., S. 59; Hamann: Die Mühsams, S. 175f. [vgl. Anm. 4].

[21] Hamann: Die Mühsams, S. 176 [vgl. Anm. 4]. 

[22] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, 53 [vgl. Anm. 6].

[23] Mit der Arbeit über die bayerische Räteregierung ist folgende Schrift gemeint: Mühsam, Erich: Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung der Bayerischen Räterepublik. Persönlicher Rechenschaftsbericht über die Revolutionsereignisse in München vom 7. Nov. 1918 bis zum 13. April 1919.Berlin 1929, unter reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/goToPage/bsb11126692.html, 08.04.2016 (vor 1929 Abdruck in Fortsetzungen in der Zeitschrift Die Aktion).

[24] Ebd., S.2.

[25] Mühsam, Erich: Brennende Erde. München 1920, unter ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/1660345/1/, 08.04.2016.

[26] Gerstenberg: Wir geben nicht auf!, S. 63 [vgl. Anm. 5].

[27] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 55 [vgl. Anm. 6].

[28] Otten, Uschi: Überleben für das Werk Erich Mühsams – Zenzl Mühsam in der Falle des Exils, in: Barck, Simone / De Rudder, Anneke / Schmeichel-Falkenberg, Beate (Hgg.): Jahrhundertschicksale. Frauen im sowjetischen Exil. Berlin 2003, S. 128-141, hier S. 126f.

[29] Müller, Reinhard : Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung. Hamburg 2001, S. 159.

[30] Zit. n. Hamann: Die Mühsams, 146 [vgl. Anm. 4] .

[31] Otten: Überleben für das Werk Erich Mühsams, S. 130 [vgl. Anm. 28].

[32] Müller: Menschenfalle Moskau, S. 155 [vgl. Anm. 29].

[33] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 73 [vgl. Anm. 6].

[34] Die Beschuldigung ist im Zusammenhang mit der früheren Anklage der sogenannten „Wollenberg-Hoelz-Organisation“ zu sehen. Vgl. Müller: Menschenfalle Moskau [vgl. Anm. 29].

[35] Die Abkürzung GULag steht für Glavnoe upravlenie lagerej (Hauptverwaltung der Lager) und bezeichnet das gesamte Zwangsarbeitersystem in der Sowjetunion.

[36] Ebd., S. 167f.

[37] Otten: Überleben für das Werk Erich Mühsams, S. 139f. [vgl. Anm. 28].

[38] Vgl. Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, 52 [vgl. Anm. 6].

[39] Vgl. z. B. Müller: Menschenfalle Moskau, S. 155-157 [vgl. Anm.29].

[40] Ebd., S. 152.

[41] Hirte / Otten: Zenzl Mühsam, S. 68 [vgl. Anm. 6].

Autorin

Carolin Piorun

Bearbeitung: Natalja Kliewer