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Strajk Kobiet – Die Protestbewegung in Polen aus interdisziplinärer Perspektive

Die Proteste im Rahmen des Ogólnopolski Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) waren 2016 und insbesondere 2020 das bestimmende polenspezifische Thema in den deutschen Medien. Die Demonstrationen richteten sich gegen die (letztlich erfolgreichen) Versuche der PiS-Partei, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch weiter einzuschränken. Generell waren geschlechterpolitische Fragen seit dem Machtantritt der Nationalkonservativen 2015 zu einem der bestimmenden Elemente der politischen Debatte in Polen geworden. Die Angriffe der PiS auf die Rechte von Frauen waren dabei nur der Auftakt und bald richtete sich die Politik der Partei gegen andere marginalisierte Gruppen wie die LGBTIQ*-Community. Diese Anti-Gender-Politik ist dabei nicht losgelöst von der autoritären Wende in Polen zu betrachten, sondern ein konstitutives Element des Staatsumbaus.[1] Zugleich entstand mit der Protestbewegung nach 2016 erstmals eine Massenbewegung in Polen, die Geschlechterfragen mit der generellen Verfasstheit von Staat und Gesellschaft verknüpfte und deren Forderungen mittlerweile weit über den Zugang zu Schwangerschaftsabbruch hinausgehen. Dies macht sie für verschiedene Disziplinen und Perspektiven zu einem interessanten Untersuchungsobjekt. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, sich aus wissenschaftlicher Perspektive einer solchen Protestbewegung anzunähern. Am Beispiel des allpolnischen Frauenstreiks soll im Folgenden gezeigt werden, dass insbesondere ein interdisziplinärer Ansatz die Chance bietet, eine solche Bewegung in ihrer Gesamtheit zu erfassen.

Auch für mich, der als Historiker zur polnischen Geschlechtergeschichte in der „langen Zeit der Transformation (1980-2004)“ forscht, ist das Thema von besonderem Interesse, zumal die Ursachen der Proteste nur in ihren historischen Kontinuitäten vollständig zu verstehen sind. Das Thema begegnet mir auch als Dozent in Seminaren zur polnischen Geschlechtergeschichte nach 1945, nicht zuletzt, weil die Proteste für viele Studierende der Grund sind, sich mit Geschlechtergeschichte zu beschäftigen. Ganz unweigerlich ergibt sich daraus die Frage, was wir als Historiker:innen als Erklärungsansatz für aktuelle Ereignisse anzubieten haben und wo die Grenzen unserer Erklärungsmodelle liegen.

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie aktiv wir uns in die öffentliche Debatte – denn dabei handelt es sich bei einem solchen Thema unweigerlich – einmischen sollten. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass die Vorstellung eines weiten „Sicherheitsabstandes“ zwischen Forschung und politischer Arbeit etwas aus der Zeit gefallen ist und einem veralteten Verständnis von Objektivität aufsitzt. Einerseits, weil jede Forschung inhärent politisch ist, andererseits, weil die Alternative – eine Politik ohne Expertise – keine sinnvolle Lösung darstellt. Vielmehr lässt sich fast täglich beobachten, was passiert, wenn sich Hobbyphilosophen oder vermeintliche Feministinnen als Expert:innen zur Ukraine äußern, ohne sich jemals mit Sprache, Kultur oder Geschichte des Landes beschäftigt zu haben. Dies kann und darf keine Option sein.

Zugleich zeigt gerade dieses Thema die Grenzen des historischen Arbeitens auf. Die Protestbewegung, die sich gegen die Verschärfung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch sowie gegen eine zunehmend konservative Geschlechterpolitik in Polen wendet, kann nicht allein mit historischen Methoden verstanden werden. Fragen nach der Motivation der Protestierenden, den Ursachen von (Nicht-)Mobilisierung oder den Erfolgsaussichten der Demonstrationen innerhalb des politischen Systems Polens, können Historiker:innen nur bedingt beantworten.

