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Germaine Luise Krull wurde am 29. November 1897 im ostpreußischen Wilda, einem Vorort von Posen, als erstes Kind von Albertine Kunigunde und Johann Friedrich Krull geboren. Der Vater arbeitete als Ingenieur in ganz Europa. Deshalb zog Germaine Krull in ihren ersten Kindheitsjahren häufig um. Unter anderem wuchs sie in Bosnien, Rom, Paris, Montreux, in der Nähe von Graz und in Bad Aibling auf. Johann Friedrich Krull unterrichtete seine Tochter selbst, da er von klassischer Schulbildung wenig hielt. Lesen und Schreiben lernte Germaine Krull nur schlecht. Sie sprach mehrere Sprachen, jedoch keine perfekt.[1] Auch vom christlichen Glauben hielt der Vater sie fern, denn er selbst war in jungen Jahren aus dem Priesterseminar weggelaufen und verachtete Religiosität seitdem. Was er seiner Tochter stattdessen mit auf den Weg gab, war ein starkes Gefühl von Unabhängigkeit und revolutionäre Ideen. Diese trugen wahrscheinlich zu ihrem Engagement während der Münchner Revolution und später als überzeugte Kommunistin bei. 1912 trennten sich die Eltern und der Vater verließ die Familie. Die Mutter zog daraufhin mit Germaine und ihrer Schwester Berthe (geboren 1906) nach München und eröffnete eine Pension in der Nähe der Universität.[2] Dort wollte sich Germaine Krull 1915, während des Ersten Weltkriegs, als Studentin einschreiben, wurde jedoch abgelehnt, weil sie kein Abitur hatte. Deshalb entschied sie sich für eine Ausbildung an der Lehr- und Versuchsanstalt für Fotografie, die sie im Jahr 1917 oder 1918 abschloss.[3]
Nach ihrer Ausbildung eröffnete Krull vermutlich 1918 ein eigenes Atelier in Schwabing, denn ab 1919 war sie im Münchner Stadtadressbuch mit „Krull, Germaine Luise, Werkstatt für mod. Künstlerische Photographie, Hohenzollernstraße 5, Gartengebäude“[4] eingetragen. Dieses Atelier entwickelte sich bald zum Treffpunkt der Bohème. Unter anderem kamen die damaligen Studenten und späteren Begründer des Instituts für Sozialforschung und der Frankfurter Schule, Max Horkheimer und Friedrich Pollock, regelmäßig zu Besuch. Auch Ernst Toller und Rainer Maria Rilke verkehrten dort.[5] Einer von Krulls ersten Kunden war Kurt Eisner, Führer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) in Bayern. Krull hatte ihn durch Ernst Joske, den Sohn eines Freundes ihrer Mutter, kennengelernt, der mit ihr Eisners Vorträge vor seiner Antikriegsgruppe im Goldenen Anker besuchte. Ihr erstes Bild von Eisner entstand vermutlich im Januar 1918, kurz bevor dieser wegen seines Aufrufs zum Generalstreik ins Gefängnis kam.[6] Etwa 8000 Arbeiter der Münchner Großbetriebe hatten ihre Arbeit niedergelegt.[7] Möglicherweise hatten Eisner und Krull auch Kontakt, während er im Gefängnis saß, denn Ernst Joske erledigte in dieser Zeit als Sekretär Aufgaben für den Politiker.[8]
Als sicher kann jedoch angesehen werden, dass sich Krull zur Zeit der Novemberrevolution 1918 im engen Kreis um Eisner bewegte. Am 7. November 1918, wenige Wochen nach seiner Haftentlassung, nahm Krull auf der Theresienwiese an einer Kundgebung für die Beendigung des Krieges teil, zu der die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die USPD aufgerufen hatten. „Dann sprach Eisner über den Krieg. Es wurde nicht einmal geflüstert, und als er seine Ansprache mit einem Aufruf zur Beendigung des Krieges schlo[ss], gab es einen gemeinsamen Aufschrei: ‚Waffenstillstand, Waffenstillstand!‘“[9] , erinnert sie sich in ihren Memoiren. Anschließend zogen die Demonstranten zur Residenz und forderten die Gründung einer Republik. „Ich marschierte direkt hinter Kurt Eisner, neben seiner Frau und Ernst. Das hatten wir nicht erwartet. Die Tore der Residenz standen offen“[10] , schreibt sie weiter. Einen Tag später proklamierte Eisner den Freien Volksstaat Bayern, bildete eine Revolutionsregierung, den Provisorischen Arbeiter- und Soldatenrat, und wurde selbst Ministerpräsident.
