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Jan Randák

„Sag mir deine Meinung zum Hussitentum und ich sage dir, wer du bist.“ Hus und die Hussiten im tschechischen historischen Bewusstsein

„Deswegen kann es gegenüber einem tschechischen Historiker heißen: Sag mir deine Meinung zum Hussitentum und ich sage Dir, wer Du bist.“ Diese bereits 1914 ausgesprochenen Worte des späteren tschechoslowakischen kommunistischen Bildungsministers Zdeněk Nejedlý illustrieren, welche große Rolle Jan Hus und das Hussitentum im tschechischen historischen Bewusstsein spielen. Dabei ist zu ergänzen, dass sich diese Äußerung durchaus nicht nur auf Historiker, sondern auf die gesamte moderne tschechische Gesellschaft und insbesondere ihre politischen Eliten beziehen lässt. Die Interpretation von Jan Hus war nämlich für sie stets ein Politikum – praktisch jede Etappe der neuzeitlichen Entwicklung der tschechischen Nation schuf ihre eigenen Bilder von Hus und der Hussitenbewegung.

Weder ein demokratisches Regime noch eine Diktatur kommt ohne eine adäquate, die Existenz des aktuellen Systems erklärende und legitimierende Darstellung der Vergangenheit aus. Die Geschichte soll den Menschen zeigen, wer sie früher waren, wer sie in der Gegenwart sind und in der Zukunft sein sollen. Sie bietet somit Werte und Normen für unterschiedliche Zwecke an. Der Blick in die Vergangenheit soll verdeutlichen, was in den Augen der jeweiligen Wortführer gut und was schlecht ist. Deswegen ist Geschichte ebenfalls ein Argument politischer oder nationaler Bewegungen. Dies gilt auch für historische Persönlichkeiten, deren Darstellung den jeweils herrschenden Ideen angepasst und so zur historischen Legitimierung der eigenen Positionen eingesetzt wird. Zu einer zentralen Gestalt, die als historisches Argument und als Repräsentant einer Idee oder Bewegung verwendet werden kann, ist allerdings nur eine außergewöhnliche Person geeignet – oder besser: eine solche, die man für außergewöhnlich hält.

Ein solches Schicksal traf auch den mittelalterlichen religiösen Denker, Prediger und Reformer Jan Hus. Im Hinblick auf die moderne tschechische Gesellschaft, um die es hier gehen soll, ist jedoch eine wichtige Information vorauszuschicken: Wenn dort von Hus die Rede ist, ist gleichzeitig sehr oft auch das Hussitentum gemeint. Sicher ist die Frage berechtigt, wie Hus wohl die mit ihm ex post in Verbindung gebrachten Ereignisse bewertet hätte. In den Vorstellungen der tschechischen Gesellschaft verschmolzen jedoch er und die Hussiten zu einem untrennbaren Ganzen. Welche Rolle spielten also Hus und das spätere Hussitentum im Wandel des historischen Bewusstseins der tschechischen Gesellschaft und welche Bilder wurden ihnen zugeschrieben?
 

Hus im Namen der Nation

Bis in das 18. Jahrhundert hinein wurde Hus fast ausschließlich aus einer religiösen Perspektive heraus betrachtet. Dies änderte sich erst am Ende des Säkulums mit der Epoche der Aufklärung. Deren Vertreter verstanden das Mittelalter als Zeitalter des Fanatismus und des Aberglaubens, und gerade die Zeit des Hussitentums betrachteten sie als eine Phase des Niedergangs. Gleichzeitig war für sie aber die Hussitenbewegung ein reizvolles Objekt gelehrten Interesses. Sie standen ihr zwar grundsätzlich skeptisch gegenüber, zugleich verlor sie jedoch in ihren Augen das Stigma der Ketzerei.