Im Folgenden werde ich anhand dieses Beispiels aufzeigen, was ich als Historiker konkret zu diesem Thema beitragen kann, wo die Stärken und Grenzen einer konsequenten Anwendung der historischen Methoden liegen. Im Zuge dessen werde ich auch für eine disziplinäre Verankerung plädieren, die sich nicht beliebig – und oft nur rudimentär – Methoden anderer Disziplinen aneignet, sondern auf ihre eigenen Stärken besinnt und wo nötig eng mit anderen Wissenschaften zusammenarbeitet. Konkret möchte ich aufzeigen, wo eine Kooperation zwischen Historiker:innen und Politikwissenschaftler:innen fruchtbar ist.

Um sich den Protesten ab 2016 in Polen anzunähern, bedarf es zunächst eines kurzen Überblicks über die polnische Geschlechtergeschichte ab den späten 1970er Jahren, da dieser Zeitraum für den Themenkomplex besonders relevant ist.

Frauen waren bis 1989 – dem offiziellen Leitbild des Sozialismus entsprechend – Männern gleichgestellt. In Artikel 66 Absatz 1 und 2(1) der Verfassung der Volksrepublik Polens aus dem Jahr 1952 heißt es:

(1) Der Frau stehen in der Volksrepublik Polen auf allen Gebieten des staatlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens die gleichen Rechte zu wie dem Mann.

(2) Die Gleichberechtigung der Frau wird gewährleistet:
     1) durch das gleiche Recht auf Arbeit und Lohn nach dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“[2]

Auch wenn daran einiges Propaganda war, so waren die Länder des sogenannten Ostblocks bis in die 1970er Jahre hinein Vorreiter bei der Einbeziehung von Frauen in Erwerbsmärkte, insbesondere im Vergleich mit den „westlichen“ Staaten. Allerdings folgte daraus keine breite Liberalisierung von Geschlechtsidentitäten. Die versprochene Emanzipation von Frauen bedeutete keineswegs ein Ende patriarchaler Geschlechterhierarchien. Vielmehr verstärkte sich in den letzten beiden Jahrzehnten der Volksrepublik Polen zunehmend eine Geschlechtersegregation, in der für Frauen die Mutterrolle als primäre Identität zugedacht war. Ihnen wurde von Seiten des Staates die patriotische Erziehung der Kinder als primäre Aufgabe nahegelegt und die Sozialpolitik des Staates fokussierte sich zunehmend auf die Unterstützung von häuslicher anstelle von staatlicher Kinderbetreuung. Piotr Perkowski betont:

From the perspective of working women’s interest, the breakthrough came in the 1970s, when the welfare state started to detach itself from gender equality policies, and gender equality in general became an area of interest chiefly for rich western countries. In eastern Europe, the idea faded, even though some rhetorical rituals were still being followed in state propaganda.[3]

Neben dem Staat kam mit der katholischen Kirche ein weiterer Akteur hinzu, der in noch deutlich stärkerem Ausmaß versuchte, Frauen zurück in ihre sogenannte traditionelle Rolle zu drängen. Insbesondere mit der Ernennung Karol Wojtyłas (1920-2005) zum ersten polnischen Papst der Geschichte im Jahre 1978 konnte die katholische Kirche ihre bereits machtvolle Position weiter ausbauen. Sie forderte in der Folge immer offensiver die Abkehr vom „Irrweg“ der Frauenemanzipation, da diese die heilige Rolle der Frau als Mutter in Frage stelle. Konsequenterweise ging mit der dogmatisch begründeten Ablehnung von Frauenarbeit zugleich eine strikte Ablehnung der Empfängnisverhütung und des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch einher.[4]

Der sozialistische Staat näherte sich diesem katholischen Narrativ zunehmend an. Natali Stegmann betont dazu:

Trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen gab es einen gemeinsamen Diskurs, der vielfach aus dem gleichen kulturellen Fundus schöpfte […]. Im Ergebnis konnten staatliche und kirchliche Politik durchaus zu einer familienpolitischen Einigung führen. […] Dieser Diskurs propagierte ein dicht gewebtes Muster aus spätsozialistischen und patriotisch-katholischen Sinnzusammenhängen, die einer differenzierten Wahrnehmung der sozialen Interessen von Frauen und Kindern entgegenstanden.[5]

Schließlich war das letzte Jahrzehnt der Volksrepublik Polen zumindest zeitweise von einem Dritten mächtigen Akteur neben Staat und katholischer Kirche geprägt: der Solidarność-Gewerkschaft. War diese auch sehr heterogen, so wurden doch frauenspezifische Forderungen meist an den Rand gedrängt. Die „Frauenfrage“ war aufgrund der vermeintlichen Emanzipation und Bevorzugung von Frauen durch das Regime in den Augen der Opposition diskreditiert: Polinnen galten aufgrund der vielen familienpolitischen Leistungen als Nutznießerinnen und damit als Verbündete des sozialistischen Staates.[6] Vor allem in konservativen Kreisen der Gewerkschaft wurden im Zuge des Transformationsprozesses Feminismus und Kommunismus zunehmend synonym verwendet.