Am 18. November 1918 fotografierte ihn Germaine Krull erneut. Dieses Porträt zählt zu den populärsten ihrer Fotos. Es wurde damals in Zeitungen und auf dem Titel von Eisners Buch abgedruckt und ist auch heute noch regelmäßig in Werken über ihn zu sehen.[11] Die Kunstjournalistin Brigitte Werneburg beschreibt diese und weitere Aufnahmen der Anführer der Räterepublik als „heroic rather than conventional“[12] , was ein Hinweis auf Krulls Bewunderung für die Revolutionäre ist. Sie porträtierte sogar noch Eisners blumengeschmückten, aufgebahrten Leichnam, nachdem der Ministerpräsident am 21. Februar 1919 vom Monarchisten Anton Graf von Arco auf Valley erschossen wurde. Eisner befand sich gerade auf dem Weg in den Landtag, wo er nach der Wahlniederlage der USPD seine Rücktrittsrede halten wollte. Obwohl nach der Ermordung in Bayern ein Personenkult um Kurt Eisner entstand, veröffentlichte Krull ihr letztes Bild von ihm nie.[13] Auch an der kommerziellen Verwertung seiner übrigen Porträts schien sie kein großes Interesse gehabt zu haben. Als Folge gab sich der spätere Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann selbst als Eisner-Porträtist aus und sicherte sich die Einnahmen aus dem Verkauf von Postkarten und Drucken – ob mit oder ohne Krulls Zustimmung kann nicht zweifelsfrei geklärt werden.[14]
Nach Eisners Tod war Germaine Krull vorerst nicht mehr politisch aktiv, obwohl ihr Freund Ernst Toller in der am 7. April 1919 ausgerufenen ersten Bayerischen Räterepublik dem Revolutionären Zentralrat vorsaß und gemeinsam mit weiteren Bekannten auch an der kommunistischen Räterepublik mitwirkte. Eine mögliche Erklärung dafür gibt Krull in ihrer unveröffentlichten Autobiografie Chien-fou selbst: „Eisner sagte immer, da[ss] die Kommunisten zu gewalttätig seien. […] Chien-fou war durcheinander.“[15] Auch Krulls Freunde Horkheimer und Pollock standen der ersten Räterepublik kritisch gegenüber und hielten die Revolution für überstürzt und wenig aussichtsreich. Pollock sagte sogar, Toller sollte sofort verhaftet werden.[16]
Trotz ihrer unschlüssigen oder sogar kritischen Haltung gegenüber der Räterepublik unterstützten Krull, Horkheimer und Pollock deren Führer, als am 2. Mai 1919 Regierungstruppen und „Weiße Garde“ in München einmarschierten und die kommunistische Räterepublik niederschlugen. Krull hatte ihr Atelier in Schwabing inzwischen aufgegeben und war zu Horkheimer und Pollock gezogen, um nicht ins Visier des „Weißen Terrors“ zu geraten. In der gemeinsamen Wohnung versteckten sie die Revolutionäre Willi Budich und Tovia Aksel’rod. Budich kam aus Berlin, war Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und Funktionär im Aktionsausschuss und im Vollzugsrat der Betriebs- und Soldatenräte Münchens, den beiden höchsten Gremien während der kommunistischen Räterepublik. Aksel’rod war ein russischer Bolschewik und Leiter des sowjetischen Pressedienstes ROSTA in Berlin, der in der kommunistischen Räterepublik als politischer Kommissar für Finanzen eingesetzt war und ebenfalls dem Aktionsausschuss angehörte.[17] Krull war beiden zuvor nie begegnet.[18] Wie der Kontakt zustande kam, ist unklar. Krull schreibt, dass sie „gebeten wurde“[19] , die Männer zu verstecken.