Zu dieser Zeit erfolgten in der Habsburgermonarchie auf Veranlassung von Kaiser Joseph II. Reformen, die auch die privilegierte Stellung der katholischen Kirche einschränkten. Katholische Festtage und die Kirchweihe wurden aufgehoben und Klöster wurden geschlossen. Vor diesem Hintergrund begannen einige Anhänger von Josephs Politik, Hus zu rehabilitieren. Sie sahen in ihm einen Vorläufer der josephinischen Religionsreformen. Somit erhielt Hus zum ersten Mal ein aktualisiertes Antlitz, obwohl er nach wie vor eine religiöse Persönlichkeit blieb. Zu einer deutlicheren Veränderung dieser Auffassung von Hus kam es erst mit dem böhmischen Aufklärer und Sprachwissenschaftler Josef Dobrovský. Dieser würdigte das Werk von Hus und das Hussitentum als Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der tschechischen Sprache und des tschechischen Schrifttums. Nun wurde Hus aus einer nationalen Perspektive heraus betrachtet.

Wer jedoch nach dem Moment sucht, in dem Hus und das Hussitentum definitiv Bestandteil des nationalen und historischen Bewusstseins der tschechischen Nation wurden, der muss die antinapoleonische Agitation der habsburgischen Führung zu Beginn des 19. Jahrhunderts berücksichtigen. Als nämlich die napoleonischen Kriege die böhmischen Länder erreichten, sollte bei der tschechischen Bevölkerung Kriegsbegeisterung geweckt werden. Die österreichische Propaganda machte sich zu diesem Zweck die hussitische Vergangenheit zunutze. Es erscheint im Rückblick also fast schon paradox, dass das Hussitentum als Verkörperung tschechischen Kriegsruhms und des Kampfes um die Heimat ein dauerhafter Bestandteil des tschechischen historischen Bewusstseins unter Mithilfe des österreichischen Staates wurde – gegen den sich später die tschechische Nationalbewegung gerade unter Berufung auf das Hussitentum abzugrenzen begann. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts spielten in der tschechischen Deutung von Hus und vom Hussitentum die nationale Perspektive und das Motiv der Verteidigung des Heimatlandes vor einem äußeren Feind eine bedeutendere Rolle.

Das 19. Jahrhundert war die Epoche der nationalen Bewegungen, der Formierung moderner Nationen und der Entstehung moderner Staaten. So bildete sich auch eine tschechische Gesellschaft heraus, die sich auf historische Traditionen berief. Das Bekenntnis zu Hus und den Hussiten gab ihr eine klare geistige, kämpferische und vor allem nationale Gestalt. Gegenüber Skeptikern wurde auf die Historiografie verwiesen: Allen populären Deutungen der hussitischen Ära gab nämlich der Historiker František Palacký ein wissenschaftliches Fundament. Sein epochales, mehrbändiges Werk über die böhmische Geschichte begann 1836 zunächst in deutscher Sprache unter dem Titel „Geschichte von Böhmen“ zu erscheinen. Seit 1848 wurde eine tschechischsprachige Version mit dem Titel „Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě“ (Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren) veröffentlicht.

Palacký ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Geschichtswissenschaft nicht neutral ist. Seinen Zeitgenossen vermittelte er nämlich die nationale Vergangenheit in Gestalt einer identitätsbildenden Erzählung von Ruhm und Tragik der tschechischen Geschichte. Hus und das Hussitentum präsentierte er dabei als den bisherigen Höhepunkt der nationalen Entwicklung. Auf diese Weise wurden die Hussiten wissenschaftlich zu tschechischen Patrioten und Vorkämpfern moderner demokratischer Ideale erklärt. Hus selbst ordnete Palacký in den gesamteuropäischen Kontext des Konflikts zwischen Katholizismus und Protestantismus ein. Auf diese Weise wollte er zeigen, dass die tschechische Geschichte eine europäische Bedeutung hatte. Mittels des von Palacký dargestellten Hus und Hussitentums erschienen so die Tschechen als tapfer, national und europäisch bedeutend.

Haben jedoch alle Tschechen Palackýs Werk von mehreren hundert Seiten gelesen? Natürlich nicht. Palacký lieferte in erster Linie die wissenschaftliche Basis. Um die Popularisierung seiner Sichtweise machten sich dann Schriftsteller und Künstler verdient, vor allem in Form von Belletristik, Theaterstücken und bildender Kunst. Ihre Werke vereinfachten zwar Palackýs Ergebnisse, für das nationale Empfinden und das historische Bewusstsein der Tschechen spielten jedoch Details keine besonders große Rolle – von Bedeutung waren vielmehr die Werte und Botschaften, mit denen das Hussitentum in Verbindung gebracht wurde.

