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Deutsche und Juden bildeten in vielen Regionen Osteuropas vom Spätmittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg als Diasporagruppen bzw. Minderheitenbevölkerungen ein „prägendes wirtschaftliches und kulturelles Ferment“.[1] Eine vergleichende Betrachtung dieser beiden religiös und sozio-kulturell ausgezeichneten Gruppen steht noch aus.[2] Die historische Rolle beider Gruppen als imperiale bzw. postimperiale Minderheiten sowie auch ihre zeitweilige Verflechtungsgeschichte blieben im Schatten des Holocaust und im Rahmen der Geschichtspolitik des Kalten Krieges weitgehend unberücksichtigt.
Naheliegend wäre es, etwa die Geschichte der Kolonisation und des Landesausbaus in Ostmitteleuropa als Verflechtungsgeschichte zu untersuchen. Dies trifft ebenso auf die Besiedlung der fruchtbaren Schwarzerdegebiete im Russischen Reich seit der Regierungszeit Katharinas II. und den damit verbundenen Landesausbau „Neurusslands“ zu. Doch nicht nur im Zarenreich fielen Ähnlichkeiten und historische Parallelitäten zwischen Deutschen und Juden auf. Unabhängig vom kulturellen Selbstverständnis ihrer Sprecher diente Deutsch zwischen 1760 und 1930 an verschiedenen Orten – wie Riga, St. Petersburg, Lemberg, Odessa, Łódź, Czernowitz, Posen, Budapest, Bratislava und Prag – als Kultur- und Bildungssprache sowie als Kommunikationsmedium für aufgeklärte Ideen.[3] Wie sehr die Juden Osteuropas als Träger deutscher Kultur wahrgenommen wurden, zeigte nicht zuletzt der Erste Weltkrieg. Diese Wahrnehmung beeinflusste etwa die Entscheidung der russischen Armeeführung, Juden wie auch Deutsche aus einer Sicherheitszone hinter der Front auszuweisen. Beide Gruppen wurden nicht nur pauschal als illoyal eingestuft; Juden und Deutsche traten in den Wahrnehmungen anderer Bevölkerungsgruppen als kulturell Fremde auf. Während die Deutschen im Zarenreich für „Generalbevollmächtigte der Moderne“ gehalten wurden, machten sich die Juden daran, „die Deutschen in ihrer Eigenschaft als Russlands Vorzeigemoderne abzulösen, wie sie es in weiten Teilen Ostmitteleuropas bereits getan hatten“.[4]
Die Geschichte von Deutschen und Juden als Minderheiten in Staaten mit anderssprachiger und andersgläubiger Mehrheit setzte sich auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in den postimperialen Nationalstaaten fort. Deutsche und jüdische Politiker aus dem östlichen Europa kooperierten im Rahmen des Europäischen Nationalitätenkongresses, um die Einhaltung der in den Pariser Vorortverträgen zugesagten Minderheitenrechte durchzusetzen. Der wiedererrichtete polnische Staat beherbergte nach 1918 signifikante jüdische und deutsche Minderheiten mit einem politischen, ökonomischen und kulturellen Eigenleben. In der frühen Sowjetunion wurde bis zur Stalinisierung in den 1930er Jahren unter kommunistischem Vorzeichen die kulturelle Autonomie von Deutschen und Juden gefördert. 1924 rief man eine wolgadeutsche Republik aus, während die territoriale Komponente der jüdischen Kulturautonomie gegen Ende der 1920er Jahre in Birobidschan im Fernen Osten der Sowjetunion realisiert werden sollte. Der von Deutschen begangene Völkermord an den Juden sowie die Deportationen der Deutschen in der Stalinschen Sowjetunion setzten der historischen Rolle von Deutschen und Juden in Osteuropa ein jähes Ende. Dies galt ebenso für Ostmittel- und Südosteuropa, wo ein bedeutender Teil der deutschen Bevölkerung mit dem Kriegsende floh, vertrieben oder deportiert wurde.
Im Lichte dieser Ereignisse wird deutlich, dass nicht nur die Anfänge der Geschichte der Deutschen und Juden in Osteuropa in Form der sogenannten Ostkolonisation miteinander verflochten waren, sondern auch ihr Ende im kurzen 20. Jahrhundert.[5] Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges ist das Interesse an der transnationalen Geschichte sowie dem Erbe der kulturellen Vielvölkerlandschaften des östlichen Europas neu erwacht. Insbesondere durch die Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurde die deutsche Mehrheitsgesellschaft in Form der deutschen und jüdischen Zuwanderer mit sowjetischen und postsowjetischen Verhältnissen konfrontiert.[6]
Das deutsch-englische Themendossier zur Geschichte von Deutschen und Juden in Osteuropa ruft die historische Dimension jüdischen und deutschen Lebens inmitten der anderssprachigen und andersglaubenden Mehrheitsbevölkerung Osteuropas ins öffentliche Bewusstsein. Zum einen wird das Dossier wissenschaftliche Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte in Osteuropa, insbesondere aber zu strukturellen Parallelen und historischen Verflechtungen veröffentlichen. Zum anderen werden Dokumente der Beziehungs- und Konfliktgeschichte beider Gruppen mit ihrer osteuropäischen Umwelt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das hinter dem Themendossier stehende Forschungsprojekt, das von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) gefördert wird, trägt zur Vernetzung der thematisch interessierten Öffentlichkeiten in Nordamerika, Ost- und Westeuropa sowie Israel bei. Damit wird die globale Bedeutung des Erbes zweier osteuropäischer Minderheitenbevölkerungen sichtbarer. Die Bayerische Staatsbibliothek unterstützt das Projekt durch Digitalisate und die nötige Infrastruktur.
[1] Andreas Kappeler, Osteuropäische Geschichte, in: Aufriß der historischen Wissenschaften, hg. v. M. Maurer, Bd. 2: Räume, Stuttgart 2001, S. 213.
[2] Als erster Versuch versteht sich: Tobias Grill (Hg.), Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories, De Gruyter / Oldenbourg 2018 (New Perspectives on Jewish Histories; 8).
[3] Stephan Braese, Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930, Göttingen 2010.
[4] Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 136; Benjamin Pinkus, The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority, Cambridge u. a. 1988, S. 83.
[5] Kerstin Armborst-Weihs, Ablösung von der Sowjetunion. Die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987, Münster u. a. 2001.
[6] Jannis Panagiotidis, The Unchoosen Ones. Diaspora, Nation, and Migration in Israel and Germany, Bloomington (Ind.) 2019.