Dabei blieb es nicht. Die Erfahrung des „Weißen Terrors“ verstärkte Krulls politische Aktivität und sie verhalf den beiden zur Flucht. Aksel’rod reiste mit Papieren von Friedrich Pollock, für Budich hatte Krulls Mutter Dokumente besorgt, die einem Dr. Willi Mathiesen gehörten. Das erste Stück legte das Trio mit einem Zug vom Münchner Hauptbahnhof zurück. Als Soldaten die Papiere kontrollierten, stiegen sie jedoch wieder aus und marschierte zu Fuß über die Grenze nach Österreich.[20] Dort wurden alle am 12. Mai 1919 festgenommen. Sie kamen in Schwaz in Tirol zwei Wirtsfrauen verdächtig vor, weil sie über die Ereignisse in München sprachen. Die Frauen hielten sie richtigerweise für „Kommunisten oder Spartakisten, bezw. solche Personen, die sich jetzt aus München aus gewissen Gründen flüchten mussten“[21] . Bei ihrer Verhaftung gaben alle drei an, „nach Bayern bringe man sie nicht lebend, weil sie dort so wie so gelyncht würden“.[22] Krull saß zunächst in Innsbruck im Gefängnis und wurde wenige Tage später mit Aksel’rod nach Garmisch ausgewiesen.[23] Willi Budich erging es besser. Da er in München nur unter seinem Decknamen Willi Dietrich bekannt war und gegenüber den österreichischen Gendarmen seinen richtigen Namen benutzte, wurde er nicht nach Bayern, sondern nach Preußen ausgeliefert, wo die Behörden bislang nichts von seiner Rolle in der Räterepublik wussten.[24] Zurück in Bayern wurde gegen Germaine Krull wegen Beihilfe zur Flucht ermittelt. Warum sie jedoch wieder freigelassen wurde, ist nicht geklärt. Möglicherweise setzte sich Dr. Mathiesen für sie ein. Krull soll dessen Papiere, mit denen Budich auf der Flucht gewesen war, zerrissen und aus dem Zugfenster geworfen haben. So konnten ihm die Behörden keine Komplizenschaft nachweisen. In München versteckte Horkheimer Krull im Sanatorium Neuwittelsbach, bis sich das Chaos in Folge der Revolution gelegt hatte.[25]
Tovia Aksel’rod wurde im Juli 1919 wegen Hochverrats der Prozess gemacht. Am Ende verurteilte ihn das Standgericht zu 15 Jahren Zuchthaus.[26] Um ihn davor zu bewahren, bemühte sich Krull um Aksel’rods Repatriierung in die russische Sowjetrepublik. Diese reklamierte ihn als Diplomaten. Im Sommer 1919 reiste sie nach Berlin, Wien und Budapest, um Verhandlungen zu führen und Dokumente zu beantragen. Zumindest in Berlin erledigte sie auch Kurierdienste für die KPD. Die genauen Abläufe lassen sich nicht mehr nachvollziehen, aber Aksel’rod wurde tatsächlich gegen einen deutschen Diplomaten ausgetauscht.[27]
Krull hatte auf der Fahrt nach Berlin inzwischen den russischen Studenten und Linkskommunisten Samuel Levit (Deckname: Kurt Adler, Spitzname: Mila) kennengelernt, der sich in der Berliner KPD engagierte.[28] Die beiden begannen eine Liebesbeziehung und heirateten. Ab Herbst 1919 lebten Krull und Levit gemeinsam in München und Krull übernahm immer radikalere Ideen von ihrem Partner.[29] Levit stiftete Unruhe in der Münchner KPD, weil er sich unter anderem einer Zentralisierung des Kommunismus, wie sie die Bolschewiki anstrebten, widersetzte. Mit Karl Römer, der einige Monate zuvor vom Zentralkomitee der KPD nach München geschickt worden war und dort als Parteifunktionär agierte, lag er im Streit. Auf dem II. Parteitag der KPD im Oktober 1919 versuchten er und Krull sogar die Abspaltung des linken Flügels herbeizuführen. Schließlich wurden beide aus der Partei ausgeschlossen.[30] Ob Krull zuvor offizielles Mitglied war, ist nicht zweifelsfrei zu klären. Es ist jedoch anzunehmen, da sie die Partei durch Kurierfahrten unterstützte, in Dokumenten von Polizei und Staatsanwaltschaft als Kommunistin genannt wurde und ihr Parteiausschluss überliefert ist.[31]