Dies blieb nicht auf die Kultur beschränkt, denn Hus und die Hussitenbewegung wurden am Ende der 1860er Jahre in der politischen Argumentation eingesetzt. Die Unzufriedenheit der tschechischen Nationalbewegung mit der Stellung der Tschechen in der Habsburgermonarchie wuchs stetig, sodass sie immer lauter nationale und politische Rechte einforderte. Im Laufe des Jahres 1868 kam es dann in mehrheitlich von Tschechen bewohnten Bezirken der böhmischen Länder zu einer Reihe von Massenversammlungen, auf denen die Teilnehmer demonstrierten. Diese fanden unter anderem an mit dem Hussitentum verbundenen Orten und an Tagen bedeutender Ereignisse der hussitischen Geschichte statt. Durch die Versammlungen wurden die Hussiten nun als nationale, demokratische, antideutsche, antiadelige und antikatholische Bewegung interpretiert.
 

Im Namen des tschechoslowakischen Staates

In einem solchen Sinn kam es zu Beginn des Sommers 1915 schließlich zu einem bedeutenden Wandel in der tschechischen Verwendung der hussitischen Vergangenheit zu nationalen Zwecken. Während in Europa der Erste Weltkrieg tobte, trat im schweizerischen Genf am 6. Juli 1915 der tschechische Politiker Tomáš Garrigue Masaryk auf und verkündete das Ziel des tschechischen politischen Exils: die Zerschlagung der Habsburgermonarchie und die Erringung der nationalen Unabhängigkeit. Das Datum für die Rede war sehr bewusst gewählt, schließlich handelte es um den fünfhundertsten Jahrestag der Verbrennung von Hus in Konstanz. Masaryks Schritt symbolisiert daher eine fundamentale Veränderung im Bild von Hus, denn nun verlangte die tschechische Nationalbewegung nicht mehr nur defensiv eine bessere Stellung im staatlichen Gefüge Österreich-Ungarns – vielmehr wurde Hus nun als Schirmherr der tschechischen Offensive gegen die Habsburgermonarchie betrachtet.

So kam es dazu, dass sich an den Fronten des Ersten Weltkriegs in West und Ost tschechoslowakische Auslandslegionen bildeten, die sich im Namen eines nationalen und demokratischen Hussitentums mit der österreichischen Armee oftmals siegreiche Kämpfe auf Leben und Tod lieferten. Es kann daher auch nicht überraschen, dass Jan Hus und die hussitische Tradition nach 1918 zentrale Symbole des tschechoslowakischen Staates wurden. Mit der Entstehung der selbständigen Tschechoslowakei und im Laufe ihrer Existenz erreichte die Bedeutung von Hus für das historische Bewusstsein der tschechischen Gesellschaft einen ihrer Höhepunkte. Der 6. Juli, der Tag seiner Hinrichtung, wurde zum Nationalfeiertag erklärt. Über der Prager Burg, in der nun offiziell Masaryk als Präsident residierte, wehte eine Standarte mit Hus’ Ausspruch „Pravda vítězí“ (Die Wahrheit siegt).

In der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit fand in der Hussitenbewegung praktisch jeder das Seine. Für Nationalisten war sie nationaler und antideutscher Ansporn, Protestanten schwärmten für die Trennung vom Katholizismus und von Rom, sozialistische Parteien betonten demokratische und soziale Aspekte des Hussitentums. Lediglich katholische Kreise bekannten sich natürlich zu einem anderen tschechischen Patron: dem heiligen Wenzel. Die internationale Krise von 1938, die zur Unterzeichnung des Münchener Abkommens führte, förderte erneut in der tschechischen Gesellschaft die hussitischen Reminiszenzen. Auch im Laufe des Zweiten Weltkriegs bekannte sich ein Großteil der tschechischen Bevölkerung des Protektorats Böhmen und Mähren sowie der Emigranten und der im Ausland lebenden Landsleute zur nationalen Geschichte und mit ihr zu Hus und den Hussiten.
 