Die Nichtbehandlung und Diskreditierung frauenpolitischer Themen – gerade durch Akteure und Akteurinnen, die 1989/90 über die zukünftige Verfasstheit des polnischen Staates entschieden – war symptomatisch für die lange Zeit der Transformation. Geschlechterrollen, wie sie sich bereits in der Volksrepublik etabliert hatten, wurden in die Transformationszeit weitergetragen oder konnten sich nun voll entfalten.

Dies hatte direkte wie indirekte Auswirkungen auf das Recht polnischer Frauen zur selbstbestimmten Verfügung über ihren Körper. Zunächst brachte der politische Umbruch im Jahr 1989 schnell eine deutliche Beschränkung des bis dato vergleichsweise liberalen Rechts auf Schwangerschaftsabbruch mit sich. Dahingehende Forderungen der katholischen Kirche wurden von einem bedeutenden Teil der Politiker:innen aus dem Lager der Solidarność unterstützt. Dabei ist bemerkenswert, wie stark die Kirchenhierarchie Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und vor allem die Politik nehmen konnte. Ein Gesetz über den „Schutz des ungeborenen Lebens“ aus dem Jahr 1993 erlaubte Abtreibung nur noch, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren darstellte, im Falle einer schweren und irreversiblen Behinderung des Fötus,einer unheilbaren Krankheit oder wenn die Schwangerschaft infolge einer Straftat eintrat. Hinzu kam eine massive Kampagne gegen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen, die sich auch gegen durchführende Ärzt:innen richtete. Dies führte in Kombination mit einer Gewissensklausel, die es Ärzt:innen erlaubte, Schwangerschaftsabbrüche abzulehnen, zu einer fast völligen Verhinderung des Eingriffs. Zugleich haben seitdem jährlich schätzungsweise zwischen 80.000 und 200.000 Frauen illegal oder im Ausland einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen.

Trotz einer gesellschaftlichen Mehrheit für eine liberalere Regelung bezüglich des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch änderte sich daran nichts. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Frauen nach 1989 auch im ökonomischen und politischen Bereich marginalisiert wurden. Ihr Einfluss auf die Politik im sogenannten Transformationsprozess war schwach. Zum einen, weil sie aktiv aus dem öffentlichen Leben gedrängt wurden und zu Beginn der 1990er Jahre Sozialleistungen im Bereich Kinderbetreuung weitgehend wegfielen. Dies führte in einer Gesellschaft, in der Frauen weiterhin für die Kindererziehung verantwortlich gemacht wurden, und in Kombination mit einer tiefen Wirtschaftskrise dazu, dass sie schlichtweg keine Zeit für politisches Engagement hatten. Zum anderen waren feministische Überzeugungen und das explizite Engagement für Frauen nur marginal vorhanden. Insgesamt gewann ein die „Frau an Hausarbeit und Kinderbetreuung bindende[r] Diskurs“ an gesellschaftlichem Einfluss und wurde zunehmend politisch dominant.[7] Er ließ Frauen (wenn finanziell möglich) die Wahl: entweder Rückzug in die private Sphäre oder Doppelbelastung in Haushalt und Beruf. Zudem waren Frauen in der „Transformationszeit“ besonders von Arbeitslosigkeit betroffen, was den Trend zu einer Beschränkung auf die private Sphäre der Familie zusätzlich befeuerte. Schließlich erschwerte in der Transformationszeit die bereits erwähnte Diskreditierung feministischer Überzeugungen als „kommunistisch“ eine stärkere Artikulation bzw. Durchsetzung frauenpolitischer Ansätze.