Im Zuge der antikommunistischen Aktionen der Polizei wurde Levit ebenfalls im Oktober 1919 in ihrer Wohnung verhaftet. Da Krull wegen der Ermittlungen im Fall Aksel’rod bereits verdächtig war und bei einer Durchsuchung ihrer Wohnung ein Foto des ehemaligen Oberkommandanten der Bayerischen Roten Armee Rudolf Egelhofer gefunden wurde,[32] wurde auch sie festgenommen und verbrachte etwa einen Monat in Haft. Levit wurde wegen Führens falscher Papiere zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Nürnberg absaß.[33]
Im Februar 1920 stand Krull selbst wegen der Beihilfe zur Flucht Tovia Aksel’rods vor Gericht. Sie leugnete standhaft politische Verbindungen zu ihm. Außerdem gab sie an, nicht gewusst zu haben, dass er steckbrieflich gesucht wurde. Wie im Bayerischen Kurier zu lesen ist, sei sie davon ausgegangen, es habe sich um einen harmlosen Ausflug nach Tirol gehandelt. Da ihre Darstellung der Ereignisse nicht widerlegt werden konnte, wurde sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen.[34] Einen Monat später beschloss der Staatskommissar des Münchner Polizeipräsidenten dennoch ihre Ausweisung aus Bayern zum 10. April 1920.[35] Zunächst nahm sie eine Stelle als Fotografin in Düsseldorf an. Nach Levits Haftentlassung folgte sie ihm zu seinen Eltern nach Berlin.[36]
Die folgenden beiden Jahre verbrachte das Paar in Sowjetrussland. Es agierte „ohne jede eindeutige parteipolitische Bindung oder Unterstützung; Pollock bezeichnete beide als Anarchisten“[37] . Sie hatten den Plan, als Vertreter der linken Opposition am III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) teilzunehmen und reisten wahrscheinlich im Januar 1921 mit einer Gruppe repatriierter russischer Kriegsgefangener über Stettin nach Petrograd, das heutige St. Petersburg. Krulls Misstrauen gegenüber dem sowjetischen System stieg dort weiter an. „Jeder, der nicht arbeitet, darf auch nicht essen, so sieht sie aus, die Revolution“[38] , schreibt sie in ihren Erinnerungen. Im Februar erlebte sie den Kronstädter Matrosenaufstand, der gegen die Zentralisierung der Bolschewiki gerichtet war, und seine blutige Niederschlagung. Dieses Ereignis verstärkte ihre Antipathie gegenüber der Sowjetregierung weiter.[39]
Dennoch blieben sie und Levit in Sowjetrussland und fanden dort auch Arbeit. Krull sortierte Negative für den Photographischen Dienst der Regierung. Sie beschreibt dies als sinnlose Tätigkeit, da sie kein Russisch verstand und die Negative deshalb in die Kategorien Männer, Frauen und Gruppen einordnete. Über ihre Arbeitskollegen schreibt sie: „Man hatte ihnen aufgetragen zu arbeiten, also arbeiteten sie. Sie wu[ss]ten nichts und wollten nichts. Ich konnte nicht mit ihnen sprechen, und sie waren mir gegenüber mi[ss]trauisch.“[40] Samuel Levit übersetzte währenddessen ausländische Presseartikel für die Partei. Vermutlich hatten beide ihre Stellen über Tovia Aksel’rod bekommen, dem Krull gut ein Jahr zuvor geholfen hatte, nach Sowjetrussland zurückzukehren. Er war inzwischen an die Spitze der Komintern-Presse aufgestiegen und veröffentlichte beim III. Weltkongress den täglichen Bericht des Gremiums.[41]