Mittelalterliche Protokommunisten

Eine neue Bedeutung wurde Hus in der Zeit des tschechoslowakischen Kommunismus nach dem Februar 1948 zugeschrieben. Wer wäre er in jener Zeit gewesen? Der schon eingangs zitierte Zdeněk Nejedlý meinte dies zu wissen: „Heute wäre Hus der Kopf einer politischen Partei, und seine Tribüne wäre nicht die Kanzel, sondern die Prager Lucerna [ein Vergnügungspalast in Prag] oder der Wenzelsplatz. Und seine Partei stünde uns Kommunisten – davon können wir überzeugt sein – sehr nah.“ In der Darstellung der Kommunisten blieb Hus zwar ein Patriot, doch wurde er auch zum Kämpfer für soziale und politische Wahrheit erklärt. Er galt als Prophet einer besseren Zukunft und revolutionärer Veränderungen. Die Bedeutung von Hus’ Lehre auf seine kirchlichen Reformbestrebungen zu reduzieren, kam deswegen in der Auslegung kommunistischer Autoren einer Geschichtsfälschung gleich. Ihrer Auffassung nach war Hus kein religiöser Denker gewesen. Gott und Kirche hätten ihm lediglich als Mittel gedient, um weltliche Wahrheiten und Ziele zum Ausdruck zu bringen – sein eigentliches Wirken sei nämlich politisch (im Sinne des Klassenkampfes) gewesen.

Durch das Bekenntnis zu dem nun protokommunistischen Hus und dem revolutionären Hussitentum konnte mit Hilfe der Vergangenheit die kommunistische Machtdurchsetzung historisch gerechtfertigt werden. Die Kommunisten vermittelten die Botschaft, dass sie die Erben der nationalen Traditionen seien und den Kampf von Hus und den Hussiten fortsetzen würden – und sie wollten damit zeigen, dass die kommunistische Herrschaft keine Abweichung vom Lauf der nationalen Geschichte sei.

Das Bild von Jan Hus durchlief im tschechischen historischen Bewusstsein somit viele Veränderungen: von dem eines kirchlichen Reformators über das eines Gegners der Deutschen und Propagators des tschechischen Patriotismus bis hin zu dem eines Kämpfers für eine kommunistische Welt. In jeder Epoche wurden Elemente aus dem Fundus vermeintlich objektiver historischer Tatsachen ausgewählt, die zur jeweils aktuellen politischen Argumentation passten. Hus und die Hussiten dienten so der tschechischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit wie auch den tschechoslowakischen Kommunisten bei der Legitimierung ihres Machtantritts und bei der Festigung ihrer Diktatur. Doch wie sah es nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 aus?
 

Verlust des Glanzes

Untersuchungen zur öffentlichen Meinung in der Tschechoslowakei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bzw. seit 1993 in der Tschechischen Republik belegen, dass Hus ein bedeutender Platz im Pantheon der tschechischen Größen sicher ist. Regelmäßig rangiert er unter den ersten zehn wichtigsten nationalen Persönlichkeiten, in einer Befragung von Oktober 1992 steht er sogar an vierter Stelle. Was sagen jedoch solche Untersuchungen aus? Das, was Menschen tatsächlich denken – oder handelt es sich bei den genannten historischen Persönlichkeiten vor allem um solche, die ihnen bei einer derartigen Befragung einfach nur einfallen und von denen sie meinen, dass sie dort erwähnt werden müssten? Schließlich kennt dank des tschechischen Geschichtsunterrichts in der Schule jeder den Namen Hus. Ich vermute aber, dass seine Popularität in der tschechischen Gesellschaft sinkt. Oder besser: Hus und das Hussitentum bieten nicht mehr ein solches Identifikationspotenzial wie früher. Für viele Tschechen ist der Todestag von Hus zu einem der vielen Staatsfeiertage geworden – der 6. Juli ist für sie daher vor allem ein Tag, an dem man nicht zur Arbeit gehen muss.

 

Über den Autor Jan Randák: Institut für tschechische Geschichte, Philosophische Fakultät der Karlsuniversität in Prag

 

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