Insbesondere das Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigte auch weiterhin die polnische Gesellschaft und Politik. Ein Versuch des ab 1993 regierenden Bundes der demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, kurz SLD), das Gesetz 1996 wieder zu liberalisieren, wurde 1997 vom Verfassungsgericht verworfen. Zwar versprach die SLD 2003 erneut eine Liberalisierung des Gesetzes, ging dann aber einen Kuhhandel mit der katholischen Kirche ein. Diese versprach, die Regierung beim obligatorischen Referendum zum EU-Beitritt zu unterstützen. Im Gegenzug sollte das Gesetz nicht liberalisiert werden.

Warum ist diese Vorgeschichte notwendig, um die Entwicklungen nach 2016 zu verstehen? Sie ist notwendig, weil die Akteure, die sich gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzen, vielfach noch immer die Gleichen sind. Auf der einen Seite die katholische Kirche, die enormen Einfluss auf die seit 2015 regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) ausübt und diese auch im Vorlauf von Wahlen aktiv unterstützte. Zum anderen die Partei selbst, die beispielsweise in Form ihrer grauen Eminenz Jarosław Kaczyński aus dem rechten und strikt katholischen Flügel der Solidarność stammt. Mit dem mittlerweile fast völligen Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen seit Oktober 2020 konnten sie ihr Projekt vollenden, dass bereits in den 1980er Jahren angelegt war.

Diese Vorgeschichte ist auch nötig, um zu verstehen, warum die Proteste des Czarny Protest (Schwarzer Protest) ab dem 3. Oktober 2016 diese Mobilisierungswirkung und Wut entfachten. Der sogenannte schwarze Montag war die erste Massenmobilisierung von polnischen Frauen zur Verteidigung ihrer Rechte. In allen polnischen Großstädten, aber auch in kleineren Gemeinden und im Ausland, demonstrierten Pol:innen in schwarzer Kleidung und mit Kleiderbügeln, um auf die Zehntausenden von illegalen Abtreibungen und deren Konsequenzen für Frauen aufmerksam zu machen. Umfragen zeigten dabei, dass ungefähr die Hälfte der polnischen Bevölkerung (mehr Frauen als Männer) die Proteste und deren Forderungen unterstützte.[8]

Erstmals wurde der jahrzehntelange politische Einfluss der katholischen Kirche offensiv und radikal herausgefordert, etwa wenn Aktivist:innen während Messen die Rechte von Frauen einforderten. Erstmals wurden die ständigen Verschärfungen des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch nicht mehr nur mit sachlichen Argumenten bekämpft, sondern die angestaute Wut brach sich bei Demonstrationen und Aktionen bahn. Zudem stellte der Protest eine Wende im polnischen Diskurs über Abtreibung dar. Neben dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen wurden nun verstärkt die etlichen Todesfälle von Frauen in Polen thematisiert, die eine Folge des fehlenden medizinischen Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen waren.

Diese Entwicklungen sind nur in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen und doch stellt sich die Frage, was der historische Werkzeugkasten auch an methodischen Herangehensweisen für die weitere Forschung bezüglich der Hintergründe der Proteste zu bieten hat. Zunächst bietet sich die „klassische“ Quellenarbeit an. Noch immer sind viele Akten aus den 1980er und 90er Jahren in Polen gerade aus einer geschlechterhistorischen Perspektive nicht erschlossen. Dabei ist dies durchaus lohnenswert. Bei meiner eigenen Quellenarbeit zeigte sich beispielsweise, wie sehr sich die polnischen Kommunisten in den 1980er Jahren bereits katholischen Geschlechternarrativen angenähert hatten. So findet sich bei einer von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) einberufenen Konferenz zu den Themen „Familie und Sozialpolitik in der PRL“ im Jahr 1981 die Forderung nach einer stärkeren „Überwachung von Schwangeren“ und einem „weniger liberalen Abtreibungsrecht“.[9] Es zeigt sich zudem, dass bereits seit den 1970er Jahren katholisch geprägte Netzwerke entstanden, die gezielt Einfluss auf Entscheidungsträger:innen nahmen und zunehmend die Diskurshoheit beim Thema Schwangerschaftsabbruch errangen. Dies zahlte sich nach 1990 aus und schlug sich – entgegen gesellschaftlicher Mehrheiten – in den genannten Strafrechtsverschärfungen nieder. Ein Blick in die Quellen ermöglicht also eine Antwort auf die Frage, warum es in Polen möglich war, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nach 1989/90 immer weiter zu verschärfen; gerade auch im Vergleich zu allen anderen postkommunistischen Staaten Ostmitteleuropas.