Auch Krull und Levit fuhren zum Komintern-Kongress, der vom 22. Juni bis 12. Juli 1921 in Moskau stattfand. Ob sie offiziell als Delegierte auftraten, ist unklar. In den Protokollen erscheinen ihre Namen nicht. Es ist aber von zwei ungenannten oppositionellen Delegierten der KPD die Rede. Als ausländische Teilnehmer wurden sie dort zunächst gut behandelt und hörten Vladimir Il’ič Lenins Eröffnungsrede. Dass die Mehrheit der Delegierten den Plan verfolgte, sich zu einer einzigen kommunistischen Weltpartei zusammenzuschließen und Lenin die Organisation separater Gruppen unter Strafe stellen wollte, lief Krulls und Levits Ideen von einer Dezentralisierung des Kommunismus jedoch entgegen. Laut Krulls Erinnerungen erhielt Samuel Levit keine Redeerlaubnis, galt bald als Verschwörer und landete im Gefängnis. Auch Krull wurde als Konterrevolutionärin verhaftet und ins KGB-Gefängnis am Lubjanka-Platz gebracht. Offensichtlich war Aksel’rod nicht mehr bereit oder in der Lage, ihr zu helfen und sie blieb bis zum Ende des Kongresses in Haft. Nachdem sie freigelassen wurde, stellte sie fest, dass Levit plante, in wenigen Tagen mit den letzten Delegierten abzureisen. Als russischer Staatsbürger sah er es als seine einzige Chance, außer Landes zu kommen. Krull fühlte sich verraten und die Beziehung endete mit seiner Ausreise.[42]
Krull blieb in Moskau und übernahm die Arbeit ihres ehemaligen Lebensgefährten, ausländische Zeitungsartikel zu sortieren. Nach wenigen Wochen wurde sie erneut wegen anti-kommunistischer Agitation von der VČK (Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po borʼbe s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i sabotažem, der Außerordentlichen Allrussischen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage) festgenommen und saß elfeinhalb Wochen in Haft. Während dieser Zeit erlebte sie wohl auch eine Scheinhinrichtung. Berthe Krull gab viele Jahre später eine Erzählung ihrer Schwester wieder, wonach eine Gruppe Soldaten und ein Offizier sie aus ihrer Zelle geholt und ihr gesagt hätten, sie würde hingerichtet werden. Germaine Krull habe sich mit dem Gesicht an eine Wand lehnen müssen. Irgendwann habe der Offizier gelacht und sie zurück in die Zelle bringen lassen.[43]
Nach ihrer Freilassung wurde sie im Januar 1922 aus Sowjetrussland verwiesen. Das deutsche Konsulat gab ihr die Möglichkeit, mit einem Konvoi nach Riga zu fahren, obwohl ihre Papiere auf Krull-Levit ausgestellt waren und sie keine deutsche Staatsbürgerschaft mehr besaß, sondern als Rumänin oder Russin deklariert wurde. Trotz einer Typhuserkrankung reiste sie nach Lettland und von dort direkt weiter nach Stettin. Sichel kommt zu dem Schluss: „Mit ihrer Deportation starb auch ihr Glaube an den politischen Aktivismus.“[44] Dies bestätigt ein Brief an Horkheimer und Pollock, den sie den beiden am 12. Januar 1922 aus Riga schreibt:
„Heute weiß ich, dass es ein Unglück für die Welt und vor allem für die arbeitende Klasse wäre, wenn der Bolschewismus im Westen käme. […] Ich habe eingesehen, da[ss] ich [zwei] Jahre meines Lebens für ein Ideal hingab – das groß und hehr – aber eben nur ein Ideal ist. Das Ideal realisiert in Händen von ruhmsüchtigen, rachsüchtigen, genialen, aber krankhaften Menschen hat eine Idee zerbrochen, hat aus dem Ideal ein Verbrechen gemacht. Und ich werde für kein Verbrechen eintreten, ich sage – habe den Mut zu sagen – da[ss] ich mich geirrt [habe].“[45]