Ein weiterer methodischer Beitrag, um diese Frage von Seiten der Geschichtswissenschaften zu beantworten, ist die Oral History. Diese ermöglicht es einerseits die Forschung zu „demokratisieren“, indem sie Protagonist:innen zu Wort kommen lässt, die ansonsten in Zahlen und Narrativen verschwinden würden. Dies betrifft insbesondere Menschen, die weder in der Öffentlichkeit stehen, noch durch besondere politische Aktivitäten Bekanntheit erreicht haben, sowie generell marginalisierte Gruppen.

Die beschriebenen Forschungsergebnisse und -methoden der Geschichtswissenschaft können so ihren Beitrag leisten, die Hintergründe der Proteste ab 2016 zu beleuchten und zudem individuelle Lebenserzählungen nachvollziehbar zu machen.

Genauso interessant sind aber weitergehende Fragen, die vor allem von Seiten der Politik- und Sozialwissenschaften beantwortet werden können. Diese können ein sehr viel genaueres Bild der aktuellen Proteste, ihrer Teilnehmer:innen und Beweggründe zeichnen. Methoden der qualitativen Sozialforschung, wie vertiefte Befragungen der Protestierenden, beantworten Fragen nach ihrer politischen Sozialisation und konkreten Formen des Engagements. Politikwissenschaftliche Analysen können Antworten darauf geben, ob die Proteste das Potential haben, politische Veränderungen herbeizuführen. Sie können zudem Interaktionen zwischen den Protestgruppen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Institutionen aufzeigen.

Bedeutet interdisziplinäres Arbeiten also einfach das Zusammenfügen der Erkenntnisse verschiedener Fachdisziplinen? Das Gegenteil ist der Fall. Zwar ist es richtig, dass sich die jeweiligen Fächer auf ihre methodischen Stärken konzentrieren sollten, anstatt „alles“ zu untersuchen und zu erklären.[10] Allerdings liegt gerade in den oft antagonistischen Herangehensweisen beider Fächer die Chance, den Untersuchungsgegenstand produktiv zu machen. Ich möchte dies zum Abschluss an einem kleinen und vereinfachten Beispiel verdeutlichen: der Frage nach dem Erkenntnisinteresse bei Interviews. Ziel einer Untersuchung der Protestbewegung aus politikwissenschaftlicher Perspektive könnte beispielsweise eine möglichst hohe Durchführungs- und Auswertungsobjektivität sein, um empirische Erkenntnisse über die Sozialstruktur der Teilnehmenden zu gewinnen. In der Geschichtswissenschaft und speziell der Oral History Methode hingegen wird gerade die Subjektivität des Erzählten als die Stärke gesehen, erlaubt sie doch individuelle Sinnproduktion nachvollziehbar zu machen und damit Geschichte „zu demokratisieren“. Letztlich produziert „Oral History“ Geschichten, die reale Erfahrungen vieler Menschen darstellen und damit auch Validität besitzen.[11]

Diese beiden Herangehensweisen sollten dabei nicht gegeneinander ins Feld geführt werden. Vielmehr zeigt sich an dem Beispiel – und es gäbe noch viele weitere –, dass interdisziplinäre Arbeit bei der Erforschung der Protestbewegung in Polen Ergebnisse liefert, die mit einer monodisziplinären Untersuchung nicht möglich wären. So können Protestierende in ihrer Sozialisation und struktureller Prägung verstanden werden und zugleich bleibt Raum für ganz spezifische individuelle Sinnzusammenhänge einzelner Menschen. Die Herangehensweisen beider Fächer können damit einerseits füreinander fruchtbar gemacht werden und zugleich ermöglichen sie ein umfassenderes Verständnis der Protestbewegung seit 2016. 

 

Endnoten

[1]Vgl. dazu Anna GRUDZINSKA: Make Misogyny Great Again. „Anti-Gender“-Politic in Polen, in: Martin MEJSTŘÍK – Vladimír HANDL (Eds.): Current Populism in Europe: Gender-Backlash and Counter-strategies, Prague 2021, pp. 23-36.