Horkheimer und Pollock sorgten dafür, dass Krull nach München zurückkehren, sich in einem Sanatorium erholen konnte und von ihrer Mutter besucht wurde.[46]
Nach ihrer Genesung zog Germaine Krull nach Berlin und widmete sich wieder der Fotografie, die sie wegen ihrer politischen Aktivitäten vernachlässigt hatte. Ein reicher Liebhaber kaufte sie als Teilhaberin in ein Atelier am Kurfürstendamm ein. Durch ihren Geschäftspartner lernte sie den holländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens kennen. Mit ihm zog sie 1925 nach Amsterdam.[47] Ein Jahr später mietete sie aber bereits eine eigene Wohnung in Paris. Die Beziehung zu Ivens zerbrach 1927, doch die beiden blieben Freunde und heirateten im gleichen Jahr, um Krull einen niederländischen Pass zu verschaffen. Damit registrierte sie sich als Journalistin.[48] 1928 erschien ihr fotografisches Portfolio Métal, das sie zu einer der bekanntesten Fotografinnen ihrer Zeit machte. 1935 zog sie von Paris nach Monaco.[49]
Als die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Paris besetzte, beschloss sie, sich dem Widerstand um Charles de Gaulles anzuschließen. In Brazzaville in Französisch-Äquatorialafrika arbeitete sie für den Informationsdienst France Libre. 1944 erlebte sie als Kriegsreporterin die Landung der Alliierten in Südfrankreich und 1945 die Befreiung des Konzentrationslagers Vaihingen. Am Ende des Krieges wollte sie nicht mehr in Europa leben und ging als Kriegsberichterstatterin nach Südostasien.[50] Mit einem Bekannten übernahm sie 1946 das internationale Hotel Oriental in Bangkok und baute es zu einem der besten Gasthäuser Asiens aus.[51] 1966 schied sie als Hotelmanagerin aus und lebte für ein Jahr in der Nähe von Paris. Dann zog sie nach Nordindien, dokumentierte das Leben der dortigen Exil-Tibeter und wurde Buddhistin.[52] Erst 1983 kehrte sie nach einem Schlaganfall wieder nach Deutschland zurück. Am 31. Juli 1985 starb sie bei ihrer Schwester Berthe in Wetzlar.[53] Über die Zeit als Revolutionärin sprach sie – abgesehen von den unveröffentlichten Memoiren – bis an ihr Lebensende nicht mehr.
[1] Sichel, Kim: Avantgarde als Abenteuer. Leben und Werk der Photographin Germaine Krull. München 1999, S. 6f.
[2] Frizot, Michel: Germaine Krull. Publikation anlässlich der Ausstellung Germaine Krull (1897-1985), Jeu de Paume, Paris, Martin-Gropius-Bau, Berlin. Ostfildern 2015, S. 15f.
[3] Bußmann, Annette: Germaine Krull. FemBio, 04.11.2010, unter <http://www.fembio.org/biographie.php/frau/ biographie/germaine-krull/>, 07.03.2016.
[4] Zit. n. Herz, Rudolf: Heinrich Hoffmann und die Revolution – zur Genese faschistischer Fotografie, in: Halfbrodt, Dirk / Kehr, Wolfgang (Hgg.): München 1919. Bildende Kunst, Fotografie der Revolutions- und Rätezeit. Ein Seminarbericht der Akademie der Bildenden Künste. München 1979, S. 123-196, hier S. 135.
[5] Rückert, Ulrike: „Die Fotografie ist ein schöner Beruf“. Das schillernde Leben der Germaine Krull. München 2007, S. 2.
[6] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 16-21 [vgl. Anm. 1].
[7] Mitchell, Allan: Revolution in Bayern 1918/1919. Die Eisner-Regierung und die Räterepublik. München 1967, S. 57-59.
[8] Herz, Heinrich / Halfbrodt, Dirk: Revolution und Fotografie. München 1918/1919. Berlin 1988, S.71, 323.
[9] Ebd., S. 48.
[10] Ebd., S. 49.
[11] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 20f. [vgl. Anm. 1].