[2]Verfassung der Volksrepublik Polen, in: HERDER-INSTITUT (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul "Volksrepublik Polen", bearb. von Ingo Eser. www.herder-institut.de//digitale-angebote/dokumente-und-materialien/themenmodule/quelle/417/details.html (14.11.2022).

[3]Piotr PERKOWSKI: Wedded to Welfare? Working Mothers and the Welfare State in Communist Poland, in: Slavic Review 76 (2017), 2, pp. 455–480, hier p. 480.

[4]Natali STEGMANN: Die Aufwertung der Familie in der Volksrepublik Polen der siebziger Jahre, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2005), 4, S. 526–544, hier S. 535f.

[5]Ebenda. S. 543 f.

[6]Claudia KRAFT: Paradoxien der Emanzipation. Regime, Opposition und Geschlechterordnungen im Staatssozialismus seit den späten 1960er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen Online 3 (2006), S. 381–400, hier S. 391f.

[7]Nina SEILER: Privatisierte Weiblichkeit. Genealogien und Einbettungsstrategien feministischer Kritik im postsozialistischen Polen, Bielefeld 2018, S. 60.

[8]Vgl. Małgorzata DRUCIAREK: »Schwarzer Protest« – in Richtung eines neuen »Kompromisses« beim Abtreibungsrecht?, in: POLEN-ANALYSEN NR. 191 (2016), S. 7f.

[9]Konferenzprotokoll, in: Archiwum Akt Nowych (Archiv Neuer Akten Warschau, AAN), Komitet Centralny: Polska Zjednoczona Partia Robotnicza 1981: Konferencja Naukowa, Sign. 1938/1/82.

[10]Auf die Risiken missverstandener Zusammenarbeit geht Alexander Libman in seinem Beitrag zu diesem Themendossier ein.

[11] Vgl. Elisa SATJUKOW: ‚Mehr als nur ein Interview’ – Oral History verstehen, anwenden und weiterdenken, in: Robert FRIEDRICH, Sven JAROS, Elisa SATJUKOW u.a. (Hrsg.): Doing History. Praxisorientierte Einblicke in Methoden der Geschichtswissenschaften, Leipzig 2018, S. 49-59.

 

Bibliographie

Quellen

Konferenzprotokoll, in: Archiwum Akt Nowych (Archiv Neuer Akten Warschau, AAN), Komitet Centralny: Polska Zjednoczona Partia Robotnicza 1981: Konferencja Naukowa, Sign. 1938/1/82.

Sekundärliteratur

DRUCIAREK, Małgorzata: »Schwarzer Protest« – in Richtung eines neuen »Kompromisses« beim Abtreibungsrecht?, in: POLEN-ANALYSEN NR. 191 (2016).

KRAFT, Claudia: Paradoxien der Emanzipation. Regime, Opposition und Geschlechterordnungen im Staatssozialismus seit den späten 1960er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen Online 3 (2006), S. 381–400.

GRUDZINSKA, Anna: Make Misogyny Great Again. „Anti-Gender“-Politic in Polen, in: Martin MEJSTŘÍK – Vladimír HANDL (Eds.): Current Populism in Europe: Gender-Backlash and Counter-strategies, Prague 2021, pp. 23–36.

PERKOWSKI, Piotr: Wedded to Welfare? Working Mothers and the Welfare State in Communist Poland, in: Slavic Review 76 (2017), 2, pp. 455–480.

SATJUKOW, Elisa: ‚Mehr als nur ein Interview’ – Oral History verstehen, anwenden und weiterdenken, in: Robert FRIEDRICH – Sven JAROS – Elisa SATJUKOW u.a. (Hrsg.): Doing History. Praxisorientierte Einblicke in Methoden der Geschichtswissenschaften, Leipzig 2018, S. 49–59.

SEILER, Nina: Privatisierte Weiblichkeit. Genealogien und Einbettungsstrategien feministischer Kritik im postsozialistischen Polen, Bielefeld 2018.

STEGMANN, Natali: Die Aufwertung der Familie in der Volksrepublik Polen der siebziger Jahre, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2005), 4, S. 526–544.

Autor

Johannes Kleinmann
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Erschienen am 15. Mai 2023.