[12] Werneburg, Brigitte: Ernst Jünger and the Transformed World, in: October 62 (1992), S. 42-64, hier S. 44.
[13] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 22 [vgl. Anm. 1].
[14] Herz: Heinrich Hoffmann, S. 140 [vgl. Anm. 4]; Rückert: „Die Fotografie ist ein schöner Beruf“, S. 4 [vgl. Anm. 5].
[15] Zit. n. Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 23 [vgl. Anm. 1]. Der Titel Chien-fou ist eine Anlehnung an Krulls Spitznamen Zottel, den sie in der Jugend erhielt.
[16] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 23 [vgl. Anm. 1].
[17] Köglmeier, Georg: Die zentralen Rätegremien in Bayern 1918/1919. Legitimation – Organisation – Funktion. München 2001, S. 385f., 476f.
[18] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 23f.[vgl. Anm. 1].
[19] Krull: La vie, S. 52f. [vgl. Anm. 9].
[20] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 24 [vgl. Anm. 1].
[21] Staatsanwaltschaft München I. Towia Axelrod, Staatsarchiv München (StA), Nr. 1939
[22] Ebd.
[23] Herz: Heinrich Hoffmann, S. 139 [vgl. Anm. 4].
[24] Pastor, Werner: Willy Budich. Eine biografische Skizze. Ein unbeugsamer Revolutionär aus Cottbus. Cottbus 1988, S. 27.
[25] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 24, 307 [vgl. Anm. 1].
[26] Herz / Halfbrodt: Revolution und Fotografie, S. 71 [vgl. Anm. 8].
[27] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 25 [vgl. Anm. 1]; Rückert: „Die Fotografie ist ein schöner Beruf“, S. 5 [vgl. Anm. 5].
[28] Frizot: Germaine Krull, S. 19 [vgl. Anm. 2].
[29] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 25 [vgl. Anm. 1].
[30] Frizot: Germaine Krull, S. 19 [vgl. Anm. 2].
[31] Herz / Halfbrodt: Revolution und Fotografie, S. 71 [vgl. Anm. 8].
[32] Polizeidirektion München. Rudolf Egelhofer, StA, Nr. 10040, S. 131.
[33] Herz / Halfbrodt: Revolution und Fotografie, S. 71f., 297 [vgl. Anm. 8]; Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 26 [vgl. Anm. 1].
[34] Bayerischer Kurier und Münchner Fremdenblatt: Eine Freundin Axelrods. 26.04.1920. München 1920, S. 6.
[35] Polizeimeldebogen. Luise Germaine Krull, Stadtarchiv München (StAM), PMB G/C/K 534.
[36] Frizot: Germaine Krull, S. 19 [vgl. Anm. 2].
[37] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 26 [vgl. Anm. 1].
[38] Krull: La vie, S. 89 [vgl. Anm. 9].
[39] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 27 [vgl. Anm. 1].
[40] Krull: La vie, S. 88 [vgl. Anm. 9].
[41] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 27 [vgl. Anm. 1].
[42] Ebd., S. 27f.
[43] Ebd., S. 308.
[44] Ebd., S. 28.
[45] Schmidt, Alfred / Schmid Noerr, Gunzelin (Hgg.): Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Bd. 15: Briefwechsel 1913-1936. Frankfurt am Main 1995, S. 80.
[46] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 28 [vgl. Anm. 1]; Rückert: „Die Fotografie ist ein schöner Beruf“, S. 7 [vgl. Anm. 5].
[47] Ebd., S. 7f.
[48] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 69 [vgl. Anm. 1].
[49] Ebd., S. 76, 125.
[50] Rückert: „Die Fotografie ist ein schöner Beruf“, S. 11-13 [vgl. Anm. 5].
[51] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 249 [vgl. Anm. 1]; Rückert: „Die Fotografie ist ein schöner Beruf“, S. 13f. [vgl. Anm. 5].
[52] Sichel: Avantgarde als Abenteuer, S. 257 [vgl. Anm. 1].
[53] Bußmann: Germaine Krull, [vgl. Anm 3].
Beate Winterer
Bearbeitung: Natalja Kliewer